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Kenny überlegte, den Bulli auf einem Rastplatz außerhalb der Stadt stehen zu lassen; zwischen Bristol und Bath gab es eine ganze Menge davon. Aber Ortsansässige seiner Generation erinnerten sich noch gut daran, wie es unvorsichtigen New-Age-Nomaden um diese Jahreszeit oft ergangen war – Hippies mit schmutzigen Dreadlocks und mageren Hunden, die ihre Vans und Busse auf privaten Grundstücken abgestellt hatten. Kenny wollte nicht halb im Schlaf hinten aus dem Bulli gezerrt und dann im Gebüsch bewusstlos getreten werden.
Also fuhr er einen Campingplatz am Stadtrand an. Der Website zufolge gab es dort kostenlos W-LAN, eine Bar und preisgekrönte sanitäre Anlagen – wofür der Preis vergeben worden war, stand allerdings nicht dabei.
Bis er geparkt und seine Anzahlung geleistet hatte, brach die Dämmerung herein. Er setzte sich in der Nähe der Bar allein auf eine Bank an einem Forellenbach. Ein Mückenschwarm belästigte ihn. Um ihn herum saßen ausländische Studenten, die wie Kenny Cargoshorts und Trekkingsandalen trugen. Familien im Campingurlaub waren dort und ältere Touristen, die in gemieteten Wohnmobilen wohnten.
Kenny nippte an einem großen Lagerbier mit Limonade, während er mit seinem iPhone durchs Internet surfte.
Der Jonathan Reese, den er suchte, hatte bei keinem der sozialen Netzwerke, die Kenny kannte, ein Profil. Es gab andere Männer namens Jonathan Reese, andere Gesichter. Aber keiner von ihnen war der Jonathan Reese, den er suchte.
Als er den Namen googelte, stieß Kenny jedoch auf eine Website, die Callie Reese gewidmet war.
Er hatte es vermieden, nach ihr zu suchen – sie war nicht das Ziel dieser Nachforschungen. Aber trotzdem war sie da. Jonathans Name hatte sie zu ihm gebracht.
Die Sonne ging unter, die Stimmen um ihn herum wurden leise und vertraulich, und der satte Geruch Englands stieg vom Boden auf: Gras und Erde und Eiche und Esche und Lagerbier.
Auf die Website – woistcallie.com – waren etwa ein Dutzend Porträts hochgeladen worden. Jonathan war offenbar ein begnadeter Fotograf.
Hier saß sie lachend am Frühstückstisch. Und hier stand sie in einer Art Hosenanzug in der Haustür. Hier war sie im Urlaub, ihre Haut glitzerte, und sie trug eine Blumenkette um den Hals. Und hier, in Nahaufnahme, blickte sie nachdenklich durch ein verregnetes Fenster.
Als Kenny dieses Bild vergrößerte, konnte er die Lachfältchen um ihre Mundwinkel erkennen, der spezielle Lichteinfall ließ sie deutlicher hervortreten, ebenso wie die Fältchen in ihren Augenwinkeln.
Für ihn waren diese Fältchen wie Risse im Firnis eines alten Gemäldes. Er sah nur die Makellosigkeit darunter.
Als er das Bild wieder verkleinerte, bemerkte er in der unteren Ecke des Fensterrahmens ein Sträußchen Wildblumen. Sie spiegelten sich in der Wölbung ihrer Augäpfel.
Callie war nicht mehr der flüchtige, verschwommene Schnappschuss, den er in den Zeitungsberichten gesehen hatte. Hier war ihr Bild klar und deutlich, denn im Internet gab es keine Zeit, sondern nur unzählige einzelne Augenblicke wie Bruchstücke eines Gesichts, reflektiert in den Scherben eines zerbrochenen Spiegels.
Die Website war von Jonathan Reese eingerichtet worden. Ihr Zweck bestand darin, Informationen zu sammeln, die zu Callies Rückkehr führen könnten.
Die Wahrscheinlichkeit ihres Todes wurde nicht einmal angedeutet, dennoch hatte die unausgesprochene Möglichkeit jeder Seite und jedem Bild eine eigenartige Bedeutsamkeit verliehen.
Die Website bat um Informationen, lieferte aber kaum welche. Es gab eine unpersönliche E-Mail-Adresse zur Kontaktaufnahme. Die Kommentarfunktion war ausgeschaltet. Kenny wollte sich lieber nicht vorstellen, was für Menschen solche Websites besuchten und welche schrecklichen Dinge sie eintippen und dort für immer hinterlassen würden, wenn sie die Möglichkeit hätten.
Als er zur Startseite zurückging, fiel ihm auf, dass die Website schon seit über einem Jahr nicht mehr aktualisiert worden war.
Etwas stieg in seiner Brust hoch. Er verspürte Trauer und Wut darüber, dass dies Callie Bartons gedenken sollte – einfach eine Internetseite, die sagte: Hier lacht sie. Und hier schaut sie durch ein verregnetes Fenster. Und hier ist sie im Urlaub.
Sie sagte nicht: In dieser Position hat sie geschlafen. Oder: So stand sie da, wenn sie sich die Zähne putzte. Oder: So lachte sie, wenn sie ihre Lieblingssendung im Fernsehen sah. Oder: Das war ihre Tamponmarke. Sie sagte nur: Das ist ihr Gesicht. Und dieses Gesicht lag da wie ein unbesuchtes und ungepflegtes Grab. Es war eine Nachbildung von ihr. Nicht einmal ein Porträt.
