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Mit dem Gefühl, dass die Zeit sehr knapp wurde, ging Kenny zur Kommode, die Aleds Porträts von ihm enthielt.
Er besaß weniger als zehn Fotos von sich als Kind: nur ein paar Babybilder und einige verblasste Schnappschüsse in Farbe und mit Wellenschnitt, auf denen ein grinsendes Kleinkind in Socken und Sandalen zu sehen war. Sie alle hatte seine Mutter gemacht.
Aber sein Vater hatte ihm Dutzende Porträts hinterlassen: auf Leinwand, auf Papier, auf Servietten, am Rand von Buchseiten, die er aus stockfleckigen, in Maroquin gebundenen Ausgaben von Le Morte Darthur herausgerissen hatte.
Aleds Skizzen waren rasend vor Liebe und Verlustangst, als fürchtete er das Vorbeigehen jedes strahlenden Augenblicks. Er skizzierte Kenny, während er aß, malte ihn, während er schlief, zeichnete sein Profil, während er The Dandy las oder Buck Rogers sah.
Wenn Kenny nicht mehr da war, würden diese Bilder nichts weiter als Gegenstände vorübergehender Neugier werden. Ein Fremder in einem Trödelladen würde sie vielleicht durchblättern und sich müßig fragen, was aus diesem unbekannten, geliebten Kind geworden sei.
Vielleicht lag Kenny falsch, was Callie Barton anbelangte. Vielleicht verflüchtigte sich Liebe einfach aus der Welt wie gespeicherte Hitze aus einem Stein.
Er konnte die Bilder nicht länger ansehen. Er steckte sie in eine Pappschachtel und klebte sie mit Tesafilm zu.
Von Aled gab es keine Bilder, die weggepackt werden mussten.
Kenny hatte ihn gemalt – seinen verrückten Vater, der plapperte, als befänden sich Städte in seinem Inneren, unermessliche Metropolen, Bibliotheken, Krankenhäuser, Kasernen, riesige Kathedralen.
Wenn Aled depressiv wurde, hörte das Reden auf, und er wurde mürrisch, schwerfällig, finster. Kenny hatte Aled auch so gemalt, aber erst viel später, als er fast erwachsen war und anfing, seinen technischen Fertigkeiten zu vertrauen.
Das erste dieser Gemälde, in gebrannter Umbra und mit tintenschwarzen Wirbeln, nannte Kenny Stilles Leben. Aled hatte geweint, als er es sah: seine blauschwarzen Augen mit Pupillen wie glühende Kohlen, sein zerzaustes orangefarbenes Haar, seinen grauen Bart.
In jener Nacht träumte Kenny zum ersten Mal seit Jahren von Aleds wildem, bärtigem Gesicht mit den brennenden Augen und der großen, scharfkantigen Nase.
Und er träumte von jenem verlorenen Bild, das er am Tag von Aleds Beerdigung in den Wald gebracht hatte. Mit Benzin übergossen, verbrannt, zertrampelt, beweint. Der Erde übergeben.
Kenny erwachte unruhig und angespannt, ihm war übel und er hatte einen trocknen, metallischen Geschmack im Rachen. Der schwache Geruch von in der Ferne brennenden Reifen.
Draußen sangen die Vögel.
Er holte die Liste aus seiner hinteren Jeanstasche und las sie noch einmal durch. Sie schien in eine andere Zeit zu gehören, wie ein Werkzeug in einem Völkerkundemuseum:
Mary
Mr Jeganathan
Thomas Kintry
Callie Barton
Er konnte keinen Sinn darin erkennen; er hatte Thomas Kintry und Mr Jeganathan vergessen. Er hatte Mary vergessen. Es gab nur Jonathan Reeses Widerstand – und Callie Barton, an die er sich mit leuchtender und zunehmender Klarheit erinnerte, als bewegte er sich mit der Zeit auf sie zu, nicht von ihr weg.
Er steckte die Liste wieder in die Tasche und zog sich an, wobei das Gesicht seines Vaters am Rand seines Bewusstseins schwebte wie ein Nachbild der Sonne.
Im hintersten Zimmer wartete Jonathan auf das Morgenritual: die sanfte Intonation von Callies Namen, die Aufforderung zur Beichte, das Versprechen der Erlösung.
