51
Kenny rief Pat an, aber sie nahm nicht ab. Nicht einmal ihr Anrufbeantworter schaltete sich ein. Es klingelte und klingelte bloß.
Er versuchte es viermal.
Er lenkte sich ab. Er erwärmte etwas Hühnersuppe aus der Dose. Jonathan aß ein paar Löffel davon, konnte sie aber nicht bei sich behalten.
Kenny ließ ihn sich erholen und suchte alles zusammen, was sie brauchen würden. Benzin im roten Kanister; eine blaue Abdeckplane, die er zusammengerollt und angeschimmelt in der Ecke eines Gartenhäuschens fand; das Brecheisen; einen Ingenieurhammer, der nicht schwer genug war; den kleinen Feuerlöscher von hinten aus dem Bulli.
Er fuhr ins Gartencenter, während Jonathan Reisig und Blätter und andere Gartenabfälle sammelte. Kenny humpelte durch die Gänge, kaufte einen Vorschlaghammer mit kurzem Griff, noch mehr Rollen Klebeband, ein Paar Gartenhandschuhe, eine Grabeforke und mehrere Rollen strapazierfähige Gartenabfallsäcke.
Als er zurückkam, sah er, dass Jonathan im blassen Sonnenschein hart gearbeitet hatte. Langsam und unter großen Anstrengungen hatte er ein großflächiges Feuer vorbereitet, für das er Holz aus den Gartenhäuschen und zerbrochene alte Möbel aufgestapelt hatte.
Sie betraten das Cottage gemeinsam und machten sich im hintersten Zimmer an die Arbeit. Sie sprachen nicht miteinander, verständigten sich nur mit Blicken und Gesten und Brummen und ein- oder zweimal mit einer Art bitterem Lachen.
Aus Paul Sugars Taschen nahmen sie den Autoschlüssel, die Brieftasche und eine Packung Dexedrine-Tabletten heraus. Kenny holte die Kreditkarten aus der Brieftasche, zerschnitt sie mit einer Küchenschere, legte sie in eine Suppenschüssel und ließ sie brennen, bis sie schmolzen und blubberten wie Karamell.
Die Brieftasche enthielt weder Fotos noch andere persönliche Gegenstände.
Sie knieten sich hin, um Paul die riesigen Schuhe aufzuschnüren und auszuziehen. Einer war klamm von kaltem Schweiß, der andere bluttriefend. Sie schnitten Paul die blutgetränkten Kleider vom Leib, sodass er nur noch Unterwäsche und Socken anhatte.
Mit vereinten Kräften banden sie ein gelbes Abschleppseil um Pauls Brust und zogen ihn durch die Küche und zur Hintertür hinaus, als würden sie ein Boot ans Ufer holen. Er hinterließ eine Spur aus Kot und Blut.
Sie zerrten und strengten sich an, um die Leiche auf den Holzstapel zu hieven. Ein Teil des Aufbaus brach unter Pauls totem Gewicht zusammen. Sie mussten den Scheiterhaufen um ihn herum noch einmal neu aufrichten.
Kenny übergoss Paul mit Benzin aus dem roten Kanister. Dann schichteten sie noch mehr Holz und Anzündmaterial und sogar ein paar Kohlebrocken aus einem längst vergessenen Kohlenkasten um ihn herum auf. Kenny tränkte das Anzündmaterial ebenfalls mit Benzin. Obenauf legten sie die Kleider und haufenweise trockenes Sommerlaub.
Dann ließ Kenny sich mit einem brennenden Papierstreifen auf alle viere nieder. Er zündete das Feuer von unten an, wo kein Benzin war. Es dauerte eine Weile, bis es in Gang kam, sogar mithilfe der Feueranzünder. Aber als das schwache Flackern schließlich das Benzin erreichte, fauchte das Feuer wie ein lebendiges Wesen, grinste, leckte sich die Lippen, grollte leise.
