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Thomas Kintry war ein elfjähriger Junge karibischer Abstammung, der in der Nähe der Lawrence Hill Station nicht weit von Kenny und Mary gewohnt hatte. An einem Samstagmorgen 1998 hatte seine Mutter ihn zu United Supermarkets geschickt, um Milch fürs Frühstück zu holen.

Als Thomas die Bowers Road entlangging, sprach ihn ein weißer Mann aus einem kleinen Lieferwagen an.

»Junge«, rief der Mann im Wagen, während er das Fenster herunterkurbelte. »Junge, warte mal. Hast du kurz Zeit?«

Thomas Kintry blickte auf den Bürgersteig und ging weiter. Er stieß beinahe mit Kenny zusammen, der gerade aus der Haustür trat und früh zur Arbeit ging.

Kenny arbeitete normalerweise nicht am Samstag. Aber er hatte noch ein paar dringende Aufträge zu erledigen.

Er drehte sich um und sah dem Jungen nach, der eilig weiterlief und auf den Bürgersteig starrte. Dann bemerkte er den Lieferwagen. Er fuhr langsam.

Diese beiden Dinge – die hastigen Bewegungen des Jungen, der Lieferwagen langsam und lauernd hinter ihm – gaben Kenny ein mulmiges Gefühl.

Als der Van vorbeifuhr, drehte der Fahrer den Kopf und sah Kenny in die Augen. Dann beschleunigte der Wagen, bog rechts ab und raste davon.

Kenny wusste nicht, was er tun sollte.

War gerade etwas passiert?

Er stand da, kam sich albern vor und blinzelte in die tief stehende Morgensonne.

Er machte ein paar zögerliche Schritte. Er ging weiter, dann blieb er stehen. Er wartete, fühlte sich schlecht, bis er sah, dass das Kind den Gemischtwarenladen am Ende der Straße betrat.

Kenny drehte sich erleichtert um und ging in die andere Richtung zur Bushaltestelle.

Als Thomas Kintry aus dem Laden herauskam, war der Lieferwagen wieder da. Er wartete auf der anderen Straßenseite auf ihn.

Der Fahrer überquerte die ruhige Straße. »Junge – wie heißt du?«, fragte er.

»Thomas.«

»Thomas und wie weiter?«

»Thomas Kintry.«

»Gut. Ich wusste doch, dass du es bist.«

»Warum?«, fragte Thomas Kintry.

»Es tut mir leid, Junge. Es gab einen Unfall.«

»Was für einen Unfall?«

»Komm am besten gleich mit.«

Der Mann atmete merkwürdig. Als Thomas zögerte, leckte er sich über die Lippen und fügte hinzu: »Man hat mich geschickt, um dich zu deiner Mama zu bringen. Du solltest jetzt einsteigen.«

»Nein, danke«, sagte Thomas Kintry.

»Deine Mutter stirbt vielleicht«, sagte der Mann und versuchte, Thomas Kintry am Ellbogen mitzuziehen. »Du solltest dich beeilen.«

»Nein, danke«, sagte Thomas Kintry noch einmal. Er versuchte, den festen Griff des Mannes höflich abzuschütteln.

»Ich krieg Ärger, wenn ich ohne dich zurückfahre«, sagte der Mann. »Die Polizei hat mich geschickt, um dich zu holen. Wir werden beide jede Menge Ärger kriegen.«

Thomas Kintry antwortete nicht. Er ging einfach zielstrebig weiter. In einer Hand hielt er eine Spar-Einkaufstasche mit fettarmer Milch und einer Tüte Pickled Onion Monster Munch.

Der Mann packte Thomas Kintrys schmale Schulter, um ihn umzudrehen und zum Lieferwagen zu schieben.

Thomas Kintry versuchte wegzurennen, aber der Griff des Mannes war zu stark. Der Mann begann, ihn halb in den Wagen zu stoßen und halb zu tragen.

Thomas Kintry wollte schreien, aber er schämte sich zu sehr. Er wusste, dass man Erwachsene nicht anschreien durfte, egal, was sie taten. Er war ein sehr wohlerzogenes Kind.

