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Pat las keine Zeitungen, weil sie fand, dass die Geschichten sich einfach immer wiederholten: Junge Männer begingen sinnlose, abartige Verbrechen; ihre Opfer waren andere junge Männer, Kinder, alte Menschen. Die Spirale setzte sich einfach immer weiter fort, es ging rasend bergab, und niemand konnte sie unterbrechen und stoppen.

Sie verstand nicht, wie das für irgendjemanden eine Neuigkeit sein konnte.

Sie sah zwar die frühen Abendnachrichten im Fernsehen, aber hauptsächlich wegen des Wetters.

An diesem Abend löste sie ein Sudoku und verfolgte nur mit einem Auge eine Pressekonferenz der Polizei – blitzende Kameras, Lokaljournalisten in komischen Anzügen.

Der Polizeichef saß da und blickte in die Kameras. Hinter ihm hingen vergrößerte Schnappschüsse eines leidlich gut aussehenden jungen Mannes, dessen Alter (Ende dreißig, Anfang vierzig) darauf schließen ließ, dass er entweder der Mörder eines engen Familienmitglieds oder das Opfer irgendeines schrecklichen, willkürlichen Gewaltverbrechens war.

Der Fernseher brummte weiter. Pats Augen waren auf den Bildschirm gerichtet, aber ihre Aufmerksamkeit war anderswo – bis jemand den Namen »Jonathan Reese« sagte und es bei ihr klick machte.

Sie scheuchte eine Katze weg, beugte sich vor und drehte die Lautstärke auf.

Der Polizeichef erinnerte die versammelten Nachrichtenteams daran, dass vor einigen Tagen ein Mann namens Jonathan Reese verschwunden war. Er war eines Abends aus dem Haus gegangen und nicht mehr zurückgekehrt. Und jetzt waren sein Hemd, sein Portemonnaie und seine Schuhe am Kanal gefunden worden.

Pat wusste, dass solch eine irrationale Ordentlichkeit oft als sicheres Anzeichen für den gestörten Geisteszustand eines Selbstmörders galt.

Aber Pat wusste auch, wer Jonathan Reese war. Wie hätte sie das auch vergessen können?

Nach einem Schnitt weg von der Pressekonferenz sprach nun ein gut gelaunter Fernsehreporter aus den Straßen von Bath in die Kameras und enthüllte, dass Mr Reese Gerüchten zufolge zu der Zeit seines Verschwindens unter erheblichem Stress gestanden habe. Angeblich habe sich der Konjunkturrückgang auf seinen Betrieb ausgewirkt, was auch immer das bedeutete. Ebenso wie das scheußliche Sommerwetter.

Zurück im Studio saß ein Nachrichtensprecher vor einer zackigen Grafik, die den Absturz der örtlichen Immobilienpreise darstellte.

Aber Pat wartete nicht, um zu sehen, wie viel weniger als letztes Jahr um diese Zeit ihr Wohnwagen vermutlich wert war. Sie suchte bereits nach ihrem Autoschlüssel.

Marys Haustür wurde von einem stark behaarten Mann in abgeschnittenen Jeans und einem Battlestar-Galactica-T-Shirt geöffnet.

»Du musst Stever sein«, sagte Pat.

»Der bin ich«, sagte Stever, grinste durch seinen Bart und zeigte dabei seine gesunden, weißen Zähne.

Pat blickte ihn finster an. Sie konnte nicht anders.

»Komm rein«, bat Stever, und sie folgte ihm bis ins Wohnzimmer, das trotz der aufziehenden Wolken und gelegentlichen Regenschauer von der Abendsonne noch hell erleuchtet war.

Stever zog sich auf’s Männerörtchen, wie er es nannte, zurück und erklärte vorher in quälender Ausführlichkeit, dass er nicht die Toilette meine, er müsse nicht Pipi machen oder Ähnliches. Das Männerörtchen war offenbar der kleine Abstellraum, in dem er seine DVD-Box-Sets, seinen Spielecomputer, seine DVDs und Comics aufbewahrte.

Er ging, ohne Pat zu fragen, ob sie ein Glas Wasser wolle – vermutlich war er zu nervös, um daran zu denken. Pat blieb eine Weile allein im Wohnzimmer und betrachtete ihr Spiegelbild im schwarzen Fernsehbildschirm.

Dann kam Mary herein, barfuß, in alten Jeans und einem weißen Spaghetti-Top. Als sie sich vorbeugte, um sich zu setzen, erhaschte Pat einen Blick auf eine blasse, sommersprossige, kleine Brust und verspürte ein merkwürdiges Mitgefühl.

»Also, worum geht’s?«, fragte Mary.

Pat konnte Marys Spiegelbild auf dem Fernseher sehen. Da saßen sie nun alle beide.

»Hat Kenny dir gegenüber jemals ein Mädchen erwähnt?«, fragte Pat.

