37
Kenny war im Atelier bei seinen Porträts von Jonathan – einer Serie hastiger Skizzen, hingeschmiert mit eifersüchtig-gelbem Ocker, Kohle, scharlachroten Spritzern. In chronologischer Reihenfolge ausgebreitet, ergaben sie eine Dokumentation seiner Erniedrigung von einem verängstigten Menschen zu einem mageren, verletzten, tierischen Etwas.
Kenny würde Jonathan nie aus dem hintersten Zimmer herauslassen, solange diese Skizzen existierten. Sie gaben Kenny Kraft.
Das Geräusch eines Autos in der Einfahrt riss ihn aus seinen Gedanken. Diesmal war es nicht Mary – er kannte den Klang ihres Motors ebenso genau wie den Rhythmus ihrer Schritte.
Er lief ans Fenster und sah Pats Peugeot die zerfurchte Zufahrt entlangholpern.
Kenny stürzte zurück ins Atelier und sprang dabei über Möbel. Er raffte die Skizzen von Jonathan zusammen und steckte sie in eine Plastikmappe, machte den Reißverschluss zu und lehnte sie im Atelier an die Wand. Dann rannte er ins hinterste Zimmer, wo Jonathan gefesselt auf dem Küchenstuhl saß.
Sein Kopf hing leblos herab, und Kenny hatte den Eindruck, er könnte tot sein. Er verspürte nichts als Erleichterung.
Aber dann öffnete Jonathan die Augen. Sein Gesicht war mit getrocknetem Blut verkrustet und seit einer Woche unrasiert.
Als er hörte, wie Pat in der Einfahrt die Autotür zuschlug, grinste Jonathan mit weißen, grausamen Zähnen und kreischte: »Hilfe!«
Kenny war wie erstarrt.
Er sah sich um.
Es klingelte zweimal.
»Ich bin hier drin!«, rief Jonathan.
Kenny machte die Tür des hintersten Zimmers zu und griff nach der Rolle Klebeband, die noch in der Ecke beim Fenster lag. Seine Finger tasteten nach dem Ende.
»Bitte!«, rief Jonathan. »Ich bin hier drin!«
Kennys Fingernägel fanden eine Ecke. Kratzten daran. Verloren sie. Fanden sie wieder.
Es klingelte noch einmal.
»Mein Name ist Jonathan Reese!«
Kennys Nägel erwischten das Ende des Klebebands. Er riss einen langen Streifen ab, sprang zu Jonathan hinüber und packte dessen Gesicht mit einem Zangengriff.
»Ich bin Jonathan Reese!«
Er presste Jonathans Kiefer zusammen, bis seine Lippen sich zu einem feuchten, burlesken Kuss schürzten.
Jonathan knurrte, schnappte nach Kennys Fingern, biss zu.
Es klingelte noch einmal. Dann begann Pat, gegen die Tür zu hämmern, ungeduldig, nach Polizistenmanier.
Kenny wand sich, strengte sich an, nicht vor Schmerz loszubrüllen, drehte die Hand, versuchte sie zu befreien. Jonathan biss fester zu.
Kenny stach ihm einen Finger ins Auge.
Jonathan öffnete den Mund, um aufzuschreien, und Kenny zog seine Hand zurück. Er packte Jonathan unterm Kiefer und presste ihm das Klebeband unsanft auf den Mund.
Jonathan versuchte, durch das Klebeband zu schreien. Er trommelte mit den Füßen auf die nackten Dielenbretter. Kenny gab ihm einen kräftigen Schubs, der Stuhl wankte, fiel um.
Jonathan lag benommen auf dem Rücken. Kenny trampelte ihm auf den Bauch.
Jonathan versuchte zu atmen. Konnte nicht. Er lag keuchend da, Blut umschäumte seine Lippen.
Kenny eilte in den Gang und schloss die Tür ab. »Komme schon!«
Er schnappte sich ein Küchenhandtuch, wickelte es sich um die blutende Hand, öffnete die Haustür.
Pat sah erst Kenny an und deutete dann auf seine Hand. »Was ist passiert?«
Er steckte die Hand unter die Achsel. »Hab sie in der Tür eingeklemmt.«
Pat trat ein.
»Geh durch ins Atelier. Fühl dich wie zu Hause. Ich muss mich kurz verarzten«, sagte Kenny.
Das Atelier war so weit vom hintersten Zimmer entfernt, wie es innerhalb des Cottages nur möglich war. Während Pat durchs Haus watschelte, eilte Kenny ins Bad, schloss die Tür hinter sich ab und öffnete das Medizinschränkchen. In einer Dose fand er ein paar Pflaster.
Er pickte bluttriefende Papierfetzen aus den Bisswunden in den mittleren Fingern seiner Hand. Blut und Plasma sickerten aus den ausgefransten Halbmonden, an denen man deutlich den Abdruck von Jonathans Zähnen erkennen konnte.
Er ließ kaltes Wasser über die Wunden laufen, dann klebte er mit den Zähnen und einer unruhigen Hand Pflaster darüber.
