Epilog

 

„Woher hast du es gewusst?“ Sebastian hockte auf einem Hocker im Gastraum der Bar, den Arm fest um Leonie geschlungen, die neben ihm sass, und genoss sein Bier. Die Schrammen hatte Timo, der sich den beiden gegenüber postiert hat, notdürftig versorgt.

„Das frage ich mich allerdings auch, meldete sich Angela zu Wort, die in Sorge um Sebastian mitten in der Nacht noch einmal von zuhause aufgebrochen und auf der Suche nach ihm auf ihren Mann und einen Pulk Rettungssanitäter und Polizisten getroffen war. Jetzt lehnt sie an der Bar und trank einen Frühstücks-Gin-Tonic.

„Na, ich habe unten am Berg gewartet. Aber ihr seid solange nicht runtergekommen, dass ich eben wieder rauf kam.“

Alle Blicke richteten sich auf Timo. Es war Sascha, der ihm antwortete. „Alter, obwohl ich nur am Rande dabei war, also genau genommen schlafend hinten im Lager, bis ihr mich durch euer Auftauchen gestört habt, wage ich zu behaupten, dass diese Frage nicht an dich gerichtet war.“

„Danke Sascha, das hast du korrekt erkannt.“ Dann wandte sich Sebastian an Leonie. „Woher hast du von Ambros Bein gewusst?“

„Ich war da.“ Alle sahen sie fragend an. „Damals im Krankenhaus, im Zimmer meines Vaters. Ich war da, als jemand in das Krankenzimmer kam. Ich habe die Spritze gesehen und was dann kam auch. Ich habe unter dem Fensterbrett gehockt. Deshalb sah ich nur die Füsse. Vor allem aber sah ich unter dem linken Hosenbein etwas aufblitzen. Damals konnte ich mir keinen Reim darauf machen. Erst heute begriff ich es. Ambros hat eine Beinprothese.“

„Und das war der entscheidende Hinweis, um ihn zu besiegen. Danke.“ Sebastian hauchte Leonie einen Kuss auf die Schläfe, bevor er im Singsang eines Minnesängers fortfuhr: „Nun sind Ambros und Alina im Gefängnis und Grächen ist wieder sicher, dank der Helden der Gegenwart. Grinsend sah Sebastian in die Runde. Dann wurde es für einen Augenblick ganz still. Jeder einzelne war dankbar, dass alle, die ihnen am Herzen lagen, mehr oder minder unbeschadet aus dieser Geschichte herausgekommen sind. Und jeder hoffte für sich, dass die Vergangenheit nun endlich ruhen konnte. Denn ab sofort sollte nur noch die Zukunft zählen.

Schliesslich war es Timo der der stillen Dankbarkeit ein Ende setzte. „Leute, ich werde jetzt gehen und eine Runde schlafen.“

 

Mit Leonie an der Hand trat Sebastian schliesslich vor die Tür der Bar. Dort stellte er sich ihr gegenüber.

Was denkst du, geschieht mit Alinas Tochter?“

„Wir werden sehen. Vielleicht unternimmt sie ihre geplante Weltreise. Das wäre wohl das Beste für sie.“

„Und was ist das Beste für dich?“ Leonie sah zu Sebastian auf.

„Interessant, dass du mir diese Frage stellst.“ Sebastian musste Lächeln, worauf sich sein Bluterguss am Kinn schmerzhaft meldete. „Ich weiss es noch nicht. Es ist einiges passiert, darüber muss ich erst mal nachdenken. Und wohin führt dich dein Weg?“

Wenn ich das nur wüsste.“ Sanft legte sie ihre Hand an seine Wange und blickte ihn zärtlich an. Er liess sich für einen kurzen Augenblick in ihren Augen versinken, bevor er ihre Hand von seiner Wange nahm und ihre Fingerspitzen küsste. Dann wandte er sich zum Gehen. Und sie hielt ihn nicht auf.