Während das Feuer rauchte und knallte, sammelten sie wortlos noch mehr Brennmaterial, um es zu füttern. Es musste heiß brennen und das für lange, lange Zeit.
Als Jonathan schließlich ins Cottage humpelte, bockte Kenny Pauls Auto auf, montierte die Räder ab und rollte sie in die dunkelste Ecke des am weitesten entfernten Wellblechhäuschens.
Er montierte die Nummernschilder ab und warf sie in den schnell dahinfließenden Bach, gefolgt von Pauls leerer Brieftasche, dem Autoschlüssel und den Schuhen.
Er rieb die Karosserie ab, indem er sie mit Händen voll öligem Dreck einschmierte und diesen mit einem alten Handtuch verteilte. Es war, wie ein Bild altern zu lassen.
Aus einer Küchenschublade holte er eine Plastiktüte und ging damit zurück zum Auto. Er leerte das Handschuhfach, den Raum unter den Sitzen und den Kofferraum. In die Tüte steckte er einen Stadtplan, einen Straßenatlas mit Eselsohren, eine ausgequetschte Tube Hydrocortisonsalbe, ein leeres Brillenetui, ein paar mit Fusseln bedeckte, harte Bonbons, alte Kugelschreiber und eine Büroklammer.
Dann verbrauchte er eine ganze Packung Küchentücher, um alle Oberflächen abzuwischen – wobei er besonders auf den Schalthebel, das Lenkrad, die Türgriffe und den Rückspiegel achtete. Er stopfte die benutzten Tücher in eine weitere, nun prall gefüllte Plastiktüte. Er knotete die Tüte zu und warf sie in den Müll.
Er saugte das Benzin aus dem Tank in den roten Kanister. Dann verknüllte er etwas Zeitungspapier, tränkte es mit Benzin, warf es ins Auto und ein Streichholz hinterher. Er ließ es dreißig Sekunden brennen, bevor er die Flammen mit dem Mini-Feuerlöscher löschte.
Wenn es abgekühlt war, würde das Auto aussehen, als hätte es schon immer dort gestanden. Er hoffte, der Geruch würde bald verfliegen, er zerstörte die Illusion. Kenny wusste nicht, was er dagegen tun konnte. Es würde auch so gehen müssen.
Kenny ging hinein.
Jonathan hatte die Fußböden mit Unmengen kaltem Wasser und Vollwaschmittel gewischt und geschrubbt. Im hintersten Zimmer roch es heiß und sauber wie in einem Waschsalon.
Die Sonne ging unter, und der Scheiterhaufen glühte rot, während der Rauch in den sich verdunkelnden Himmel aufstieg. Kenny und Jonathan zuckten vor seiner flackernden Hitze zurück. Sie warfen weitere Arme voll Laub darauf. Sie versengten sich die Wimpern und die Härchen auf den Armen.
Sie traten vor und übergaben die Skizzen von Jonathan eine nach der anderen dem Feuer. Die Flammen fraßen die Chronik von Jonathans Verwandlung: Papier rollte sich zusammen und wurde schwarz, Asche leicht wie Nachtfalter beschrieb eine sich langsam drehende Spirale, kreiste in der aufwirbelnden Luft, glühte an den Rändern rot auf. Sie leuchtete hell vor dem Rauch, der schwarz war von Pauls der Hitze übergebenem Fett. Es war traurig und schön. Es roch nach Herbst, nach Grillfesten und brennenden Blättern und dem Ende des Sommers.
Als Kenny und Jonathan am Ende ihrer Kräfte angelangt waren, setzten sie sich und beobachteten das Feuer. Die Flammen leckten an ihren überschatteten Gesichtern und ließen sie wild und fremd aussehen.
Kenny rief Pat an, aber sie nahm immer noch nicht ab.
Er und Jonathan schliefen zusammengerollt auf der harten, ölverseuchten Erde. Sie wachten alle halbe Stunde auf und trugen noch mehr Holz zum Feuer, schürten es, hielten es heiß. Dann legten sie sich wieder hin, rollten sich zusammen und schliefen weiter.
