19
Am Morgen waren Jonathan und Becks gedrückter Stimmung. Sie gingen nacheinander in die Dusche, Becks zuerst.
Sie machte Kaffee und Toast, während Jonathan duschte. Als sie ihm einen Abschiedskuss gab, war er noch in sein Handtuch gewickelt.
Zehn Minuten später verließ auch Jonathan das Haus. Er überprüfte alle Fenster und schloss die Türen zweimal ab.
Kenny blieb noch eine Stunde in seinem Versteck hinter den Kisten in der Ecke. Er fühlte sich selbst schon wie eine Spinne.
Dann endlich streckte er sich. Stechende Schmerzen durchzuckten seinen Rücken und seine Beine. Steif kletterte er über die Schachteln, stellte sich ins fahle Licht und wischte sich die gröbsten Spinnweben aus den Haaren und von den Kleidern.
Er öffnete die Luke und stieg hinunter ins Haus, das ihm – nach nur ein paar kurzen Blicken am Vortag – vertraut und heimelig vorkam.
Kenny ging ins Bad. Er gurgelte mit Mundwasser, dann putzte er sich mit den Fingern und einem Klecks Zahnpasta die Zähne. Er steckte den Kopf in die Dusche und hielt ihn unters Wasser, um die Spinnweben abzuspülen.
Er zog sein T-Shirt wieder an, hängte das Handtuch auf und ging hinunter in die Küche.
Er spülte eine Kaffeetasse aus, die umgestülpt im Abtropfgestell stand, und füllte sie mit kaltem Wasser. Bevor er trinken konnte, klingelte sein Handy. Es war Mary.
»Hey, Mary«, sagte er.
»Hey, du. Wo steckst du?«
»In Bath.«
»In Bath? Du kannst Bath nicht ausstehen.«
»Nicht wirklich in Bath. Ich bin auf einem Campingplatz. Hier gibt es unheimlich tolle sanitäre Anlagen.«
»Du machst Fortschritte. Letztes Mal, als ich mit dir campen war, musste ich mein Geschäft hinter einem Busch verrichten.«
»Daran kann ich mich nicht erinnern.«
»Aber ich. Also – wann kommst du nach Hause?«
Er sah aus dem Küchenfenster in den langen Garten.
»Bist du noch da?«, fragte Mary.
»Ja, ich bin noch da.«
»Was ist los?«
»Nichts.«
»Irgendwas stimmt nicht. Pat findet das auch.«
»Hast du mit Pat gesprochen?«
»Ja.«
»Du kannst sie doch nicht leiden.«
»Sie ist eine blöde Kuh, aber sie ist eine Freundin von dir.«
»Darf ich nicht mal ein paar Tage wegfahren?«
»Nicht, wenn du dich so komisch aufgeführt hast.«
»Hab ich mich komisch aufgeführt?«
»Ja.«
»Na ja, ich komm heute nach Hause. Ich schau dann bei dir vorbei.«
»Gut. Wann?«
»Heute Nachmittag?«
»Versprochen?«
»Klar.«
»Ich hab dich lieb.«
»Ich hab dich auch lieb.«
Er legte auf und steckte das Handy ein, dann ging er hinauf in Jonathans Büro.
Er setzte sich auf den Bürostuhl und drückte eine Taste. Jonathans Bildschirmschoner verschwand, und es erschien ein Texteingabefeld, das ein Passwort verlangte.
Kenny ließ die Hände unter der Tischplatte entlanggleiten und fand nichts.
Er ging die Schubladen durch. Sie waren sauber und aufgeräumt und enthielten nicht das, wonach er suchte.
Er ging die Bücher im Regal durch, blätterte sie eins nach dem andern durch, Seite um Seite. Er hatte vielleicht fünfundzwanzig durchgesehen, bevor er die A-Z Enzyklopädie der Gartenpflanzen der Royal Horticultural Society öffnete. Im Schutzumschlag fand er ein zusammengefaltetes, bedrucktes DIN-A4-Blatt.
Darauf waren einige von Jonathans Benutzernamen und Passwörtern aufgelistet. Das oberste Passwort war Jonathans Administrator-Login. Kenny gab es ein und überflog dann Jonathans E-Mails. Die meisten waren geschäftlich und langweilten ihn schnell.
Kenny vermutete, dass der Großteil von Jonathans Korrespondenz mit Becks per SMS stattfand – das war das beliebteste Kommunikationsmittel moderner Liebespaare.
Er startete eine schnelle Suche nach Callies Namen, fand aber nichts. Und eigentlich wollte er sowieso etwas anderes finden.
