15
Als er aufbrach, wachte der Campingplatz um ihn herum gerade auf. Es roch nach Frühstücksspeck, man hörte Zeltreißverschlüsse aufgehen, und Leute in Flipflops trugen ihre Kulturbeutel zu den sanitären Anlagen.
Er fand den von Bäumen überschatteten Kanalweg und folgte ihm drei Kilometer. Die Angler, wie erstarrt dasitzende Rentner, beachteten ihn nicht.
Es war kurz vor neun, als er die Stelle fand, von der aus der Kanalweg hinter der Coney Lane verlief.
Er drehte sich um, ging den Weg zurück, den er gekommen war, und bog in einen von Brombeersträuchern gesäumten Pfad ein. Nach einer Weile wurde er zu einem Durchgang zwischen hohen Gartenzäunen. Dann endlich mündete er in die Straßen der Vorstadt von Bath.
In dieser Gegend standen vor allem vierstöckige viktorianische Reihenhäuser aus Bath-Stein, von denen die meisten in Wohnungen unterteilt waren und von jungen Akademikerpaaren, WGs und einigen Studenten bewohnt wurden.
Größere Einfamilienhäuser grenzten an den Kanal. Sie wirkten nicht mehr herrschaftlich – Unkraut wuchs aus Rissen in den Mauern und Gartenwegen. Die Coney Lane 25 mitsamt ihrem kleinen, ungepflegten Vorgarten bildete keine Ausnahme.
Callie Barton hatte hier gewohnt.
Kenny versuchte sich vorzustellen, wie sie an jenem Fenster stand und hinausschaute.
Er wollte zur Tür gehen. Aber er tat es nicht.
Stattdessen blieb er in Sichtweite des Hauses stehen und wählte die Handynummer von Gartenlandschaften Bath.
Es klingelte sechsmal. Dann hörte er: »Landschaften. Jonathan am Apparat.«
Kenny stieß fast einen Laut aus, beherrschte sich aber gerade noch und sagte: »Hallo. Ich rufe vom Churchill Drive an.«
»Ah, den Churchill Drive kenne ich. Draußen am Feeder.«
»Genau.«
»Und was kann ich für Sie tun?«
»Ich hätte gerne einen Kostenvoranschlag. Wir haben schon ein paar Pläne machen lassen. Wenn ich sie vorbeibringe, könnten Sie sich dann vielleicht mal ansehen, wie viel Arbeit das wäre …?«
»Wir machen leider keine Kostenvoranschläge auf der Grundlage von Plänen.«
»Ich meine nur so ungefähr. Damit ich abschätzen kann, was mich das kostet.«
»Na ja. Ich könnte sie mir schon mal anschauen und mich dann bei Ihnen melden. Kann ich mir dann nächste Woche mal das tatsächliche Grundstück ansehen?«
»Das wäre wunderbar«, sagte Kenny. »Wo kann ich die Pläne abgeben?«
»Sie können sie einfach per Post schicken. Aber wenn Sie sowieso in der Stadt sind, können Sie sie auch vorbeibringen, wenn Sie wollen. Ich bin noch den ganzen Tag auf der Baustelle.«
»Ich könnte erst so gegen, sagen wir, halb fünf.«
»Das ist in Ordnung. Wir sind den ganzen Tag hier.«
»Geben Sie mir die Adresse«, sagte Kenny. »Ich notiere sie mir eben.«
Kenny wünschte beinahe, er hätte wirklich Pläne für ein Haus im Churchill Drive. Er hätte Jonathan Reese gerne getroffen, solange ihm noch diese Vorstellung Kraft gab, dass er jemand anders war, ein anderer Mann mit einem anderen Leben.
Aber es gab keine Baupläne, und es gab kein Haus draußen am Feeder-Kanal. Und jetzt wusste Kenny, dass Jonathan im Lauf des Tages nicht nach Hause kommen würde.
Er konnte sich nun orientieren, ging zurück zum Kanalweg und zählte die Häuser. Die Gartenzäune waren gerade noch sichtbar durch ein Wäldchen dürrer Weißbirken und Haselsträucher, das eine Barriere zwischen den Gärten und dem öffentlichen Fußweg bildete.
Als Kenny beim richtigen Haus angelangt war, blieb er stehen, nahm den Rucksack ab und holte die Flasche Mineralwasser heraus. Er nutzte die paar Sekunden, bis er seinen Durst gestillt hatte, um den Treidelpfad nach links und rechts zu überblicken. Niemand war in der Nähe.
Er trat ins Unterholz, schob sich durch die niedrigen, peitschenden Äste. Das erinnerte ihn an seine Kindheit – wie es war, wenn man Geheimverstecke kannte.
