2010

 

Auftrag eins war ausgeführt. Aber anstelle von Antworten schwirrten Timo nun nur noch mehr Fragen durch den Kopf. In der Hoffnung, schlauer zu werden, machte er sich auf, Aufgabe zwei zu erledigen.

Von der Leichenhalle wanderte er durch den Gang zurück zum Empfang. Er schob die Flügeltür einen Spalt auf und schlüpfte hindurch. Wie es schien, hatte sich Noëlia seit seiner Ankunft im Krankenhaus nicht vom Fleck bewegt.

Timo ging zum Lift und drückte den Knopf. Ein leises ‚Pling’ kündigte die Ankunft des Fahrstuhls an. Die silberne Tür glitt auf und Timo trat in die kleine Kabine ein. Kurz bevor die Tür wieder zuging, rief er: „Bin ab sofort offiziell im Dienst! Pieps mich an, wenn was ist.

Noëlia sah kurz von der Krankenakte in ihrer Hand auf und nickte. „Geht klar.

Hoffentlich kam in der nächsten Zeit kein Vorfall rein, denn von dort, wo er jetzt hinwollte, musste er sich ganz schön beeilen, um innert angemessener Frist bei den Einsatzfahrzeugen zu sein. Der Fahrstuhl fuhr nach unten, hielt mit einem leichten Ruck und gab Timo den Weg in einen noch dunkleren, unfreundlicheren Gang, als den zur Leichenhalle, frei. Hier hatte man sich nicht einmal mehr die Mühe gemacht, die Wände zu streichen. Der blanke Beton lud mit seinem tristen Grau nicht unbedingt zum Verweilen ein. Heute musste es aber sein.

Timo folgte dem Korridor, bis er eine einfache Tür erreichte. Er trat ein und fand sich in einem grosszügigen kahlen Raum mit unendlich vielen, beschrifteten Kisten wieder. Zwar war er selten hier unten, doch er wusste, wie die Ordnung aufgebaut war. Zielstrebig ging er zu dem gesuchten Buchstaben. Dort fand er nichts. Also suchte er nach dem gewünschten Jahr. Auch nichts. Das konnte nur eines bedeuten.

Zurück beim Fahrstuhl drückte er den Knopf für die oberen Etagen. Wieder landete er bei Noëlia. Diese wunderte sich langsam über Timos Liftfahrerei, sagte aber nichts. Sie freute sich, ihn öfter als sonst zu Gesicht zu bekommen. So nahe, wie sie ihm aber gleich kommen würde, davon hatte sie bisher nur träumen können.

„Darf ich deinen Computer benützen?“

„Sicher. Was brauchst du denn?“

„Du hast Zugriff auf die Archivakten, oder?“

„Auf die, die schon digitalisiert sind, ja.“ Noëlia setzte sich an ihren PC. Während Timo sich hinter sie stellte, eine Hand auf ihrer Stuhllehne, die andere auf den Schreibtisch gestützt, lugte er ihr über die Schulter.

Mit ein paar wenigen Klicks war sie im entsprechenden Programm. „Was suchst du denn?“

„Gib mal Ebner ein.“

Noëlia tat wie geheissen. Der Name ergab einige Treffer, was angesichts der vielen Ebners, die in der Schweiz lebten, nicht besonders hilfreich war. „Alles klar. Versuch mal Marc Ebner.“

Noëlias Finger flogen förmlich über die Tastatur.

„Das sieht doch schon viel besser aus.“

„Aber das ist eine Krankenakte aus dem Jahr 86. In Anbetracht der Aufbewahrungspflicht von zehn Jahren müsste diese Akte schon längst entsorgt sein, abgesehen davon, dass ein Dossier aus dem Jahre ’86 überhaupt nicht im Computer gespeichert sein sollte. Die Digitalisierung begann erst viel später. Das muss ein Systemfehler sein.“

„Ich hoffe nicht.“ Timo war klar gewesen, dass die Akte aufgrund ihres Alters möglicherweise nicht mehr existierte. Dennoch hoffte er, zumindest einen Anhaltspunkt finden zu können und das schien ihm gelungen zu sein.

