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Und jetzt, so viele Jahre später, stand Kenny vor Mr Jeganathans Laden mit dem grün-goldenen Schild. Er befand sich an der Straßenecke einer Reihe viktorianischer Häuser mit Erkerfenstern.

Man konnte dort Zeitungen, Zwiebeln und Kokosmilch kaufen, und es roch nach frischem Koriander und staubigem Sonnenlicht. Kenny stand mit dem Rücken zum Schaufenster und blickte zur anderen Straßenseite – auf die Stelle, wo Thomas Kintrys versuchte Entführung stattgefunden hatte.

Als er die Ladentür öffnete, läutete ein Glöckchen.

An der Theke wartete eine sehr schöne junge Frau. Sie hatte ein Nasenpiercing und trug ein sackartiges Sweatshirt. Sie saß auf einem Hocker hinter dem Ladentisch und sah gelangweilt aus.

Als sie sich zur Seite drehte, sah Kenny, dass sie etwa im achten Monat schwanger war.

»Hi«, sagte er.

»Hallo«, erwiderte sie und schickte sich an, ihm Tabak oder ein Rubbellos zu verkaufen.

»Ich suche Pradeesh Jeganathan. Arbeitet er noch hier?«

Die Frau hielt inne. »Dad lebt leider nicht mehr.«

»O nein«, antwortete Kenny. »O, das tut mir leid.«

Er wollte noch etwas hinzufügen, wurde aber von der aufgehenden Tür und dem Läuten des Glöckchens unterbrochen. Ein alter Rastafari kam herein und nahm sich einen Einkaufskorb. Kenny spürte, wie der richtige Moment verstrich.

Die Frau beantwortete seine offenkundige Bestürzung mit einem traurigen Lächeln, aber er bemerkte ein feines, neugieriges Zucken zwischen ihren Augen.

Kenny wusste, dass für sie alles, was vor zehn Jahren auf der anderen Straßenseite passiert war, zur Vergangenheit gehörte. Es würde für sie niemals so real sein wie für ihn.

Er dachte an Mr Jeganathan, der schon dort war, wohin er nun auch unterwegs war.

Er sagte: »Danke trotzdem«, trat aus der Tür mit dem klingelnden Glöckchen und ging zu seinem Bulli. Er stand an derselben Stelle des Bordsteins, wo auch der weiße Lieferwagen mit laufendem Motor geparkt hatte.

Kenny fuhr in ein Industriegebiet südöstlich von Bristol. Er passierte die Tore, verfuhr sich, wendete, fragte nach dem Weg und parkte dann auf dem betonierten Vorplatz einer Glasmanufaktur.

Er ging zum Empfang, der sich in einem Container außerhalb des Werks befand. Er stellte sich vor den Tisch aus Glas und Edelstahl und fragte, ob er Thomas Kintry sprechen könne.

Es war so leicht gewesen – er hatte einfach nur Thomas Kintrys Profil bei Friends Reunited besucht, in dem diese Glasfabrik als sein Arbeitsplatz angegeben war. Dann hatte er auf deren Webseite unter »Kontakt« die Adresse gefunden.

Er war nicht einmal nervös gewesen – aber jetzt war er es, als er auf dem sonnigen Vorplatz wartete, während Thomas Kintry unter dem breiten Aluminium-Rolltor aus der Dunkelheit und dem Lärm hervortrat und mit federnden Schritten auf ihn zukam.

Thomas Kintry trug ein weißes T-Shirt und einen blauen, stark verschmutzten Overall, dessen Oberteil er sich um die Hüften geknotet hatte. Während er näher trat, öffnete er eine Flasche Mineralwasser und nahm einen geräuschvollen Schluck daraus.

Dann wischte er sich mit dem Handrücken den Mund ab und fragte: »Was kann ich für Sie tun?«

Kenny war gerührt von der Weichheit in Thomas Kintrys Stimme; bis zu diesem Augenblick war es ihm schwergefallen, den schlendernden Mann mit dem mageren kleinen Jungen in Verbindung zu bringen.

