23
Kenny wurde vom Klingeln des Telefons geweckt. Er stand unbeholfen und verwirrt auf und fragte sich einen schläfrigen Augenblick lang, wo er war und warum seine Arme und Beine so sehr schmerzten.
Dann erinnerte er sich und hob ab: »Hallo?«
»Dann bist du also zurück?«, fragte Pat.
»Mhm. Wie spät ist es?«
»Kurz nach neun. Bist du schon auf?«
»Ja.«
»Dann setz mal Wasser auf.«
»Warum?«
»Ich hab mir gedacht, ich komm mal vorbei.«
»Warum?«
»Um zu gucken, wie’s dir geht. Wie geht’s dir?«
»Gut. Bisschen verschlafen.« Er erinnerte sich an Jonathan Reese im hintersten Zimmer und fügte hinzu: »Aber du musst wirklich nicht den ganzen Weg hierherkommen. Ich komm zu dir.«
»Mir macht das nichts aus. So komm ich mal raus aus dem Wohnwagen.«
Ihm fiel keine geeignete Lüge ein, also erzählte er einen Teil der Wahrheit. »Ich hab gar nichts da – Tee, Kaffee, Milch und so. Treffen wir uns lieber in Weston. Dann können wir die Promenade entlanglaufen.«
Sie verabredeten eine Zeit und einen Ort, dann legte Kenny auf.
Er stand da und sah zum Küchenfenster hinaus, auf die verfallenen Wellblechhäuschen, die Gerstenfelder dahinter, das Vieh, die Rapsfelder, die Autobahn in der Ferne. Die leuchtend grünen Hügel, die strahlende Kraft des Morgens.
Bis auf ein merkwürdiges, dunstiges Wolkengebilde im Südwesten war es ein klarer Tag. Er ging hinters Haus. Er nagelte die Bretter, die er zuvor bereitgelegt hatte, an den Fensterrahmen des hintersten Zimmers. Er prüfte, ob sie standhielten. Sie waren fest.
Jonathan Reese saß im künstlichen Halbdunkel, kreuzweise schraffiert von Lichtstreifen, die durch die Ritzen und Spalten zwischen den Brettern drangen, mit denen das Fenster des abgelegenen Zimmers verbarrikadiert war.
Drinnen sagte Kenny zu ihm: »Ich muss weg. Wenn ich zurückkomme, erzählst du mir, was mit ihr geschehen ist.«
Jonathan zog die Augenbrauen hoch und gab einen Laut von sich, eine einzige Silbe. Es war eine Frage. Wem?
»Callie Barton«, sagte Kenny. »Ich will, dass du mir erzählst, was du getan hast und warum du es getan hast. Wenn du das nicht machst, bring ich dich um.«
Dann ging er und schloss die Tür des hintersten Zimmers ab. Er duschte, zog sich um und fuhr los, um Pat zu treffen.
Auf halber Strecke nach Weston rief sie an und sagte: »Treffen wir uns an der Promenade.«
»Warum?«
»Das siehst du dann.«
Er sah es, lange bevor sie sich trafen. Der seltsame Dunst, den er bemerkt hatte, war ein schwarzer Fluss aus Rauch, der sich in den Himmel ergoss.
Der Grand Pier brannte.
Der Pier war ein bedrohlicher Ort, aber er war auch harmlos – er war beides auf einmal, wie ein Ungeheuer aus einem Märchen. Kenny stand an der Strandpromenade in der Menge, die sich versammelt hatte, um ihn brennen zu sehen.
Pat fand ihn. Sie drängte sich zu ihm durch und sagte nichts, nahm einfach seine Hand und drückte sie einmal fest.
Der Pier von Weston hatte den zweitgrößten Tidenhub der Welt, und gerade war Ebbe, deswegen gab es hier am Strand kein Wasser, um die Flammen zu löschen. Ein Polizei-Hovercraft driftete hilflos über den braunen Sand wie ein Gespenst.
Man vernahm ein leises Todesstöhnen, ein Krachen, rote Funken stoben in die Höhe – lebendig und übermütig, Feen vor dem rauchschwarzen Himmel. Der Holzsteg brach zusammen. Teile des Oberbaus regneten auf den Strand.
All diese Menschen waren hier am Rand des Festlands versammelt. Kenny fand, sie sahen aus wie Flüchtlinge, die auf ihre Rettung warteten. Der brennende Pier, das glühende Metall: All das war ein Signal an das blassblaue Land jenseits des Wassers.
Pat sagte: »Ich bin schon hergekommen, bevor die Beatles da waren.«
Und Kenny war mit seinem Vater sehr oft hergekommen – bevor die Sex Pistols da waren.
Er hatte den Optimismus und die Vulgarität des Piers gemocht. Ein Pier war von Natur aus leicht verrückt: ein Ort der schrillen Vergnügungen und angespannten Nerven, kreischend und unvernünftig. Kenny hatte sich dort zu Hause gefühlt, wenn er mit der Bimmelbahn fuhr oder auf dem schwankenden Fußboden des Spiegelkabinetts sein ohnehin instabiles Gleichgewicht verlor.
Und jetzt, als er Zeuge seines Endes wurde, spürte er, dass sich auch in seinem Inneren etwas verändert hatte.
