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Paul hielt Kenny noch ein paar Sekunden lang fest, um sicherzugehen, dass er völlig bewusstlos war. Dann stand er auf und spielte seine Möglichkeiten durch.
Er durchsuchte das Atelier. Schließlich fand er eine Rolle Paketschnur und fesselte Kenny damit wie ein Tier: Er band ihm die Hände zusammen, dann die Handgelenke an die Fußknöchel.
Er ging in die Küche und öffnete die Schränke und Vitrinen sehr umständlich mit Ellbogen und Füßen, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen.
Im Schränkchen unter der Spüle fand er ein Paar Marigold-Handschuhe. Er zog einen davon mithilfe der Zähne über seine gesunde Hand.
Dann sah er sich in Kennys Zimmer um, fühlte unter die Matratze, stöberte im Schrank, erforschte die Bücherregale. Er suchte nichts Bestimmtes, nicht einmal Geld. Das Suchen half ihm einfach beim Denken.
Dann fand er das Bad und ging hinein. Er öffnete das Medizinschränkchen und fand Kennys Schmerzmittel.
Paul nahm die Flasche heraus. Er schüttelte sie. Sie machte ein trockenes, leises, trommelndes Geräusch, das ihn an seine Grundschulzeit erinnerte.
Er verließ das Bad und dachte weiter nach. Die Pillen waren nicht das Richtige. Paul war sich nicht einmal sicher, ob er mit seiner einen gesunden Hand den kindersicheren Verschluss öffnen könnte.
Er ging zurück zu Kennys Schrank und machte ihn auf. Er schob die Kleider zur Seite. Er fand nur eine einzige Krawatte darin, mit leuchtend lilafarbenem Paisleymuster.
Paul begann, mit den Zähnen einen Knoten in ein Ende der Krawatte zu machen. Als er damit fertig war, prüfte er die Festigkeit und Verankerung des Türknaufs.
Er ging dorthin zurück, wo Kenny lag. Er blieb stehen, holte tief Luft, dann packte er Kenny am Kragen und schleifte ihn quer durchs Atelier und die Küche ins Schlafzimmer.
Er machte eine Pause. Das Kreuz tat ihm weh. Dann kniete er sich hin, leckte sich mit der Zunge einmal kurz über die Lippen und legte Kenny die Krawatte in einer Schlinge um den Hals.
Er hob Kenny hoch und hielt ihn so, dass das andere Ende der Krawatte bis an den Türknauf reichte. Er begann, den Knoten zuzuziehen.
Auf einmal vernahm er ein Geräusch.
Es war von hinten aus dem Flur gekommen, aus einem Zimmer am düsteren Ende des langen Ganges.
Wahrscheinlich war es eine Katze. Ein Hund hätte gebellt.
Paul ließ Kenny los, richtete sich auf und hielt einen Moment lang inne, um die letzten Minuten noch einmal im Kopf durchzugehen. Ihm wurde bewusst: Wenn sich jemand in dem Zimmer versteckte, musste er Pauls Namen gehört haben.
Er atmete heftig, während er lauschte. Dann schlich er zur geschlossenen Tür des hintersten Zimmers. Es strahlte eine angsterfüllte Stille aus.
Er öffnete die Tür und trat ein.
Irgendetwas stimmte nicht mit dem Zimmer. Eine Sekunde lang dachte Paul, es sei der Geruch – wie fauliges Abwasser.
Dann bemerkte er die von außen am Fensterrahmen befestigten Bretter, den Heizkörper, der aus der Wand gerissen war und aus dem ein paar Zentimeter eines abgeschnittenen Kupferrohrs ragten. Er bemerkte den umgestoßenen Küchenstuhl und die Klebebandstreifen daran. Und er bemerkte den schmutzigen, zerlumpten Mann, der in der hintersten Ecke stand oder vielmehr kauerte.
Paul und der zerlumpte Mann sahen sich schweigend an. Man hörte nichts als ihren Atem.
Irgendwann fragte Paul: »Gott, sind Sie Jonathan Reese?«
Der Mann antwortete nicht. Er kauerte nur dort und beobachtete Paul aus weißen Augen.
Paul fragte: »Was geht hier vor sich?«
Die Stimme des zerlumpten Mannes war ein durstiges Flüstern. Paul musste sich anstrengen, um ihn hören zu können. Er fragte: »Sind Sie von der Polizei?«
Paul musste plötzlich fast lachen – nicht über Jonathan Reese, sondern über sich selbst, über den Riesenhaufen Scheiße, der sein Leben zurzeit war.
Er musterte Jonathan. Sein Zustand war schlecht, er schwankte wie ein junger Baum.
Paul trat vorsichtig einen Schritt näher. Schon als er den passenden Gesichtsausdruck aufsetzte, verspürte er tiefes Mitgefühl. Tränen schimmerten in seinen leuchtend blauen Augen, glitzerten auf seinem breiten Armesündergesicht. »Jonathan?«
Der zerlumpte Mann starrte ihn an.