Was willst du denn…“ Noëlia zögerte, sortierte ihre Gedanken neu und begann die Frage anders. „Wenn ich dich fragen würde, wer das ist und was du mit dieser alten Akte willst, bekäme ich eine Antwort?“

Ihre Ahnung bestätigte sich, denn Timo schüttelte den Kopf. Stattdessen zeigte er auf den Stuhl, auf dem sie sass. „Darf ich?“

Ohne Widerworte erhob sich Noelia und gab den Platz frei. „Wenn ich etwas tun kann, sags mir, ja?“

Ja. Danke.“ Seine Haltung zeigte deutlich, dass ihre Anwesenheit nicht mehr erforderlich war. Er antwortete, ohne den Bildschirm auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen.

 

„Sagen Sie, welchen Beschäftigungen gingen die drei Herren denn so nach?“ Leonie versuchte die Frage beiläufig klingen zu lassen. Der Versuch, ihre Aufregung zu unterdrücken, war nicht ganz so erfolgreich, wie gewünscht, denn die Nervosität schwappte spürbar zu Angela über, die sich bereitwillig anstecken liess.

Nur die Frau hinter dem Tresen bemerkte nichts davon. „Oh, das ist alles schon so lange her! Lasst mich mal überlegen. Am besten gehen wir der Reihe nach. Der Josef besass einige Grundstücke im und um den Ort. Auf dem einen oder anderen stand ein Hof, den er anderen zur Bewirtschaftung überliess. Aber es war wie verhext. Nie blieben die Pächter länger als drei Jahre. Wieso, weiss niemand so genau. Dabei waren die Gebäude immer so gut im Schuss! Was ja auch kein Wunder ist, war doch der Josef handwerklich wirklich geschickt! Sehen sie die Theke hier? Die hat er gemacht. Fast ein wenig stolz strich die Frau über das Barblatt.

„Machte er das nur zum Spass oder auch beruflich?“

„Nein, nein, ihm gehörte die Schreinerei. Das war ja gerade das Problem. Er stellte nämlich eine Frau ein. Da dauerte es natürlich nicht lange, bis die Gerüchteküche brodelte. Nachdem er verschwunden war, hiess es, er wäre mit ihr auf und davon. Die arme Marlene blieb mit gebrochenem Herzen zurück.

„Tatsächlich? Ganz schön schlimm.“ Daran war Leonie nicht wirklich interessiert, sie wollte aber auch nicht unhöflich wirken. „Und die anderen beiden?“

„Nun, der Moritz hatte eine eigene Treuhandgesellschaft und arbeitete in dieser Funktion auch in der Gemeindeverwaltung. Wenn’s um Zahlen ging, gab’s keinen besseren.“

„Wirklich?“ Diesmal war das Interesse nicht geheuchelt. „Und der Dritte?“

„Der Dritte im Bunde ist, nein, war der Hans Zumbrunn. Gott hab in selig.“ Den Blick zum Himmel gerichtet, bekreuzigte sich die Frau. „Er war zwar hart und streng, aber auch gerecht. Einen guten Mann hat sich der Herr da geholt.“

Leonie und Angela tauschten einen vielsagenden Blick. „Von ihm habe ich auch schon gehört. Natürlich nicht nur wegen den jüngsten Ereignissen. War er nicht der Gemeindepräsident?“

„Und ob! Aber er war noch viel mehr! Ihm gehörte diese Gaststube, mitsamt dem Rest des Hauses. Kontrolliert hatte er das Dorf ja immer schon, ihm entging nichts. Aber irgendwann liefen die Geschäfte so gut, dass ihm dann auch bald das halbe Dorf gehörte. Aber nur während ein paar Jahren. Dann wurde ihm alles zuviel und er verkaufte seine Liegenschaften wieder.“

Irgendwie ahnte Leonie, dass sie nicht fragen musste, in welchem Jahr die Geschäfte brummten. „Echt? Ist denn etwas Besonderes vorgefallen, dass die Geschäfte derart in die Gänge kamen?“

„Naja, Hans und die anderen zwei haben sich stark dafür eingesetzt, dass mehr Touristen nach Grächen kommen. Die hatten sich zwar einiges vorgenommen, aber es hat sich auf jeden Fall gelohnt. Wisst ihr, die Hannigalpbahn wurde schon im 58 gebaut. Aber natürlich sah die damals noch nicht so aus wie heute. Sie vermochte auch lange nicht so viele Leute zu transportieren. Also musste etwas her, das mit einem anständigen Ansturm klarkommen konnte. Das Ergebnis kennt ihr. Es hat zwar etwas gedauert, doch im 84 konnten sie sie dann endlich eröffnen.“

Angela japste hörbar nach Luft. Offensichtlich dachte sie dasselbe wie Leonie. Das war es also.