Sie standen lange schweigend da. Später, nachdem das Feuer eingedämmt worden war, schlenderten sie zu einer Spielhalle an der Strandpromenade. Sie war ungewöhnlich leer. Sie wechselten Geld, stellten sich nebeneinander und steckten Münzen in einarmige Banditen.
Pat musste schreien, um das Klingeln und Tuten und Zischen der vernachlässigten Automaten zu übertönen. »Und, bist du jetzt genug rumgereist?«
»Ja, ich denke schon«, schrie Kenny zurück.
»Du hast nicht vor, noch mal abzuhauen?«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Wir haben uns nämlich Sorgen gemacht. Mary und ich.«
»Du magst Mary doch gar nicht.«
»Doch, ich mag sie schon. Nur sie hat was gegen mich, aber das ist eine andere Geschichte. Sie möchte dich beschützen.«
»Ich musste einfach weg, um nachzudenken.«
»Worüber?«
Er zuckte mit den Schultern. »Du weißt schon.«
»Sagst du es ihr?«
»Ich werd’s versuchen.«
»Denn sie ist wichtiger als die anderen, die verlorenen Geliebten, die gekidnappten Jungs. Wichtiger als alle.«
Er nickte und sagte nichts, weil Pat ihn nicht verstehen würde.
Draußen war der Sommerhimmel vom Rauch getrübt, und die Flut kam – braunes, glanzloses, schlammiges Wasser, nicht einmal wirklich das Meer.
Nachdem er sich von Pat verabschiedet hatte, hielt Kenny bei einem Baumarkt. Dann fuhr er nach Hause und warf seine Einkaufstaschen in die Küche.
Er nahm den Klauenhammer, der neben dem Wasserkocher lag, und steckte ihn sich an den Gürtel, dann ging er das hinterste Zimmer aufschließen und trat aus dem hellen Sonnenschein in stinkendes Zwielicht.
Die Schnur lag noch immer um Jonathans Kehle. Er hatte an seinen Klebebandfesseln gerieben und gedreht und gezogen, aber sie hatten gehalten.
Kenny musterte Jonathan mit einer gewissen Befriedigung, wie eine Krankenschwester einen Patienten, der ihr Sorgen bereitet hat. Dann trug er mit einem Schwamm Franzbranntwein auf das Klebeband über Jonathans Gesicht auf und rieb seine kratzige Haut damit ein.
Er zupfte an einer Ecke des Klebebands. Bald war die Ecke so groß, dass er sie gut packen konnte. Er zog das Klebeband mit einer langsamen Bewegung ab.
Auf der klebrigen Seite blieben Fetzen von Jonathans Haut und stoppelige Punkte zurück. Sein Gesicht war rot wie von einem Sonnenbrand.
Er sah Kenny an und sagte nichts.
Dann bekam er plötzlich eine Art Anfall. Er bäumte sich auf und zappelte in seinen Fesseln, aus seinem Mund trat Schaum, bis die Schnur ihn würgte und wieder gefügig machte.
Kenny musste sich Mühe geben, nicht loszulachen, weil es so absurd war, wie er da in seinem ungenutzten Zimmer stand, mit einem Krebsknoten im Schädel und einem gekidnappten Mann vor sich, der mit einer Nylonschnur an einen zehnrippigen, gusseisernen Heizkörper gefesselt war.
Nachdem Jonathans Anfall vorbei war, fragte Kenny: »Hast du Durst?«
»Ja.«
Kenny ging in die Küche und füllte eine Tasse mit Wasser. Er trug die Tasse zurück ins hinterste Zimmer und kniete sich hin. Er hielt die Tasse an Jonathans Lippen.
»Wo ist sie, Jonathan? Was hast du getan?«
Jonathan trank in großen Schlucken, Wasser lief ihm über die Brust. Als die Tasse leer war, sagte er: »Ich weiß nicht, wo sie ist. Und ich weiß nicht, was mit ihr geschehen ist. Das schwöre ich.«
Kenny prüfte das Gewicht des Klauenhammers in seiner Faust.
»Das ist keine Lüge«, sagte Jonathan. »Bitte, Gott. Bitte, Jesus.«
Sie sahen sich tief in die Augen. Kenny schrie ihn an. Er schrie, bis er heiser war, und hob den Klauenhammer mit dem gezackten Metallende voran in die Höhe.
»Nein«, flehte Jonathan.
Kenny ließ den Hammer sinken und hockte sich hin, sodass er mit Jonathan auf Augenhöhe war. »Wenn du mir sagst, wo sie ist, kannst du gehen.«
Der Wunsch, das zu glauben, spielte über Jonathans Gesicht wie Sonnenlicht über einen Teich. Kenny beobachtete ihn.
»Beim Leben meiner Mutter. Ich weiß es nicht.«
»Dann wirst du hier sterben.«
»Nein. Sie werden mich finden.«
»Wer?«
»Die Polizei.«
»Sie werden frühestens nach einer Woche anfangen zu suchen. Du hast keine Woche mehr. Die hab ich nämlich auch nicht.«
Dann sah Kenny einen Ausdruck auf Jonathans Gesicht, den er noch nie beobachtet hatte, nicht im wirklichen Leben. Er vermutete, dass es Todesangst war.
Er sah mehrere Sekunden lang fasziniert zu. Dann eilte er in sein Atelier, um einen Skizzenblock und Kohle zu holen: Er wollte ihn festhalten.