31

Beim Krähenruf am frühen Morgen ging Kenny leicht humpelnd hinaus, die Schrecken der langen, zermürbenden Nacht grinsten ihm über die Schulter. Er fuhr ein paar Kilometer zum Gartencenter am Stadtrand.

Als er wieder zurückkam, lag das weiße Cottage noch im leichten Nebel des Morgenlichts da. Er warf die Einkaufstüten auf die Schwelle des hintersten Zimmers.

Jonathan döste im Halbdunkel, der Kopf hing ihm auf die Brust, wie es Kenny manchmal im Flugzeug passierte.

Er wachte auf, als Kenny sich hinkniete, um die Drahtfesseln aufzuschneiden. Er ersetzte sie durch Plastikkabelbinder, mit denen man gewöhnlich Stromkabel bündelt oder Radkappen an Felgen befestigt. Kenny legte sie eng um Jonathans Handgelenke und Fußknöchel und band diese dann mithilfe weiterer Kabelbinder am Stuhl fest.

Während er damit beschäftigt war, sagte er: »Die hier werden dir nicht das Blut absperren – solange du nicht daran ziehst. Du bist nicht stark genug, um das Plastik zu zerreißen. Das Einzige, was passieren wird, ist, dass sie enger werden und anfangen wehzutun.«

Dann machte er die Zimmertür zu, schloss sie mit dem großen, schwarzen Schlüssel ab und rief Pat an.

»Wie geht’s dir, altes Haus?«, fragte sie.

»Gut.«

»Hast du mit Mary geredet?«

»Ja.«

»Dein Glück. Wie hat sie es aufgenommen?«

»Ziemlich gut, denke ich. Sie hat ein bisschen geweint.«

»Das ist gut.«

»Ja?«

»Es heißt, sie … wie sagt man? Sie leugnet es nicht. Wenn sie schon ein paar Tränen vergossen hat, heißt das, sie weiß, dass es wirklich passiert. Hast du Lust auf ein bisschen Gesellschaft?«

»Heute nicht. Ich muss noch aufräumen. Dinge erledigen. Liegengebliebenes und was weiß ich alles. Ich ruf dich später noch mal an. Vielleicht morgen?«

»In Ordnung, Schätzchen. Pass auf dich auf. Ruf an, wenn was ist.«

»Mach ich.«

»Im Ernst«, wiederholte sie, »pass auf dich auf. Danke für den Anruf. Hat mich gefreut.«

»Tschüs, Pat.«

»Tschüs, Liebling.«

Sie legte auf.

Pat legte auf und blieb mit dem Telefon in der Hand in der Kochnische stehen, als hätte sie etwas vergessen. Dann ging sie zu ihrer Handtasche und holte ihr kleines Notizbuch heraus. Sie rief Mary bei der Arbeit an, um zu fragen, wie es ihr gehe.

»Wie lange weißt du es schon?«, fragte Mary zurück.

»Nicht lange.«

»Warum hast du’s mir dann nicht gesagt?«

»Ich musste es ihm versprechen, Süße.«

»Ach so. Natürlich. Tut mir leid.«

»Kein Problem. Also, wie geht’s dir?«

»Um ehrlich zu sein, es hat mich total umgehauen, als wäre ich unter Schock oder so. Ich weiß nicht, was ich mit mir anfangen soll.«

»Das ist normal.«

»Und was ist mit dir? Es muss schrecklich gewesen sein, es als Einzige zu wissen …«

»Um die Wahrheit zu sagen, ich wusste nicht, was ich denken soll. Er schien es so leicht zu nehmen.«

»So ist Kenny. Er versteckt alles hinter einer Maske.«

»Und was glaubst du, wie es ihm geht?«, fragte Pat. »Ich meine wirklich. In seinem Inneren. Was glaubst du, wie er klarkommt?«

»Wieso? Stimmt was nicht?«

»Nein. Es ist alles in Ordnung. Es ist nur … ich hab gerade mit ihm telefoniert. Er klingt müde, viel müder als das letzte Mal, als wir geredet haben. Ich wollte einfach wissen, was du davon hältst.«

»Weißt du, was das Komische ist? Das Komische ist, wir haben einige Zeit miteinander verbracht. Wir sind spazieren gegangen, haben uns an den Händen gehalten – da oben bei den Menhiren. Wir haben geredet und geredet, aber ich kann mich kaum an irgendwas davon erinnern.«

»Das ist gar nicht komisch, Liebes. Das kommt vor. So sind wir nun mal gestrickt.«

»Wirklich?«

»Wirklich. Hör zu, melde dich mal öfter.«

»Du auch. Danke für den Anruf. Brauchst du irgendwas?«

»Ach, einen Jungbrunnen, einen jungen Adam Faith … Gib deinen Kindern einen Kuss. Wie alt sind sie jetzt?«

»Fünf und drei.«

»Das ist ein gutes Alter. Hab sie lieb. Gib ihnen viel Liebe. Man kann nicht zu viel Liebe kriegen. Das ist das Wichtigste.«

»So ist es«, bestätigte Mary.

Es folgte Stille, weil keine von beiden wusste, was sie sagen sollte, dann legte Mary auf.

Pat schlurfte in ihren Hausschlappen zur Polsterbank. Aus einer Schuhspitze schaute ein großer Zeh mit einem dicken, gelben Nagel hervor.

Sie schlug ein Heft »Teuflisch-Sudokus« auf und leckte an der Miene eines Kugelschreibers – eine jener überflüssigen Angewohnheiten, bei denen es sich nicht lohnte, sie sich wieder abzugewöhnen.

Pat war fünfundzwanzig Jahre lang Polizistin gewesen. Man entwickelte ein Gespür für diese Dinge. Sie konnte versuchen, es zu ignorieren, aber sie wusste, dass etwas nicht stimmte.