Pradeesh Jeganathan, ein Ladenbesitzer mittleren Alters, beobachtete all dies durch das Schaufenster von United Supermarkets. Er sah, wie der Mann versuchte, den mageren kleinen Jungen hochzuheben und zum Lieferwagen zu tragen, der an der Ecke parkte. Mr Jeganathan sah blauen Rauch aus dem Auspuff des Vans aufsteigen. Der Mann hatte den Motor laufen lassen.

Mr Jeganathan nahm den Baseballschläger, den er unter dem Ladentisch bereithielt. Der Griff war mit leuchtend blauem Klebeband umwickelt. Er rannte hinaus, begleitet vom wohlbekannten Klingeln des Glöckchens über der Tür.

»Sie da! Hallo! Sie! Lieferwagenmann!«, rief Mr Jeganathan.

Der Mann ließ Thomas Kintry los.

Thomas Kintry ließ seine Einkaufstasche fallen und rannte. Er rannte den ganzen Weg bis nach Hause.

Mr Jeganathan lief zum Lieferwagen, schwang dabei den Baseballschläger und brüllte den Fahrer an.

Er kam gerade rechtzeitig, um dem Mann mit dem Baseballschläger einen Schlag auf die Schulter zu versetzen. Er versuchte den Mann zu Boden zu drücken, aber dieser geriet in Panik und biss Mr Jeganathan in die Backe und dann ins Ohr.

Obwohl er blutete, gelang es Mr Jeganathan, eines der Bremslichter am Lieferwagen zu zertrümmern, bevor der Mann mit großer Geschwindigkeit davonfuhr.

Mr Jeganathan stolperte zurück in den Laden und hielt sich dabei das blutende Gesicht. Zuerst rief er die Polizei. Dann erlitt er seinen dritten Herzanfall in ebenso vielen Jahren.

An jenem Abend startete die Polizei einen Zeugenaufruf in den Lokalnachrichten. Also ging Kenny, der dazu erzogen worden war, sich immer korrekt zu verhalten, zur Polizei.

Phantomzeichner gab es nicht mehr. Speziell ausgebildete Polizisten verwendeten nun eine Phantombild-Software.

Während die Kommissarin Pat Maxwell kettenrauchend zusah, forderte also ein junger Polizist Kenny auf, einzelne Gesichtsteile des Fahrers auszuwählen: Augen, Mund, Nase. Diese Komponenten sollten dann zu einem Gesicht zusammengefügt werden.

Die Polizei war geduldig, aber Kenny war mit den Auswahlmöglichkeiten überfordert. Ihm wurde bald bewusst, dass er sich nicht daran erinnern konnte, wie der Mann im Lieferwagen ausgesehen hatte.

Pat, die seine Beklemmung spürte, lud ihn in einen Pub ein und beruhigte ihn: »Sie haben niemanden im Stich gelassen. Wenn Sie’s genau wissen wollen: Diese Phantombilder haben eine Trefferquote von etwa zwanzig Prozent. So ist das eben mit den Aussagen von Augenzeugen. Sie sind einfach nicht sehr hilfreich.«

Sie erzählte ihm von einer Studie der Yale University.

»Gut ausgebildete, hoch leistungsfähige junge Soldaten wurden fünfundvierzig Minuten lang einem Vernehmungsbeamten gegenübergesetzt – einem richtig aggressiven Arschloch. Am nächsten Tag sollte jeder von ihnen den Vernehmungsbeamten bei einer Gegenüberstellung identifizieren. Achtundsechzig Prozent haben den Falschen ausgewählt. Und das nach fünfundvierzig Minuten Augenkontakt über einen Tisch hinweg in einem hell erleuchteten Zimmer. Sie hingegen haben diesen Typen, den Mann im Lieferwagen, zwei Sekunden lang gesehen. Maximal drei Sekunden.«

»Aber was ist, wenn er jetzt da draußen ist«, wandte Kenny ein, »am Steuer seines Lieferwagens, und nach einem anderen kleinen Jungen sucht? Was ist, wenn das meinetwegen passiert?«

»Es passiert nicht Ihretwegen oder wegen sonst irgendjemandem. Es passiert wegen ihm.«

Kenny wusste, dass Pat recht hatte, aber sein Herz sagte etwas anderes.

Der Mann, der versucht hatte, Thomas Kintry zu entführen, wurde nie gefasst.

Kenny hatte nie aufgehört, daran zu denken.