Dabei fiel sein Blick auf sein Spiegelbild im Medizinschränkchen. Er hielt einen Moment inne und starrte sich an.
Normalerweise wenn Kenny in den Spiegel sah, erkannte er sich. Aber diesen Mann erkannte er nicht mehr. Sein Haar stand in alle Richtungen ab. Er war unrasiert und blass. Seine Falten waren tiefer geworden. Seine Augen hatten sich verändert. Es war, als sähe jemand anders aus ihnen heraus. Er dachte an ein Gesicht, das in einem Wald verbrannte.
Er blinzelte träge wie eine Eidechse, die sich auf einem Felsen sonnt, und sah weg. Er schloss die Badezimmertür auf und ging hinaus, um Pat im Atelier Gesellschaft zu leisten.
Abendlicher Regen fiel auf das Glasdach. Pat betrachtete das Bild von Michelle. Kenny stellte sich neben sie.
»Und wer ist das?«, fragte sie.
»Ein Kunde. Du klingst ein wenig gereizt.«
»Mit ›Kunde‹ meinst du wohl die Mieze deines Kunden.«
»So sieht’s aus.«
»Warum bist du mir aus dem Weg gegangen?«
»Bin ich nicht.«
»Soll ich noch mal fragen? Ich bleib hier stehen und frage immer weiter. Mir wird so schnell nicht langweilig.«
»Ich war beschäftigt.«
»Womit?«
»Mit Sachen.«
»Mit so vielen Sachen, dass du nicht mal ans Telefon gehen kannst?«
Er sperrte den Kiefer auf, bewegte die Zunge im Mund, fand keine Worte.
Sie fragte: »Isst du genug?«
»Ja.«
»Du siehst übel aus. Was war das für ein Geschrei?«
»Was für ein Geschrei?«
»Ich hab Schreie gehört.«
»Wann?«
»Als ich geklingelt habe.«
»Ich hab mir den Finger verletzt. Vielleicht hab ich geschrien. Habe ich geschrien?«
»Jemand hat geschrien.«
»Na also.«
»Was geschieht da drüben?« Sie nickte zum hintersten Zimmer.
»Nichts. Wieso?«
»Weil du ständig hinschaust.«
»Wirklich?«
»Hast du irgendwelche Gäste, von denen ich nichts weiß? Findet hier eine Nazi-Orgie statt?«
»Ha! Nein, nein. Aber ich hab eine Ratte. Ich glaube, es ist eine Ratte.«
»Du solltest dir ’ne Katze anschaffen.«
»Na ja, das lohnt sich wohl nicht.«
»Also, wie hast du ihn umgebracht?«
In Kennys Kopf rauschte es, als raste ein Zug vorbei. Er lauschte und blinzelte.
»Ich bin noch nicht so alt, dass ich schon total verkalkt wäre. Wie hast du es gemacht?«, fragte Pat noch einmal.
Ein Teil von ihm – der alte Teil – wollte ihr die Wahrheit sagen: dass Jonathan Reese im hintersten Zimmer am Leben war.
Aber wozu sollte das gut sein? Pat würde die Polizei rufen. Sie würden Jonathan losschneiden, ihm Essen und Wasser geben, ihn freilassen.
Niemand würde je herausfinden, was mit Callie Barton geschehen war. Und Pat würde sehen, was für ein Monster Kenny geworden war, im Namen der wahren Liebe und der verflossenen Tage. Also fragte er: »Ist das wichtig?«
Sie sah nun an ihm vorbei, auf ihr gemeinsames Spiegelbild in den Fenstern des Ateliers. Sie lachte. »Du egoistisches kleines Arschloch.«
»Wie bitte?«
»Dieses Mädchen, Mary, sie liebt dich. Stever liebt dich. Sogar ihre verdammten Kinder lieben dich. Und was machst du? Du verrennst dich in irgendwas, was vor dreißig Jahren passiert ist und keinem Schwein mehr irgendwas bedeutet.«
»So ist das nicht.«
»Wie ist es dann?«
Einen Augenblick lang dachte Kenny, Pat würde ihn schlagen. Aber sie sagte nur: »Ich – ich kann mich kaum an meine Kindheit erinnern. Nicht wirklich. Wenn ich mir ein Foto von diesem kleinen Mädchen anschaue, das ich mal war, dann gibt es da keine Verbindung.« Sie sah noch immer zum Fenster hinaus. »Zeit vergeht. Sie vergeht einfach.« Dann drehte sie sich vom Fenster weg und fragte: »Was ist, wenn Jonathan Reese gar nicht getan hat, was du denkst?«
»Er hat es getan.«
»Aber was, wenn nicht?«
Er schwieg.
