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Kenny war ein schmächtiges, fröhliches Kind in seltsamen Klamotten gewesen – sie stammten von Anti-Atom-Basaren und Wühltischen in Wohltätigkeitsläden und sahen immer reichlich schräg aus: geblümte Hemden mit extravaganten, doppelten Manschetten, knallbunt karierte Schlaghosen, Plastiksandalen.

Die anderen Kinder in der Schule machten sich über sein merkwürdiges Aussehen, seinen komischen Geruch und sein unbekümmertes Wesen lustig. Sie nannten ihn Happy Drummond. Er wusste nicht, dass das eine Beleidigung war.

Die anderen Kinder in der Schule sagten auch, dass Kennys Dad verrückt sei – dass er fast nackt, nur mit einem Army-Mantel und orangefarbenen Flipflops bekleidet, zum Gemüsehändler ging.

Kennys Vater hieß Aled Drummond, seine Mutter Carol. Sie starb, als Kenny zwei war. Damit begann Aleds Kampf gegen die Geisteskrankheit, bei der sich Depressionsschübe mit langen Phasen euphorischer, ungetrübter Hochstimmung abwechselten.

Aleds Körper war schmal wie ein junger Baum, er hatte magere Hüften, lange Beine mit knubbeligen Knien und große, breite Füße. Er war ein Rotschopf mit Hakennase und, in Zeiten des Wahnsinns, grauem Bart, der ihn majestätisch aussehen ließ – oder wie einen Flüchtling in einem Militärmantel und Schuhen mit Nägeln an den Sohlen.

So weit Kenny zurückdenken konnte, hatte es immer nur sie beide gegeben. Manchmal wurde ihre Zweisamkeit von einer Sozialarbeiterin gestört. Sie war ruhig und gewissenhaft, eine liebe Frau, die es gut meinte und helfen wollte.

Sie kam vorbei, weil sich irgendwann Mitte der Siebzigerjahre herausstellte, dass Aled unter einer manisch-depressiven Psychose litt, wie die Krankheit damals noch genannt wurde. Er verlor seinen Job beim Wohnungsamt, bekam Krankengeld und wurde dann Vollzeit-Töpfer, weshalb er eine Töpferscheibe im Gartenhäuschen installierte. Nach dem Winter 1977 brachte er die Töpferscheibe ins Hinterzimmer neben der Küche, wo es wärmer war.

Wenn der Wahn seinen Höhepunkt erreichte, fing Aled an zu reden – oder vielmehr zu improvisieren. Es war, als hörte man den wildesten Jazz.

»Von allen Jungen auf der Welt«, sagte er dann mit seinem walisischen Akzent und einer Stimme, die viel zu kräftig für seinen spindeldürren Körper war, »von allen Kindern, die es je gab, haben mir Gott und das Schicksal – aus der ganzen Geschichte! der ganzen Welt! – dich gebracht, wie Moses in seinem Körbchen.«

Manchmal ging es Stunden und Tage und Wochen so weiter. Kenny kam es vor, als sei Aleds Wahnsinn immer von hellem, klarem Sonnenlicht begleitet.

Ihr kleines Reihenhaus in Fishponds war ein einziges Chaos aus beliebig zusammengewürfelten Künstlerutensilien: Töpferscheiben und farbverschmiertem Papier, bespritzten Messern, gesprungenen Tassen und selbst gemachten Tellern. Es war nie sauber.

Aled kaufte Dinge, die sie sich nicht leisten konnten. Er hatte eine Schwäche für Matchbox-Autos, Bücher über König Artus und walisische Mythologie. Sie fuhren mit dem Zug zu Spielzeugsammlertreffen in Birmingham, London, Stratford-upon-Avon. Und sie machten Ausflüge mit dem Bus: in den Zoo, ins Museum, zu Galerien, Kunstverbänden, Theaterworkshops, zum Glastonbury Free Festival auf der Worthy Farm.

Oder sie arbeiteten einfach in glücklichem Einklang Seite an Seite im Hinterzimmer. Kenny klatschte Gouachefarben auf gebrauchte Leinwände, bis das gute Licht wegging und die Nacht hereinbrach, Aled auf seinem Hocker formte Töpfe aus Ton wie Gott Adam geformt hatte.

Aled las Kenny vor: Geschichten über Artus und Merlin und Camelot, das Rote Buch von Hergest, das Buch von Taliesin. Er erzählte ihm von Kulhwch, einem Helden, der dazu bestimmt war, die strahlend schöne Olwen zu heiraten, die Tochter eines furchterregenden Riesen. Er lehrte Kenny, was einen Helden ausmachte.