Im Morgengrauen begann es zu nieseln, und die Überreste des Feuers, die immer noch krachten und knallten, fingen an zu zischen. Als sie erwachten, besahen sie sich die Kohle und Asche, die toten Äste und die geschwärzte Erde. In der Mitte des Feuers war Pauls verdunkelter Schädel zersprungen. Bruchstücke von Kiefern und Zähnen, ein zersplittertes Grinsen. Elle, Schulterblatt. Füße an unvollständigen Beinen.
Kenny übergoss das Feuer mit Wasser aus dem blauen Eimer. Es zischte und dampfte im morgendlichen Nieselregen. Knochenstücke krachten.
Nicht weit vom abkühlenden Feuer breitete Kenny die blaue Abdeckplane aus und beschwerte ihre Ecken mit Vergasern und faustgroßen Steinen. Dann kehrte er die versengten Knochen mithilfe der neuen Grabeforke und der Gartenhandschuhe aus dem Feuer auf die Plane.
Er sammelte die Bruchstücke des Schädels und des Kieferknochens ein. Mit einer Spitzzange trennte er die Zähne vom Schädel. Er brauchte erstaunlich viel Kraft. Die Knochenstücke gaben ihre gespeicherte Hitze noch durch die Gartenhandschuhe ab. Kenny musste sie immer wieder loslassen. Doch schließlich stand er auf, ließ die Zähne in seiner behandschuhten Hand klappern wie Würfel und ging an die Grenze seines Grundstücks.
Er verstreute die Zähne über dem Bach. Sie platschten einer nach dem anderen wie dicke Regentropfen in das kalte, klare Wasser.
Er kehrte zu den übrigen Knochenresten zurück und setzte die Plastik-Schutzbrille auf, die er seit fünf Jahren nicht mehr getragen hatte, als er zum letzten Mal mit Sprühfarbe gearbeitet hatte. Er ließ sich auf die Knie nieder und zertrümmerte die Überbleibsel des Schädels mit dem kurzen Vorschlaghammer. Dann zerteilte er die übrigen Bruchstücke in kleinere Knochensplitter und geschwärztes Fleisch und Sehnen. Die Wirbelsäule und die Hüften waren harte Arbeit. Er merkte nicht, dass er schniefte und weinte, während er auf den Knien arbeitete und mit dem Hammer zuschlug. Knochenspäne schnitten ihm in die Stirn und die Wangen. Es war ein Glück, dass er die Schutzbrille trug.
Er sammelte die größeren Knochentrümmer in einem festen Gartenabfallsack. Als er damit fertig war, fegte er die kleineren Splitter mit einem Besen in die Mitte der Abdeckplane, dann beförderte er sie mit Handfeger und Kehrschaufel ebenfalls in den Sack.
Er vergaß nicht, den Handfeger und die Kehrschaufel am Wasserhahn außen am Haus abzuwaschen.
Er kehrte zur Abdeckplane zurück und band den Gartensack zu. Dann umwickelte er ihn mit Klebeband. Als er damit fertig war, schob er ihn in einen zweiten Müllsack, band auch diesen zu, dann schob er ihn in einen dritten, einen vierten.
Am Ende hatte er ein unförmiges, luftdichtes Bündel. Er klemmte es sich unter den Arm und trug es ins Cottage, den Gang entlang ins hinterste Zimmer.
Jonathan hatte mithilfe des Brecheisens einige der nackten Dielenbretter gelöst und den wie ein Grab riechenden Kriechkeller darunter freigelegt. Als Kenny mit dem Bündel hereinkam, stand Jonathan am Rand des Lochs und wartete bereits.
Ohne ein Wort zu sagen, kletterte Kenny hinunter in den Kriechkeller und kauerte sich in der Kühle zusammen. Hier unten wimmelte der Erdboden von Würmern und blassen Raupen.