Kenny kniff im Sonnenlicht die Augen zusammen und streckte ihm die Hand entgegen. »Mein Name ist Kenny Drummond.«

Thomas schüttelte sie höflich und verwirrt. »Kennen wir …?«

»Nicht wirklich.«

Thomas Kintry lächelte verlegen. Kenny wünschte, er hätte sich vorher überlegt, was er sagen würde. Er fuhr fort: »Ich bin hier, um mich zu entschuldigen. Sozusagen.«

»Für was?«

»Wir haben uns nie richtig kennengelernt. Aber ich war da – an dem Morgen, als es passierte.«

»An dem Morgen, als was passierte?«

»Der Mann … im Lieferwagen. Der, der versucht hat …«

Einen Moment lang schien die Zeit stillzustehen. Thomas Kintrys Augen nahmen einen weicheren Ausdruck an, dann leuchteten sie – und er verstand. Er sagte: »Sie machen Witze.«

»Nein.«

»Geht es um damals in der Bowers Road? Als ich klein war?«

»Ja.«

»Waren Sie dabei?«

»Sozusagen …«

Aber Thomas Kintry erinnerte sich, hatte alles wieder vor Augen. »Dann sind Sie der Mann, mit dem ich zusammengestoßen bin, stimmt’s? Auf der Türschwelle? Ken, oder so ähnlich? Dennis?«

»Kenny.«

Thomas Kintry klatschte einmal in die Hände und streckte den Zeigefinger aus. »Kenny!« Dann fragte er: »Und Sie sind hier um …?«

»Mich zu entschuldigen.«

»Für was?«

»Ich konnte mich nicht erinnern, wie der Mann aussah.«

»Ach du Schande«, sagte Thomas Kintry – erfreut über die unerwartete Verbindung zwischen ihnen. »Sie können ihn nicht länger als, keine Ahnung, vielleicht zwei Sekunden oder so gesehen haben. Er ist doch nur vorbeigefahren.«

»Aber ich bin Porträtmaler. Ich kenne mich aus mit Gesichtern.«

Sie standen im gleißenden Sonnenlicht da.

Thomas Kintry wurde ruhiger. »Ich konnte mich auch nicht erinnern, wie er ausgesehen hat. Da war dieser Spezialist. Aber ich konnte mich an gar nichts erinnern, nur, dass er diese echt peinlichen Turnschuhe anhatte, wie Asda-Turnschuhe, wissen Sie?«

Das brachte Kenny zum Lachen. Sie lachten beide.

Dann sagte Thomas Kintry: »Sie müssen sich für nichts entschuldigen.«

»Ich habe Sie im Stich gelassen. Sie waren nur ein kleiner Junge. Ich hätte etwas tun können.«

»Aber nicht einmal ich denke noch daran, nicht mehr. Es ist schon so lange her.«

Thomas Kintry trug ein kleines, goldenes Kruzifix an einer Kette um den Hals, und nun berührte er es mit der Hand. Er schob es an der Kette hin und her. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. »Kommen Sie kurz mit.«

Kenny folgte ihm aus dem Sonnenlicht hinaus, weg von der Glasfabrik. Thomas Kintry führte ihn zu einer niedrigen Backsteinmauer, in deren Ritzen Gras wuchs. Sie war nicht weit von einer kürzlich geschlossenen Puppenhausmanufaktur.

Thomas Kintry setzte sich auf das Mäuerchen. Er setzte sich auf seine Hände, wie ein Kind. »Die Sonne hat mich geblendet.«

Kenny wusste, dass er in Wirklichkeit dem Blickfeld neugieriger Arbeitskollegen entgehen wollte. Thomas Kintry sah Kenny an und fragte: »Geht es Ihnen gut?«

Die sanfte Besorgnis in seiner Stimme rührte Kenny. Er saß eine ganze Weile nur da und blinzelte. Er wusste nicht, was er sagen sollte.

»Meine Mum«, erzählte Thomas Kintry, »wenn sie richtig down ist, wärmt sie die Vergangenheit wieder auf. All die Dinge, die sie glaubt, falsch gemacht zu haben, alle Menschen, die sie im Stich gelassen hat. Einmal an Weihnachten war der Truthahn zu trocken. Von dem blöden Truthahn redet sie immer noch, und was für ein schreckliches Weihnachten das war. Und dabei war das, keine Ahnung, vielleicht 1993 oder so. Aber sie redet immer noch davon. Meine Oma war genauso.«

Kenny nickte.