 Wenn es dunkel war, sah Kenny fern und döste. Manchmal kauerte Aled neben ihm und schrieb epische Gedichte. Wenn Kenny dann am Morgen mit klebrigem Mund erwachte, saßen sie beide noch da: Er selbst war in einen Trenchcoat gehüllt, der nach Pfeifentabak und Schweiß roch, Aled transkribierte die Diktate seiner Einbildung in kleinen, flinken Buchstaben auf Unmengen von Durchschlagpapier, das er später zusammensammelte und wie Spielkarten mischte, bis sich eine scheinbare Ordnung ergab. Er suchte nach Verbindungen und Zufällen und sah darin, wenn er welche fand, die Hand der Vorsehung.

Als Kenny acht Jahre alt war, setzte sein Lehrer ihn bei einem Ausflug nach Glastonbury neben Callie Barton. Die anderen Kinder zogen Callie damit auf, dass sie Happy Drummonds Liebhaberin sei und ihn an der Hand halten musste, wenn sie die Straße überquerten.

Aber von jenem Tag an war Callie Barton Kennys beste Freundin.

Sie sprach nicht oft mit ihm und spielte in der Mittagspause nie mit ihm. Meistens spielte sie Gummitwist mit Judith und Isabel und Alison.

Aber manchmal warf sie ihm über die Tische hinweg einen Blick zu. Und wenn Kenny ihn erwiderte, lächelte sie süß und geheimnisvoll.

In dem Schuljahr, das im September 1979 begann, war Kenny fast zehn.

Als er Raum 5 betrat, stellte er fest, dass die neue Lehrerin Miss Pippenger ihre eigenen Vorstellungen von der Sitzordnung in einem Klassenzimmer hatte.

Im hinteren Teil, unter den großen Fenstern, hatte sie drei Tische zu einer Art Rechteck zusammengestellt. An diesem Rechteck sollten die sechs besten Schüler sitzen, denn sie konnte sich darauf verlassen, dass sie ruhig arbeiten würden; die lauten Schüler sollten vorne bleiben.

Miss Pippenger setzte Kenny Drummond und Callie Barton nebeneinander – so nah, dass Kenny das Vosene-Shampoo in ihrem Haar riechen konnte.

Sie redeten kaum miteinander, aber manchmal betrachtete Kenny aus dem Augenwinkel ihr zierliches weißes Handgelenk mit den feinen blauen Adern und ihre zierliche rechte Hand mit den spitzen Fingerknöchelchen, die einen am Ende angekauten HB-Bleistift umklammerte, während Callie ihren Namen oder das Datum oben auf ein Blatt schrieb. Sie schrieb Worte, Zahlen. Manchmal malte sie Blumen an die Ränder, oder Seepferdchen, Ponys, Glitzerfontänen, Regenbogen.

Am Ende der vierten Woche blieb Callie bei einer schriftlichen Division stecken: 435:25.

Kenny bemerkte ihre angespannte Stille, den Druck des reglosen Staedtler-Bleistifts, der ein Loch in ihr Aufgabenheft machte.

Kenny holte tief Luft, nahm seinen ganzen Mut zusammen und beugte sich zu ihr hinüber. Sie waren fast Ohr an Ohr. Ohne etwas zu sagen, schob er sein Aufgabenheft so nah an ihres heran, dass sie abschreiben konnte. Er konnte sie atmen hören, während sie sich konzentrierte.

»Danke«, flüsterte sie.

Dann umschlang sie mit dem Fuß seinen Knöchel.

Kenny blickte verstohlen zur Seite. Sie konzentrierte sich auf ihr Aufgabenheft, als wäre nichts geschehen.

Als sie sich nach dem Mittagessen wieder setzte, umschlang sie mit dem Fuß erneut seinen Knöchel.

Sie sagte nichts und sah ihn nicht an. Kenny war noch nie so glücklich gewesen.

Am Valentinstag erhielt Callie Barton vier Karten. Sie kicherte und tuschelte mit ihren Freundinnen.

Auch Kenny hatte ihr eine Karte gebastelt. Er hatte Sonnenblumen und Rosen in einer grünen Vase gemalt und ein sechszeiliges Gedicht geschrieben. Aber er hatte die Karte nie abgeschickt, sie lag noch immer unter seinem Bett.

Als Izzy im Spaß behauptete, eine von Callies Karten komme vom blöden, stinkenden Happy Drummond, entgegnete Callie: »Halt einfach die Klappe und lass ihn in Ruhe.«

Die anderen zogen sie damit auf, dass sie nett zu Happy Drummond war, dass sie in ihn verknallt sei, dass sie ihn heiraten wolle – und wochenlang zwang der Spott sie dazu, Kenny wie Luft zu behandeln.