Jonathan reichte ihm einen kleinen Spaten, und Kenny stieg weiter in die Dunkelheit hinab.
Er wartete, duckte sich unter dem Boden, bis Jonathan das Paket durch die Lücke in den Dielen gequetscht hatte. Dann schlängelte Kenny sich zur dunklen Mitte des Kriechkellers durch und zog dabei das Paket hinter sich her. Es war nicht weit, aber es war unangenehm und kalt und feucht, und es dauerte lange.
Er war außer Atem, als er den Mittelpunkt der Dunkelheit unter seinem Haus erreichte. Die Luft roch stark nach Erde.
Auf allen vieren, die feuchten Dielenbretter nur wenige Zentimeter über seinem Kopf, arbeitete Kenny mit dem Pflanzenheber. Er hob ein flaches Grab aus, eine Hand voll Erde mit jeder Bewegung. Der Rücken tat ihm weh, und die Arme taten ihm weh – am meisten tat ihm der Nacken weh, weil er auf den Knien und mit gebeugtem Hals graben musste.
Er sprach nicht. Wenn er hier unten das Echo seiner Stimme gehört hätte, hätte er nicht anders gekonnt, als diesen fürchterlichen Ort augenblicklich zu verlassen und immer schneller auf das blasse Rechteck Sonnenlicht zuzukriechen. Er hätte nie wieder den Mut gefunden, noch einmal hier herunterzukommen.
Kenny rollte das Knochenbündel ins Loch.
Es war nicht tief genug.
Sein Herz schlug leicht und schnell vor Anstrengung und Beklemmung. Er ignorierte den Dreck und die Spinnweben in seinem Haar und den Schmerz im Kreuz und seine sich verkrampfenden Schenkel, die grässliche nasskalte Schwärze. Er grub tiefer. Seine Hände schwitzten in den Gartenhandschuhen.
Schließlich schob er das Paket in die Grube. Dann häufte er mit den Händen Erde darüber und klopfte sie mit der flachen Seite des Pflanzenhebers fest, so gut er konnte.
Dann schleppte Kenny sich zurück ins Licht.
Jonathan hockte sich neben das Loch und reichte Kenny die Hand, um ihm herauszuhelfen.
Dann stand Kenny mit Spinnweben und Grabesdreck im Haar im hintersten Zimmer, in regnerisches Sonnenlicht getaucht, und japste wie ein Fisch auf dem Trockenen.
Jonathan forderte ihn auf, sich zu setzen. Also setzte Kenny sich auf die Türschwelle, während Jonathan die Dielenbretter wieder an ihren Platz legte und festnagelte. Mit einem Lumpen rieb er Schuhcreme auf die neuen, aschfahlen Splitterstellen im dunklen, gealterten Holz.
Und dann war es vollbracht. Kenny hatte jemanden verschwinden lassen, hatte aus einer Gegenwart eine Abwesenheit gemacht. Er hatte das Gegenteil eines Porträts geschaffen.
Er war erschöpft. Er duschte und massierte sich dabei die Kopfhaut mit zitternden Händen.
Sie setzten sich aufs Sofa und versuchten zu essen. Es gelang keinem von beiden.
In den Nachrichten sah Kenny Pats Wohnwagen.
»Was ist los?«, fragte Jonathan.
»Nichts«, antwortete Kenny. Er sah die Löschfahrzeuge und Polizeiautos und die Schaulustigen und das Skelett des ausgebrannten Wohnwagens, und er erinnerte sich daran, wie Pat seine Hand gehalten hatte, als sie den Pier hatten brennen sehen.
Er dachte an die Blutspritzer auf Pauls monolithischer Stirn.
Er legte Messer und Gabel nieder. Das Besteck machte ein helles, häusliches Geräusch in der blauen Dunkelheit.
Er ging in die Küche und spülte den Teller und das Messer und die Gabel unter kaltem, fließendem Wasser. Dann trocknete er den Teller ab und stellte ihn ins Abtropfgestell. Dann weinte er.