Der Garten hinter Nummer 25 hatte ein hölzernes Tor. Seine Backsteinmauer ragte über Kennys Kopf auf und war von den Ranken einer uralten Kletterpflanze überwuchert. Brennnesseln breiteten sich in den lilafarbenen Schatten aus.
Kenny wusste von der Landkarte im Internet, dass hinter dieser Mauer ein langer, schmaler Garten zu etwas führte, was wie ein Wintergarten aussah. Der Wintergarten hatte einen Zugang zum Haus.
Das Tor war mit einem angelaufenen Messingvorhängeschloss verschlossen, aber die Haspe, an der es hing, war verrostet und an halb verrottetem Holz befestigt.
Kenny setzte das Brecheisen an die Haspe an. Das alte, feuchte Holz gab, ohne dass er sich groß anstrengen musste, fast völlig geräuschlos nach.
Trotzdem beschloss Kenny einen Augenblick zu warten und hockte sich im Schatten der Mauer hin. Wenn er jetzt gesehen würde, gab es keine Lüge, die erklären könnte, was er als Nächstes vorhatte.
Einem kalten Teil von ihm – diesem neuen Teil, dem Rächer Callie Bartons – war das gleichgültig. Er öffnete das Gartentor und trat hindurch.
Es verlangte ein gewisses Maß an Selbstkontrolle, aber er spazierte den sprießenden, ungepflegten Garten entlang, als wäre es ein öffentlicher Fußweg, bis er eine mit Platten ausgelegte Sonnenterrasse erreichte.
Es bei der Küchentür zu versuchen, hatte keinen Zweck, also ging er zu den Schiebefenstern des länglichen Wohnzimmers. Er schaute hinein.
Weil das Glas die Sonne reflektierte, konnte er kaum etwas erkennen, bis er die Nase an die Scheibe drückte. Er war so nah dran, dass sein hastiger Atem Kondensflecken bildete, die schnell wieder verschwanden.
Er sah das Zimmer durch den Schatten, den die Kontur seines eigenen Gesichts warf.
Er sah Möbel, die vor zehn Jahren vielleicht als schick gegolten hätten, jetzt aber abgenutzt und zerkratzt waren.
Dann hörte er ein Geräusch.
Vielleicht war es einer der alten Haselbäume, der in der zunehmenden Tageshitze ächzte, oder vielleicht ein neugieriger Nachbar.
Kenny klemmte das Brecheisen in den Fensterrahmen und stemmte sich dagegen.
Nichts geschah, also versuchte er es noch einmal mit mehr Druck. Und der Messingriegel, der das Fenster geschlossen hielt, gab langsam nach.
Kenny stemmte sich noch einmal dagegen, so fest er konnte. Der Riegel quietschte und ging schließlich auf. Kenny schob die Scheibe nach oben.
Das löste die Alarmanlage aus.
Der Alarm war schockierend in dieser Stille, in der nur Fliegen summten, in diesem langen, überwucherten Garten zwischen einem Kanal und einer Vorstadtstraße – ein plötzliches, entsetztes Kreischen, als würde das Haus selbst in Panik aufschreien.
Kenny wusste, dass er wegrennen konnte und vermutlich nicht erwischt werden würde. Aber er wusste auch, dass er, wenn er wegrannte, nie wieder den Mut finden würde, zurückzukommen.
Also schob er das Fenster noch ein paar Zentimeter weiter hoch und kletterte ins Haus. Hier war das Kreischen sogar noch lauter und hysterischer.
Er stand schwer atmend in der Diele, das Brecheisen in der Faust, und versuchte abzuschätzen, wie schnell die Polizei wohl reagieren würde.
Da Jonathan Reeses Alarm am Vormittag losgegangen war, würden sie ihn vermutlich für ein Versehen halten, ausgelöst durch eine Ratte oder eine Elster.
Oder es könnte ein herumstreichender, draufgängerischer Junkie in das Haus eingedrungen und in dem Moment wieder abgehauen sein, als der Alarm losging und nachdem er ein paar mittelmäßig wertvolle Dinge in eine Sporttasche gestopft hatte.
Noch wahrscheinlicher: Die Nachbarn würden herumsitzen und über den Lärm meckern, bis es einem von ihnen zu viel wurde und er Jonathan anrief, damit dieser nach Hause kam und sich darum kümmerte.
Kenny rechnete sich aus, dass er Zeit hatte.
Er ging hinauf und nahm den Alarm nun kaum noch wahr.
Er schaute in die oberen Zimmer.