Jonathan hatte die Heimvideos in privaten Ordnern versteckt, aber jeder, der wusste, was er suchte, würde nicht lange brauchen, um sie zu finden – und Kenny verbrachte viel Zeit allein am Computer mit dem Bearbeiten gescannter Bilder und dem Verwalten komplexer Datensysteme. Er fand die Videos nach einer nur oberflächlichen Suche, indem er sich nicht Ordnernamen, sondern Dateitypen anzeigen ließ, und zwar alle Dateien mit der Endung .wmv.
Da waren die Videos von Callie Barton. Callie Reese. Insgesamt acht Stück, alle mit einer Kopie gesichert, die *safe_copy* hieß.
Im ersten Video masturbierte Callie im Bad. Es war ein anderes Bad in einem anderen Haus. Zwei Hände bewegten sich zwischen ihren Beinen, ihre Brüste glänzten vom Wasser.
Jonathan filmte sie aus dem Türrahmen. Kenny konnte nur das Rauschen des Camcorders und Jonathans Atem hören, ab und zu ein gemurmeltes Wort an sie.
Kenny ging weiter zum dritten Film. Hier war sie in einem Hotelzimmer, sie lag auf dem Bett und trug nichts als ein Paar Schuhe, eines der Paare, die Kenny in dem Karton oben gefunden hatte. Sie hob die Beine an und verschränkte die Knöchel auf Jonathans Rücken, packte das Bettgestell mit beiden Händen und bog die Wirbelsäule durch. Ihre Muskeln spannten sich an, das Haar klebte ihr schweißnass auf der Stirn.
Kenny sah sich fünf der acht Filme an. Callies Haar wurde länger, wurde kürzer. Er hörte nie ihre Stimme, nur ihr schüchternes Kichern und manchmal ein paar gemurmelte obszöne Worte.
Sie kniete in einem Abendkleid, das heruntergerissen worden war, um ihre Brüste zu entblößen, und sie stöhnte, näherte sich dem Orgasmus.
Jonathan sagte: »Da hast du’s, da hast du’s.« Trieb sie an.
Da hast du’s, da hast du’s.
Sie lag auf dem Bauch in einem anderen Hotelzimmer, einem ausländischen Hotel. Als Jonathan den Camcorder hochhob und wegging, starrte sie für einen Augenblick in die Linse.
Kennys Penis schrumpfte zusammen. Er schien sich in ihn hineinzuverkriechen, wie manchmal, wenn ihm sehr, sehr kalt war.
Er saß mit dem Kopf in die Hände gestützt da und versuchte, sich das kleine, Gummitwist spielende Mädchen mit den weißen Kniestrümpfen zu vergegenwärtigen, das Mädchen ohne Schneidezähne, das Mädchen, das unter dem Tisch heimlich den Knöchel um seinen Fuß geschlungen hatte. Stattdessen sah er die Knöchel einer Frau, die die Wirbelsäule eines Mannes umschlangen, die mechanischen Wellenbewegungen ihrer Hüften. Nicht aufgeschlagene Knie, sondern den schmalen Streifen ihres Schamhaars.
Er fuhr den Computer in den Ruhemodus herunter und steckte die Passwörter wieder in den Schutzumschlag des Gartenbuchs.
Er ging hinunter und verließ das Haus durch die Hintertür. Er durchquerte den überwucherten Garten.
Während er auf dem Dachboden gefangen war, hatte er die frische Luft vermisst. Aber die Luft hier draußen roch nicht frisch, sie roch nach Mulch und Fäulnis, dem modrigen Gestank von Efeu und morschem Zaunholz. Am Treidelpfad entlang gab es nur schmutzigen Schaum und stehendes Gewässer.
Er ging, bis er den Forellenbach fand, und folgte ihm zum Campingplatz.
Der Tag war warm, es sah nach Regen aus. Der Campingplatz war fast leer, aber gesprenkelt mit roten Zelten und blauen Zelten und weißen Autos der Marke Oldsmobile.
In der hinteren Ecke unter einem Haselbaum stand Kennys VW-Bus: knallorange, mit rostigen Felgen, zuverlässig.
Er öffnete die Tür, stieg ein, zog die Paisleyvorhänge zu und legte sich in der Backofenhitze des Sommers auf die Schaummatratze – die guten, vertrauten Gerüche eines Lebens, zu dem er nie wieder zurückkehren konnte.
Er rollte sich zusammen und versuchte, das Wissen darum, was er als Nächstes tun musste, beiseitezuschieben. Aber es ließ sich nicht beiseiteschieben, und als er aufwachte, war es noch immer da und wartete auf ihn.