Paul sagte: »Ich bin wegen Ihnen hier. Ihre Familie hat mich beauftragt, Sie zu finden. Ich bin hier, um Sie nach Hause zu bringen.«
Der Mann war dünn und wie von Ruß geschwärzt.
Paul streckte ihm versuchsweise eine Hand entgegen. Er trug noch immer den Marigold-Handschuh. »Mein Name ist Paul. Ich bin kein Polizist. Aber ich bin hier, um zu helfen.«
Er stand ein paar Schritte entfernt und sprach mit leiser, beruhigender Stimme weiter. »Ich verstehe, dass Sie Angst haben. Aber der Mann, der Ihnen das angetan hat, ist bewusstlos und gefesselt. Die Rettungsdienste sind unterwegs. Sie sind in Sicherheit.«
Der zerlumpte Mann machte einen schlurfenden Schritt nach vorne. Er weinte, Tränenbäche glänzten auf seinem geschwärzten Gesicht.
Paul behielt sein gütiges, sanftes Lächeln bei, die Tränen in den Augen, das tiefe Mitgefühl.
Der Mann blieb vor ihm stehen, scheu wie eine Wildkatze.
Paul legte ihm leicht, aber bestimmt eine Hand auf die Schulter. Es war die Geste eines Vaters, eines Trainers.
»Jonathan?«
Der Mann spannte sich an, als würde er gleich geschlagen werden. »Ja.«
Paul wartete, bis Jonathans verkrampfte Muskeln sich unter seiner Hand lockerten und die Kraft aus ihnen zu weichen begann. Die Erleichterung überwältigte ihn.
Dann drückte Paul seinen Daumen und seine Finger wie einen Schraubstock zusammen und grub sie tief in den Muskel unter Jonathans zartem Schlüsselbein.
Jonathans Augen weiteten sich, und er stieß ein trockenes, zischendes Geräusch hervor – wie feiner Sand, der durch eine Sanduhr rieselt. Vergeblich zerrte er mit einer Hand an Pauls dickem Handgelenk.
Paul drückte fester zu.
Jonathans pechschwarzes Gesicht nahm monströse Züge an. Er klappte zusammen, seine Knie gaben unter ihm nach.
Während er ihn weiter festhielt, trat Paul zur Seite und ging hinter Jonathan in die Knie. Er ließ Jonathans Schlüsselbein los, legte einen Ellbogen eng um seine Kehle. Er spannte den Bizeps an.
Paul stöhnte vor Anstrengung, berührte mit den Lippen Jonathans Ohr.
Jonathan kämpfte, aber er war schwach, es war nur eine Panikreaktion, ein kindliches Zappeln. Dann hob er die linke Hand. Darin hielt er ein kleines, gezacktes Küchenmesser mit rotem Griff.
Jonathan schnitt mit dem Messer tief in die Innenseite von Pauls Schenkel und durchtrennte dabei die Femoralarterie.
Paul sah aus wie ein Menschenfresser, sein Gesicht schien nur noch aus Spucke und Zähnen und Wut und Demütigung zu bestehen. Er sah Jonathan mit hasserfülltem Blick an. Blut sprudelte aus der Innenseite seines Beins.
Er machte einen unsicheren, schwerfälligen Schritt. Sein Schenkel war durchweicht. Der Fleck wurde größer und dunkler. Die Hose klebte ihm an der Haut. In seiner Bestürzung und Angst murmelte er wirres Zeug – er ermahnte sich, trieb sich an, etwas zu tun. Er presste die verbundene Hand auf das Bein. Das dreckige Grau saugte sich mit Blut voll, wurde schwarz.
Er schleppte sich weiter. Auf großen, platten Füßen. Der eine Schuh schmatzte vor Blut. Er griff nach der Türklinke. Stolperte und fiel hin.
Paul schob sich mit der gesunden Hand über den Boden. Bald konnte er sich nicht mehr bewegen. Er blieb mit dem Gesicht nach unten liegen. Er machte gurgelnde Geräusche.
Die verbundene Hand hämmerte wütend auf den Boden. Sie hinterließ blasse, blutige Abdrücke, wie das Daumengemälde eines Kindes.
Jonathan wartete. Er war mit Paul Sugars Blut besprenkelt, es glänzte auf seinem Gesicht und in seinem Haar. Er hatte Spritzer davon auf den Zähnen. Er wischte sie mit der Zunge ab und spuckte auf den Boden.
Schließlich hörte Paul auf, sich zu bewegen.
Jonathan hob das Messer auf. Es war ihm abgerutscht und aus der Hand gefallen, als er Paul den Schenkel aufgeschlitzt hatte. Er hatte sich ins Fleisch seiner Handfläche geschnitten. Er kümmerte sich nicht darum.
Er verließ sein Gefängnis und schlich durchs Cottage – viel davon sah er zum ersten Mal. Er fand Kenny mit gefesselten Händen und Füßen, er war völlig hilflos. Eine lila Krawatte war zu eng um seinen Hals geknotet. Kennys Gesicht war pflaumenblau unter dem weißen Haar.
Jonathan stellte sich über ihn.