Das erste Zimmer, in das er ging, war als Heimbüro oder vielmehr als Bibliothek eingerichtet, komplett mit einem abgenutzten Chrom-Leder-Sessel. In den Regalen standen illustrierte Bände über das Drehen von Amateurfilmen, Lokalgeschichte, über Gärtnern und Design, außerdem Kochbücher von Jamie Oliver und Gordon Ramsey und Nigella Lawson.
Ein Hewlett-Packard-Computer stand auf einem Rauchglastisch, umgeben von gestapelten Rechnungen und Bestellscheinen. Jonathan benutzte interessante Kieselsteine als Briefbeschwerer; sie waren zuerst auf Hochglanz poliert worden, jetzt ließ er sie verstauben.
Ein kleineres Zimmer war leer. Kenny stand lange im Türrahmen und betrachtete es: helle Wände, nackte Dielenbretter, ein Schiebefenster zum Garten.
Seine Leere war ihm unheimlich. Er schloss die Tür.
In einer Ecke am Treppenabsatz lehnte ein langer Holzstab mit einem Messinghaken am oberen Ende. Kenny nahm ihn in die Hand und untersuchte ihn, fragte sich, was das war. Dann stellte er ihn wieder in die Ecke und warf einen Blick ins Schlafzimmer.
Darin stand ein Doppelbett. Ein doppelter Kleiderschrank.
Kenny ging zum Schrank. Er war voll mit Männerkleidung. Kenny dachte an das leere Zimmer nebenan, und ihm wurde klar, wozu der Messinghaken am Ende des Holzstabs diente.
Er trat auf den Treppenabsatz und sah nach oben. Da, in der Decke, war eine Metallöse. Sie war mit Farbe überstrichen worden, sodass sie nicht auffiel.
Kenny nahm den Holzstab und manövrierte den Messinghaken in die Öse. Dann zog er ihn mit einem Ruck nach unten – und die Luke, die zum Dachboden führte, öffnete sich mit quietschenden Scharnieren und einem Schauer abbröckelnder Farbe.
Kenny stellte die Stange zurück in die Ecke, zog die Klappleiter nach unten und stieg auf den Dachboden.
Er war heiß und stickig. Schmale Sonnenstrahlen, in denen Staub wirbelte, schienen in präzisen Winkeln durch winzige Ritzen in der Holzverkleidung. Kenny nieste dreimal.
Der Dachboden war halb voll mit einer willkürlich aussehenden Ansammlung von Zeug: ein blauer Koffer mit abgestoßenen Ecken, eine herumliegende Lavalampe, ein Umzugskarton, eine Bücherkiste, ein Heimtrainer.
In der hinteren Ecke standen vielleicht ein Dutzend identische Kartons zu einer breiten Pyramide gestapelt übereinander, alle mit Paketklebeband verschlossen.
Kenny kannte diese Art von Kisten. Sie waren nicht in einem Kiosk oder einem Supermarkt erbettelt, sondern flach abgepackt in einer Papiergroßhandlung außerhalb der Stadt gekauft und unten zusammengesteckt worden.
Sie waren am selben Tag gepackt und verschlossen und dann auf den Dachboden gebracht worden.
Kenny nahm seinen Autoschlüssel, um das Klebeband aufzuschlitzen, und öffnete eine der Kisten.
Sie enthielt die Kleidung einer Frau.
Er nahm eine Bluse heraus: weiß, durchsichtig und sommerlich. Sie hatte keinen menschlichen Geruch an sich, kein Parfüm, sondern eher den muffigen, keksartigen Geruch nach Kartons und heißem Dachboden. Er legte sie zur Seite. Er nahm ein paar T-Shirts und zwei Fleecepullover in Dunkelgrün und Pink aus der Kiste.
Eine andere Kiste war voll mit Schuhen: Stöckelschuhe, Flipflops, Riemchensandalen, Pumps. Die meisten der Innensohlen waren dunkel vom Abdruck einer weiblichen Ferse.
Eine dritte Kiste war voll mit Modeschmuck. Er holte eine mit Samt bezogene Schatulle heraus, in der ein paar dünne Silberkettchen und ein paar Ringe lagen. Einer davon war ein viktorianischer Trauerring mit einem rautenförmigen, in Silber eingefassten Bernstein. Zwischen der Bernsteinraute und dem angelaufenen Silber steckte eine menschliche Haarlocke.
Kenny bestaunte den Ring, weil er wusste, dass die Locke vom Haar einer Leiche abgeschnitten und dann auf einem blassen Finger als Erinnerung an eine verlorene Liebe getragen worden war.
Aber wie war sie nach all der Zeit hierher gekommen, in einen Karton, auf diesen Dachboden?
Er sah sich den Ring lange an.
Er sah ihn noch immer an, als er die Haustür zuschlagen hörte.