Aber nicht einmal das hielt sie davon ab, mit ihm heimlich unter dem Tisch die Knöchel zu verschränken und ihn manchmal aus dem Augenwinkel zu beobachten, wenn sie sich ihr Schreibübungsheft teilten.

Miss Pippenger sollte auch im letzten Grundschuljahr ihre Lehrerin bleiben. Kenny dachte die ganzen Sommerferien des Jahres 1980 darüber nach, wie viel Zeit ihm noch an Callie Bartons Seite blieb.

Die Zeit war ein schmutziger Fluss, sie spülte Dinge fort. Nächstes Jahr würden er und Callie nicht mehr große Kinder in einer kleinen Schule sein, sondern kleine Kinder in einer großen Schule, und sie würden marineblaue Blazer mit Wappen auf der Brusttasche tragen.

Kenny wusste, wie es sich anfühlte, wenn etwas zu Ende ging. Die Kindheit war beherrscht vom andauernden Schmerz der Sehnsucht, des permanenten Verlusts und der Veränderung. Er hatte gelernt, Augenblicke in kleinen Schlucken zu genießen wie Ribena-Saft, um sie auszukosten.

Am ersten Morgen des neuen Schuljahrs ging er mit seinem abgewetzten Ranzen auf dem Rücken zur Schule. Er ging langsam – er wusste, dass dies der letzte solche Morgen war, den es je geben würde.

Er ging durch das Schultor und sah die bekannten Gesichter wieder, alle waren leicht verändert: andere Haarschnitte, andere Kleider. Manche Kinder waren in die Höhe oder in die Breite gewachsen; ihre Füße waren größer und dicker geworden, ihre Hände kräftiger, ihre Hälse lang und dürr. Manche trugen das Haar länger, andere hatten es kurz geschnitten; manche besaßen neue Turnschuhe, Puma und Adidas, oder hatten neue Anstecker an ihren Harringtonjacken: The Jam, Madness, The Selecter.

Callie Barton war nicht auf dem Schulhof.

Callie war nicht da, als der Gong ertönte, und Callie war nicht da, als Kenny das frisch gebohnerte, nach Schweißfüßen stinkende Schulgebäude betrat.

Und Callie saß nicht an ihrem gemeinsamen Tisch. Gary Bishop war statt ihrer dorthin gesetzt worden. Er hatte in den Ferien eine neue Brille bekommen, und sein Haar war fast so kurz wie bei einem Bürstenschnitt.

Als Kenny Gary Bishop auf Callie Bartons Platz sah, musste er sich beinahe übergeben, aber er schwieg, stellte seinen Ranzen ab, sagte Hallo und starrte Miss Pippenger an.

Er merkte nicht, dass Miss Pippenger die Anwesenheitsliste vorlas, bis sie seinen Namen dreimal gesagt hatte – »Kenneth Drummond?« – und die ganze Klasse, jene vertrauten Gesichter, deren Züge sich um ihn herum veränderten, zu lachen anfing.

Kennys Herz war gebrochen. Nur in den Geschichten, mit denen Aled ihn großgezogen hatte, fand er Trost – Geschichten, die in verzauberten Schlössern östlich der Sonne und westlich des Mondes spielten; Geschichten von Gralsrittern, Bauernjungen, aus denen mutige und edle Helden wurden, verwunschenen Prinzessinnen, die hundert Jahre einen verzauberten Schlaf schliefen, bis ein keuscher Kuss sie weckte.

Es waren Geschichten des Gefangenseins und der Verwandlung – von Mensch zu Tier und von Tier zu Mensch. Nur Jugend und Schönheit und Liebe blieben bestehen.

Aus diesen Geschichten – und von Aleds noblem, gequältem Herzen – kannte Kenny die Liebe. Liebe machte aus Bauernjungen Könige, Liebe besiegte Ungeheuer und Drachen.

In seinem Herzen verwahrt wie ein Samenkorn konnte sie Wurzeln schlagen und wachsen und stark werden. Sie auszusprechen jedoch hätte den Zauber gebrochen, das Glas zerschlagen, hätte sie verwelken und sterben lassen.

Die Liebe zu Callie Barton war Kenny ernster und heiliger als alles andere. Deswegen sprach er nie darüber. Aber er dachte oft an sie – das kleine Mädchen, das Mitgefühl gezeigt hatte und dann still aus seiner Welt verschwunden war.

Kenny sah das Klassenfoto lange an. Dann steckte er es zurück in den Umschlag und legte es wieder in die leere Bilderschublade.

Er setzte sich an seinen Laptop und suchte mit schmerzendem Magen und trockenem Mund bei Friends Reunited und Facebook und allen anderen Seiten, die ihm einfielen, nach einem Eintrag über Callie Barton.

Er suchte und suchte. Aber sie war nicht da.