Leiser und mit mehr Nachdruck in der Stimme fuhr Thomas Kintry fort: »Ich gebe niemandem die Schuld daran, dass er nie gefasst wurde. Nicht der Polizei, und ganz bestimmt nicht Ihnen. Sie waren einfach nur ein Augenzeuge. Ich bin nie auf die Idee gekommen, dass Sie weniger getan haben, als Sie konnten. Der einzig Schuldige war der Typ, wer auch immer er war. Und nicht einmal an ihn denke ich oft.«

In der Pause, die darauf folgte, rieb Thomas Kintry das Kruzifix sanft und gedankenverloren zwischen Daumen und Zeigefinger. Dann lachte er und ließ es los. »Und ich wette, Mr Jeganathan vom Laden an der Ecke hat dafür gesorgt, dass er so was nicht noch mal so schnell versucht hat.«

Kenny lächelte, als er darüber nachdachte. »Und Ihnen geht’s also gut?«

»Ja, mir geht’s gut. Kann mich nicht beklagen.«

»Was machen Sie genau?«

»Bauglas. Für Firmen, Privathäuser, alles Mögliche. Sie sollten mitkommen und es sich ansehen. Was wir machen, ist wirklich beeindruckend.«

»Wie sind Sie dazu gekommen?«

»Ich weiß nicht genau. Meine Oma hatte so ein Stück Bristol-Blue-Glas. Haben Sie schon mal Bristol-Blue-Glas gesehen?«

Kenny nickte. Es war von tiefem, leuchtendem Blau, dem Blau alter Medizinfläschchen.

»Mein Opa hat mir erklärt, dass das Glas Kobaltoxid und Bleioxid enthält. Deswegen leuchtet es, wenn man es ins Licht hält. Es ist wunderschön. Ich glaube, das war der Grund. Ich mochte Naturwissenschaften, und ich mochte Kunst. Es schien einfach zu passen.«

Kenny nickte.

»Wollen Sie reinkommen und sich umsehen? Ich kann Ihnen eine Führung geben.«

»Danke, aber ich lasse Sie jetzt lieber weiterarbeiten.«

»Es wäre mir ein Vergnügen.«

»Nein danke, arbeiten Sie jetzt lieber weiter. Aber es hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen.«

»Mich auch«, antwortete Thomas Kintry. »Geht es Ihnen wirklich gut?«

»Ja, mir geht’s prima.«

Thomas Kintry spielte einen Augenblick lang mit dem Kruzifix, als sei er unentschlossen. Dann sagte er: »Es bedeutet mir viel, dass Sie heute hergekommen sind. Danke.«

Er streckte Kenny die Hand entgegen, und Kenny schüttelte sie – herzlich diesmal, so wie gute Freunde sich die Hände schütteln, oder Vater und Sohn. Kenny wollte sich ebenfalls bedanken, aber es gelang ihm nicht. Stattdessen nickte er nur.

Dann drehte Thomas Kintry sich um und ging, den Overall um die Hüften geknotet, die Wasserflasche in der Hand. Die Goldkette an seinem Hals glitzerte im Sonnenlicht.

Zu Hause saß Kenny lange mit der Liste in der Hand da, die an den Faltstellen schon schweißbefleckt und durchscheinend war.

Darauf stand:

 

Mary

Mr Jeganathan

Thomas Kintry

Callie Barton

Kenny dachte an Callie Barton. Einige Zeit verstrich. Dann ging er zu der breiten, niedrigen Kommode mit seinen Bildern, derselben, in der er die Porträts von Mary aufbewahrt hatte. Ganz unten lag einsam ein staubiger, brauner Umschlag. Er holte ein altes Klassenfoto daraus hervor.

Es zeigte drei Reihen von Kindern, die die Haarschnitte und Kleider der späten Siebziger trugen. Kenny saß in der Mitte der zweiten Reihe und hatte eine Strickjacke mit Reißverschluss an. Er grinste und sein löwenzahngelbes Haar stand am Scheitel nach oben.

Unten rechts saß ein zierliches Mädchen. Sie trug einen marineblauen Pullover, ausgestellte Jeans, Dunlop-Greenflash-Turnschuhe, einen Pagenschnitt. Sie lächelte in die Kamera. Das war sie.