Es war noch früh. Draußen war die Luft frisch, aber hier drinnen war es dämmrig und stickig, wie in einem zugedeckten Vogelkäfig.
Kenny war des Rituals überdrüssig. »Ich will dir nicht weiter wehtun. Bitte zwing mich nicht dazu. Lass mich dem Ganzen ein Ende setzen.«
»Ich hab’s dir schon tausendmal erklärt: Ich kann dir nichts sagen, was ich nicht weiß.«
Kenny kauerte sich in die Ecke. »Wie habt ihr euch kennengelernt?«
»Caroline und ich?«
»Ja.«
»Ist das denn wichtig?«
»Ja.«
»Warum?«
»Solange sich jemand an etwas erinnert, ist es nicht wirklich vorbei.«
Jonathan musterte ihn lange. »Wir haben uns einfach kennengelernt, ganz normal.«
»In einem Pub? Einem Club?«
»Bei einer Dinnerparty.«
»Wo?«
»In Bath. Wir saßen am selben Ende des Tisches. Wir haben uns gut verstanden. Sie war witzig.«
»Wie, witzig?«
»Ich weiß nicht. Witzig eben. Sie hat mich zum Lachen gebracht.«
»Was hat sie gesagt, um dich zum Lachen zu bringen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Na ja, worüber habt ihr geredet?«
»Ich kann mich nicht erinnern.«
»Politik? Musik? Fernsehen?«
»Ich kann mich nicht erinnern.«
»Wieso kannst du dich nicht erinnern?«
»Wir haben geflirtet – es war unwichtig, worüber wir geredet haben.«
»Ich erinnere mich an jedes Wort, das sie je zu mir gesagt hat.«
»Wann? Jedes Wort, das sie wann zu dir gesagt hat?«
»Das tut nichts zur Sache.«
Kenny dachte an das Klassenfoto: Callie Barton in der vorderen Reihe, unten rechts. Er fragte: »Wie hat es sich angefühlt?«
»Was?«
»Sie zu töten.«
»Ach, das«, antwortete Jonathan.
Kenny gefiel sein Tonfall nicht. Er begann, ihn anzustarren.
Jonathan fuhr fort: »Ich hab Post von Leuten wie dir bekommen. Sie haben mir immer die gleichen Fragen gestellt: Wie war es? Was genau habe ich getan, in welcher Reihenfolge? Wie hat sie ausgesehen, geklungen, gerochen? War sie nackt? Hat sie sich bepinkelt? Hat sie geröchelt? Habe ich die Leiche gefickt?«
»Sei still.«
»Ich dachte, du wolltest alles wissen.«
»Nicht das. Sei still.«
»Wer bist du?«
»Niemand.«
»Wie heißt du?«
»Ich habe keinen Namen.«
»Wirst du mich töten?«
»Nicht, wenn es nicht sein muss.«
»Aber ich kann dir nicht sagen, was du hören willst.«
»Dann ist alles, was geschieht, deine Schuld. Es liegt nicht in meiner Hand. Es liegt bei dir.«
Noch immer wütend und angeekelt fuhr Kenny zum Dorfladen, um das Nötigste einzukaufen: Brot und fettarme Milch und Mikrowellen-Porridge. An der Kasse stand er in der Schlange hinter einem jungen Mann im Anzug, der Zigaretten und Pfefferminzbonbons kaufte.
Kenny reichte dem Verkäufer seinen Drahtkorb. Er zog das Brot über den Barcodescanner und steckte es in eine Spar-Tüte.
Neben der Kasse lagen ein paar zusammengefaltete Exemplare der Evening Post. Kenny warf einen Blick darauf. Ihm blieb das Herz stehen.
Er streckte die Hand aus, nahm sich eine Zeitung und bezahlte sie mit Kleingeld.
Er ging mit der Spar-Tüte in einer Hand und der Zeitung unterm Arm zum Bulli. Als er hinter dem Lenkrad saß, faltete er die Zeitung auf.
Auf der ersten Seite war ein Foto von Jonathan Reese. Er sah abgespannt, aber jünger aus.
Die riesige Schlagzeile lautete: »MANN AUS MORDRÄTSEL VERSCHWINDET«.