 

Spät abends, die Sonne hatte sich bereits wieder hinter den Horizont verzogen, erwachte Sebastian aus einem unruhigen Schlaf. Er drehte den Kopf ein wenig hin und her um seinen steifen Nacken etwas zu entspannen, ging zu seinem Schrank und holte eine grosse Reisetasche heraus. Er dachte kurz nach, dann stopfte er einige Sachen hinein. Schliesslich schulterte er seine Tasche und verliess das Haus.

 

Währenddessen sass Leonie in Angelas Küche und wartete ungeduldig, bis ihre Freundin aus dem Badezimmer kam. Als Angela dann endlich auftauchte, passte Leonie sie ab.

„Angela, hast du kurz Zeit?“

Der unsichere Unterton in Leonies Stimme liess Angela sofort besorgt aufhorchen. „Natürlich!“ Ohne Umschweife zog Angela Leonie ins Wohnzimmer und schloss die Tür hinter sich.

 

Knapp fünfzehn Minuten später trat Sebastian in die Bar. „Willst du das wirklich tun?“ Sascha stellte einige Gläser in den Korb und schob ihn dann in die Geschirrspülmaschine.

„Schätze schon.“ Sebastian stellte die Tasche neben sich und plauderte noch solange mit Sascha, bis die Bar öffnete. Womit er nicht gerechnet hatte, war Leonies Stimme vom Eingang her zu hören. Noch bevor sie in die Bar eintrat, rutscht er vom Hocker und stahl sich durch die Hintertür davon.

Aber er war nicht schnell genug. Leonie erhaschte eben noch einen Blick auf seinen Rücken und auf die grosse Reisetasche auf seiner Schulter. Plötzlich hatte sie einen Kloss im Hals, den sie nur mit Mühe hinunterschlucken konnte. Aber wieder tat sie nichts, um Sebastian aufzuhalten.

Am Busbahnhof stellte Sebastian die Tasche vor seine Füsse und wartete das nächste Postauto ab, das ins Tal fuhr. Das Postauto traf schliesslich ein, fuhr um die kleine Post herum und kam auf dem Platz zu stehen. Er warf die Tasche in den Bauch des gelben Busses und ging auf die vordere Tür zu.

Einen Fuss hatte er bereits in die Tür gesetzt, als er den Blick zum Abschied in Richtung des Dorfes hob und direkt in zwei traurige grüne Augen sah. Er wandte den Blick ab und wollte dem wartenden Fahrer das Geld geben. Da hielt er inne. Sich selbst verfluchend biss er auf die Unterlippe, zog das Geld zurück und trat noch einmal auf den Platz, die Tür des Postautos wie einen Rettungsanker festhaltend.

„Was glaubst du eigentlich, wo du hin willst?“

Weg. Hast du etwa was dagegen?

Sie öffnete den Mund und klappte ihn dann wieder zu.

„Verstehe.“ Er warf ihr noch einmal einen langen Blick zu, dann stieg er wieder in das Postauto ein und drückte dem ungeduldig auf dem Lenkrad herumtrommelnden Busfahrer das nötige Kleingeld in die Finger. Die Türen schlossen sich hinter ihm und der Bus setzte sich in Bewegung. Leonie blieb an der Haltestelle zurück. Dass sie nicht alleine war, hatte sie schon lange bemerkt.

Jetzt krochen ihre heimlichen Beobachter aus den schlechten Verstecken. „Es tut mir so leid.“ Angela schlang die Arme um ihre Freundin. „Allerdings hättest du die drei kleinen Wörtchen auch einfach sagen können. Das hätte bestimmt geholfen.“

Sascha pflichtete Angela mit heftigem Kopfnicken bei und legte tröstend seine Hand auf Leonies Schulter. „Oder du hättest ihn zumindest bitten können, zu bleiben“, mischte er sich dann eifrig ein.