Pat sagte: »Wenn Mary und Stever jemals erfahren, was du getan hast, bringt es sie um.«
»Werden sie es erfahren?«
»Diese Entscheidung kannst du nicht mir überlassen. Mich geht das nichts an. Willst du Mary vor dieser Sache schützen?«
»Ja.«
»Gut. Ich auch. Deswegen bin ich hier. Um sie zu schützen. Hast du ein Testament gemacht?«
»Ja.«
»Wer bekommt das Haus?«
»Mary. Wirst du es ihr sagen?«
»Sag mal, hörst du mir überhaupt zu? Hältst du mich etwa für so eine miese Schlampe? Ich bin heute Abend nicht wegen dir hergekommen. Du bist mir nicht wichtig, nicht mehr. Mary ist mir wichtig. Weil sie das alles hier nicht verdient. Die Last dessen, was du getan hast. Sie verdient es nicht.«
»Ich weiß.«
»Sie darf es nie erfahren.«
»Dann sag es ihr nicht.«
»Das würde ich auch nie tun. Aber du musst dir nicht nur wegen mir Sorgen machen.«
Einen Augenblick lang glaubte Kenny, er würde in Ohnmacht fallen. »Was?«
»Da ist noch jemand.«
»Wer?«
»Ein Mann namens Paul Sugar.«
»Und wer zum Teufel ist das?«
»Der, den ich dafür bezahlt habe, Callie Barton zu finden.«
»Der Mann, den du was? Warum?«
»Ich wollte helfen, Kenny. Aber ich bin müde.«
Kenny schämte sich für seinen Wutausbruch, war aber zu erschöpft, um ihn zu unterdrücken. Er sackte in sich zusammen und fragte: »Wie viel weiß er?«
»Das kann ich nicht genau sagen – noch nicht. Aber ich bin sicher, dass er die Zeitung gelesen und dieselbe Verbindung hergestellt hat wie ich.«
»Wird er zur Polizei gehen?«
»Kenny, hast du jemals einen richtig habgierigen Menschen kennengelernt?«
»Ja.«
»Schön, dann verdopple seine Habgier und setz noch einen drauf. Dann hast du Paul Sugar. Bist du der Besitzer dieses Hauses?«
»Nein. Aber meine Lebensversicherung wird den Rest der Hypothek begleichen.«
»Und das Haus ist ein bisschen was wert?«
»Nicht so viel wie letztes Jahr. Worauf willst du hinaus?«
»Du musst ein neues Testament aufsetzen. Vererbe alles Paul Sugar.«
»Das kann ich nicht machen.«
»Doch, das kannst du. Jetzt gleich. Paul kennt nicht die ganze Geschichte. Kann gut sein, dass die ganze Geschichte ihn auch gar nicht interessiert. Ihn interessiert Geld. Wenn du ihm genug versprichst, wird er sich nicht weiter darum kümmern.«
»Das Haus bekommt Mary.«
»Das Haus ist der Preis, den Mary für deine Geheimnisse zahlen muss. Du musst mit deinem Notar reden.«
»Mein Gott.«
»Du solltest mit diesem Namen nicht zu leichtfertig umgehen. Nicht in deiner Situation.«
Er merkte, dass sie keine Witze machte. »Und was ist mit uns beiden?«, fragte er.
»Was soll ich sagen?«
»Dass du mir verzeihst?«
»Obwohl ich wegen dir nun Beihilfe zum Mord begangen habe? Ich glaube nicht.«
»Machst du’s?«
»Wenn ich ein bisschen besser darin wäre zu verzeihen, wäre ich als Hauptkommissarin in Rente gegangen. Und ich würde nicht in einem beschissenen Wohnwagen wohnen.«
»Bitte, Pat.«
Aber sie zog nur eine Grimasse, eine angewiderte Grimasse, und ging zur Tür.
Bevor sie dort ankam, drehte sie sich um und sagte: »Wegen dir bin ich jetzt in Schwierigkeiten, du selbstsüchtiger Scheißkerl.«
Kenny wartete, bis er das Geräusch ihres Motors hörte, bis die Räder sich auf der Kieseinfahrt entfernten. Er war hinter einem fremden Gesicht gefangen.
Als Pat fort war, ging er zu den Gartenhäuschen. Jetzt bei Sonnenuntergang lagen sie fast ganz im Dunkeln da.
Er leuchtete mit einer schwachen Taschenlampe umher, bis ihr Strahl auf ein 35-Liter-Fass ganz hinten in einer dunklen Ecke fiel. Er wischte die Spinnweben vom Fass, roch daran, dann hob er es hoch und ging damit zurück ins Haus.
Er nahm ein Bic-Feuerzeug aus der Küchenschublade und riss eine Seite aus der Gratiszeitung, die ungelesen auf dem Küchentisch lag. Er drehte sie zusammen, steckte sie sich dann in die hintere Hosentasche.
Er ging ins hinterste Zimmer.
Jonathan lag noch immer an den Stuhl gefesselt flach auf dem Rücken.
Kenny schraubte den Verschluss des Fasses auf und spritzte Benzin über Jonathans Gesicht, seinen Kopf und Oberkörper.
Dann holte er das Feuerzeug heraus. Seine Hand zitterte nicht.