»Ich weiß nicht. Was für ein Mädchen? Wann?«

»Callie? Caroline vielleicht?«

Mary wartete ein paar höfliche Sekunden ab. »Nein. Wieso?«

»Hat er von der Vergangenheit erzählt? Bevor er dich kennengelernt hat?«

»Kenny? Gott, nein. Er fand so was immer … respektlos. Als wir zusammen waren, leugnete er, jemals andere Frauen auch nur anzusehen.«

»Das sagen sie alle, Schätzchen.«

»Nicht wahr? Aber die Sache ist – bei Kenny habe ich es geglaubt. Wenn wir am Strand waren oder im Sommer im Park oder irgendwo, dann hab ich ein Spiel daraus gemacht, ich hab versucht, ihn zu erwischen. Alle Typen schauen doch Mädels hinterher, oder? Stever macht das die ganze Zeit. Es ist normal. Jetzt, nach all den Jahren, kenne ich seinen Typ …« Sie mimte ein Paar pralle Brüste und einen vollen Schmollmund.

»Dir macht das nichts aus?«

»Wenn sie ihn zweimal anschauen würden, würde er auf der Stelle Reißaus nehmen. Er müsste mich fragen, was er machen soll. Eigentlich ist das traurig.«

Pat grinste.

»Wieso? Hat Kenny sich in jemanden verliebt?«, fragte Mary.

»Ich glaube nicht, dass es das ist. Aber du kennst ihn besser als ich. Findest du nicht, dass er … anders ist?«

»Wie, anders?«

»Anders eben.«

»Ja, schon. Er ist unglücklich. Er ist aufgekratzt – als wäre er auf Speed. In seinen Augen ist ein Ausdruck, den ich noch nie gesehen habe. Weißt du, was ich meine? Als wäre er gerade mit etwas sehr Wichtigem beschäftigt.«

Pat kannte den Ausdruck: ein geheimnisvolles, raubtierhaftes Glimmen.

»Ist irgendwas passiert, wovon ich nichts weiß?«, fragte Mary.

»Hast du so ein Gefühl?«

»Ja, irgendwie schon.«

»Ich auch.«

»Also, was ist es? Was ist los?«

Pat sah ihr in die Augen. Mary hatte bestätigt, was sie wissen wollte. Aber Pat hatte nichts, was sie ihr dafür geben konnte, keine harten Fakten. Nur ein Gefühl.

»Ich weiß es nicht, Süße.«

Sie nahm Marys Hand und drückte sie. »Du musst das lieben, was du jetzt hast, nicht, was du früher hattest. Denn eines Tages ist alles Gute weg. Und dann ist nichts mehr übrig als die Krümel der Tage, die dir bleiben.« Sie drückte noch einmal bekräftigend Marys Hand, dann ließ sie sie los.

Sie hievte sich vom Sofa und stemmte sich dabei mit den Armen hoch. Sie verabschiedete sich von Mary, verließ das viktorianische Reihenhaus mit auffällig entschlossenen Schritten und ging mit vorgestrecktem Kinn zu ihrem kleinen Auto.

Mary stand am Fenster und sah ihr nach. Sie fragte sich, wohin Pat ging und was sie tun würde, wenn sie dort ankam.

Zuerst sah Mary nach den Kindern. Sie schliefen. Sie wurde von einer so heftigen Zärtlichkeit ergriffen, dass sie schon an Traurigkeit grenzte.

Dann ging sie aufs Männerörtchen. Ein gelbes Strahlenwarnzeichen hing an der Tür neben Kinderzeichnungen – Wallace und Gromit, Happy Feet, ein Pony mit einem Maschinengewehr.

Stever spielte World of Warcraft auf einem Spielecomputer, für den er so viel bezahlt hatte, wie ein anderer Mann vielleicht für einen ganz annehmbaren Gebrauchtwagen ausgegeben hätte. Stever fuhr noch immer den steinzeitlichen Corolla, der fünfzehn Jahre alt gewesen war, als Mary ihn kennenlernte. So viele Jahre später half immer noch nichts auf der Welt dagegen, dass das Auto ein bisschen wie saure Milch roch.

Mary setzte sich auf Stevers Schoß und küsste ihn. Sie fuhr ihm mit den Fingern durch die wilde Mähne, die dringend gekämmt werden musste, sie knabberte an seinen niedlichen kleinen Ohrläppchen, sie kniff ihn sanft in den Schritt.

»Ist denn heute Weihnachten?«, fragte er.

»Pat hat mir aufgetragen, das zu tun.«

»Pat hat dir aufgetragen, hier hochzukommen, mein Spiel zu unterbrechen und mich in die Eier zu kneifen?«

»So ungefähr.«

»Sie war mir gleich sympathisch«, sagte Stever, »auf den ersten Blick. Sie kann gerne wann immer wiederkommen.«

»Vielleicht ist es an der Zeit, den Computer auszuschalten«, sagte Mary.

Stever ließ die Maus los.