„Nein. Ich habe nicht das Recht ihn zurückzuhalten. Für mich lagen alle Antworten, deren Suche mich rastlos umherirren liessen, hier in diesem Dorf. Ich kann zur Ruhe kommen. Für ihn ist ein lebenslanges Vertrauen in den Grundfesten erschüttert worden. Sein Zuhause ist ihm plötzlich fremd. Zuerst müssen die Säulen wieder zurechtgerückt werden – und alles meinetwegen. Wie kann ich da erwarten, dass er hier bleibt, bei mir?“

Das wäre doch ein Anfang gewesen.“

Alle drei fuhren gleichzeitig herum. Der Schreck wandelte sich umgehend in Erstaunen. Und bei sicher zwei der drei Anwesenden schlug die Gefühlslage in belustigte Rührung um. Als hätten sie es abgesprochen, traten Sascha und Angela einen Schritt zurück. Leonie beäugte die Gestalt im Licht der Strassenlaterne skeptisch. Lässig lehnte er an einem eiförmigen, weissen Auto.

Ist das mein…? Aber du bist in den Bus eingestiegen!

„Und einige Stationen weiter wieder ausgestiegen.“

„Aber… Mein Auto? Das gehört doch jetzt Pablo! Wie kommt es denn wieder hierher? Und deine grosse Tasche? Heillos durcheinander stand Leonie da und brachte keinen schlauen Satz auf die Reihe. Hilfesuchend sah sie sich nach den beiden anderen um. Grinsten sie etwa? Als sie sich wieder zu Sebastian drehte, umspielte auch seine Lippen ein Lächeln.

„Ach, ich hab ihm das Auto wieder abgeschwatzt.“ Er stiess sich von dem kleinen Gefährt ab und trat einen Schritt auf sie zu.

„Aber warum?“

„Weil du eines brauchst und bei dem Lohn, den du von Sascha, oder eher von mir, bekommst, und die Miete, die dir Angela für ihre Zweitwohnung abknöpft, muss dieses hier fürs Erste reichen.“

„Und deine grosse Tasche?“

Da sich mein Vater trotz aller Verletzungen nicht im Krankenhaus behandeln lässt, dachte ich, ich zieh wenigstens für eine Weile bei ihm ein.“ Sein Lächeln wurde immer breiter, während er die letzten Meter zu Leonie auch noch überbrückte.

Empört starrte Leonie ihn an. „Du hast gewusst, dass ich Abklärungen getroffen habe, um hier zu bleiben?“

„Was hast du denn erwartet? Angela konnte mich gar nicht schnell genug über deine Pläne informieren. Und Sascha hatte keine andere Wahl. Bei den Saisonarbeitern liess ich ihm freie Hand, aber Festanstellungen müssen schon mit dem Besitzer abgesprochen werden.“

Leonie wandte sich an die beiden Verräter. „Ihr habt mich verarscht! Das werdet ihr so was von büssen…“ Bevor sie weitere Drohungen ausstossen konnte, legte Sebastian fest den Arm um ihre Taille, drehte sie zu sich um und zog sie in seine Arme, ganz nahe an sich heran. Ein wohliger Schauer durchlief ihren Körper, als sie ihm etwas verstört in die Augen blickte, sein Gesicht direkt vor dem Ihrigen. „Warum willst, dass ich bei dir bleibe?“

In jeder Faser ihres Körpers begann es zu kribbeln. Unweigerlich verzogen sich ihre Mundwinkel zu einem Lächeln. „Weil ich mich in deinen Armen am wohlsten fühle.“

Weiterer Worte bedurfte es nicht mehr. Sein Atem streichelte ihre Lippen, als er seinen Mund näher an ihren brachte. Sie schlang ihren Arm fest um seinen Hals, ihre Finger glitten in sein Haar. Aber er liess sich nicht drängen. Spielerisch streifte er in einer federleichten Berührung mit seinen Lippen die Ihrigen. „Erinnere mich daran, Sascha zu sagen, dass die rothaarige Bardame eine gute Wahl war.“ Dann gab er ihrem sanften Drängen nach. In die warme Umarmung gehüllt, verloren sie sich nach wie vor lächelnd in einem leidenschaftlich berauschenden Kuss. Und da wusste sie es mit Sicherheit. Sie war Zuhause. Endlich.

 

Wenn die Wahrheit nicht ruht
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