Kenny erinnerte sich daran, wie sie Gummitwist gespielt hatte, wie sie und Isabel atemlos und mit zerzaustem Haar das Seil aus aneinander geknoteten Gummibändern zusammengelegt hatten und zurück ins Klassenzimmer gerannt waren.
Er erinnerte sich daran, wie sie unterm Tisch mit dem Fuß seinen Knöchel umschlungen hatte und wie ihre Zungenspitze aus ihrem Mundwinkel hervorgeschaut hatte, wenn sie sich auf eine schriftliche Division oder Grammatik konzentrierte, ihre schlechtesten Fächer.
Kenny fragte sich, ob es noch irgendjemanden auf der Welt gab, der wusste und den es interessierte, was Callie Bartons schlechteste Fächer gewesen waren.
Er suchte die preisgekrönte Sanitäranlage auf. Sie war sehr sauber, gut beleuchtet und roch erfrischend würzig nach chemischem Reinigungsmittel mit Kiefernduft. Dann schlenderte er zurück zum Bulli.
Er zog sich die Shorts und die Socken aus und kroch in einen Schlafsack. Auf der Schaummatratze schlief man gar nicht schlecht. Er konnte die Leute draußen vorbeigehen hören.
Kurz vor 22 Uhr rief Pat an. »Wo bist du, Sonnenschein?«
»Zu Hause.«
»Nein, bist du nicht.«
»Okay, bin ich nicht. Woher weißt du das?«
»Weil ich vor deinem Haus stehe.«
»Aha.«
»Ich wollte dich besuchen. Ich bin jetzt gerade da und schaue durchs Fenster. Es ist alles dunkel.«
»Ich hätte auch schlafen können.«
»Ich bin ausgebildete Kriminalbeamtin. Deswegen ist mir die Abwesenheit deines riesigen, leuchtend orangefarbenen VW-Busses nicht entgangen.«
»Okay.«
»Also, wo steckst du?«
»Bei Stonehenge.«
»Stonehenge? Warum?«
»Ich wollte’s mal sehen. Du weißt schon. Es mir anschauen, solange ich noch die Gelegenheit habe. Ich hab ein paar Bier getrunken und übernachte deswegen hier.«
»Im Bus?«
»Das hab ich schon lange nicht mehr gemacht. Es fehlt mir. Mary und ich sind oft freitagabends an den Strand gefahren, unten in Devon. Wir sind dann am Samstagmorgen früh aufgewacht und haben das Meer gerochen. Außer uns war noch niemand wach. Wir waren völlig verschlafen und verschwitzt. Also rannten wir nackt ins Meer. Splitterfasernackt.«
»Ich wette, das hat euch dann aufgeweckt.«
»Und wie! Wir hatten überall Gänsehaut und sind zurück zum Bus gerannt. Und egal wie sehr man aufpasste, die Handtücher waren immer voller Sand. Dann haben wir mit unserem kleinen Campingkocher Frühstück gemacht, während die ersten Oldies vorbeikamen.«
»Weil alte Leute nicht schlafen können.«
»Genau. Sie sind mit ihren Hunden am Strand Gassi gegangen. Golden Retriever und was weiß ich alles.«
Er schwieg einen Moment lang, während er daran zurückdachte.
Pat fragte: »Hast du mit Mary geredet?«
»Nein.«
»Sie macht sich Sorgen um dich.«
»Hast du mit ihr geredet?«
»Kommt drauf an, was du mit ›geredet‹ meinst.«
»Ich meine, hast du es ihr gesagt? Was mit mir los ist?«
»Das ist nicht meine Aufgabe. Aber sie weiß, dass etwas nicht stimmt.«
»Das ist mir klar.«
»Dann sag es ihr.«
»Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist.«
»Wann wird das sein?«
»Ich weiß es nicht.«
Es folgte eine Pause, dann sagte Pat: »Wenn du fort bist, wird sie immer noch da sein. Gib ihr nicht das Gefühl, dass sie dich im Stich gelassen hat. Denn das ist nicht schön – wenn man denkt, man war nicht da, als man von jemandem gebraucht wurde, den man liebt.«
Kenny wollte gerade »na gut« sagen, aber Pat hatte schon aufgelegt.
Er fing an, Mary eine SMS zu schreiben. Dann löschte er sie wieder, schaltete das Handy aus und schloss es zum Aufladen an den Zigarettenanzünder an. Er schluckte eine Reihe von Pillen, rollte sich auf der Matratze zusammen und schlief ein.
In der Stille des Campingplatzes kurz nach Sonnenaufgang, als Nebel vom Forellenbach aufstieg, huschte Kenny zu den Sanitäranlagen, um zu duschen. Er rasierte sich barfuß mit einem Handtuch um die Hüften und schlenderte dann in Flipflops zurück zum Bulli.
Er sprühte sich etwas Deo unter die Arme, zog seine Cargoshorts, Trekkingsandalen und ein sauberes T-Shirt an und war der Erste beim Frühstück.
Während er wartete, ging er ins Internet.
Den Satellitenfotos zufolge verlief der Kennet-und-Avon-Kanal hinter der Coney Lane. Ein Fußweg ging am Kanal entlang. Ein kleiner Stadtwald bildete einen Sichtschutz zwischen den Gartenzäunen und dem Treidelpfad.
Nach dem Frühstück packte Kenny eine Flasche Wasser und ein Brecheisen, das er aus dem Reifenwechselset des Bullis holte, in seinen Rucksack.
Er setzte seine Baseballmütze und eine Sonnenbrille auf, schmierte sich mit Faktor 15 ein – wenn auch nur wegen des Geruchs – und ging los, um es hinter sich zu bringen.