„Aber sag, mal, das ist doch alles überhaupt nicht interessant für ein junges Ding wie dich.“

Bevor die Lady nach dieser Feststellung nachhaken konnte, weshalb Leonie das alles wissen wollte, zog jene schnell das Portemonnaie hervor. „Angela! Ich hab völlig die Zeit vergessen! Wir müssen los! Wie viel schulde ich Ihnen?“ Leonie klatschte dreissig Franken auf die Theke, stand auf und zog die überrumpelte Angela mit sich.

„Mädchen, das ist zu viel, du bekommst noch was raus!“

„Nein, nein, ist schon gut. Schönen Tag noch und vielen lieben Dank für das nette Gespräch!“

Wenige Sekunden später fand sich Angela auf der Strasse wieder. „Was genau wird das?“

Unbeirrt zog Leonie sie weiter. „Erstens: Deine Schicht fängt bald an. Die Erklärung zu Zweitens erhältst du, sobald wir in der Bar sind.“

 

Die Flügeltür der Bar musste am heutigen Tag einiges aushalten. Bereits zum zweiten Mal flog sie mit derart viel Schwung auf, dass die Flügel erst krachend an der Wand landeten, bevor sie scheppernd zurückschnellten. Entsetzt schoss ein Kopf hinter einer der grossen Boxen in die Höhe. „Wer zum… Oh, ihr seid es! Sagt mal, wollt ihr mich umbringen?“ Sascha hielt inne und musterte die beiden Frauen, die wirkten, als hätten sie nicht erwartet, jemanden anzutreffen. „Ihr seht irgendwie gehetzt aus. Aber Leonie, du kommst gerade recht. Sebastian hätte heute Dienst, aber ich erreiche ihn nicht. Würdest du für ihn…“

Leonie fuhr ihm mitten im Satz dazwischen „…einspringen, wenn er nicht auftaucht? Klar, mach ich.“ Erneut packte Leonie Angela am Ärmel und zog sie mit sich.

„Hey, nicht so schnell!“

Beide blieben gleichzeitig in der Bewegung stehen, keine von beiden drehte sich um. „Ich hab die Kühltruhe umgeräumt.“

Unweigerlich zuckten beide Frauen zusammen. „Ja?“ Das war Angelas vorsichtige Reaktion.

„Ich hoffe, ihr kommt zurecht. Einige Dinge habe ich rausgenommen und in den Kühlschrank daneben geräumt. Seht’s euch an, wenn ihr was nicht findet, ruft mich.“

„Machen wir.“ Zum Glück konnte Sascha nicht sehen, welche Worte unausgesprochen, aber überdeutlich in der Luft hängen blieben: Wenn du den blauen Ordner nicht auch weggeräumt hast, kommen wir klar.

Und tatsächlich, Sascha hatte alles umgeräumt, nur die Desperados nicht. Erleichtert beugte sich Angela in die Kühltruhe, schob die Kartons beiseite, holte den Ordner heraus und reichte ihn Leonie.

„Jetzt bin ich aber gespannt.“

„Und ich erst.“ Leonie öffnete den Ordner und blätterte zu den gleichen Seiten, wie bereits am Vorabend. „Gut, Buchstaben ausmachen kann man nicht wirklich, aber ich bin mir ganz sicher, dass ich Recht habe.“

Womit?“

„Okay, halt dich fest.“

Obwohl die beiden Frauen auf dem Boden vor der Kühltruhe sassen, entsprechend also nicht gefährdet waren, umgehauen zu werden, griff Angela instinktiv nach dem erstbesten Gegenstand. Es stellte sich heraus, dass eine Rivella-Flasche den Kopf, respektive den Hals hinhalten musste.

Gestern fanden wir heraus, dass völlig überteuerte Rechnungen von ganz unterschiedlichen Unternehmen brav quittiert wurden, aber egal, wie vielfältig die Firmen auch waren, alles in allem unterzeichneten immer abwechslungsweise dieselben drei Personen. Richtig?“

„Richtig.“

„Gut. Und jetzt kommt’s: Ich bin überzeugt davon, dass es sich bei diesen Personen um Josef Gasser, Moritz Amstutz und Hans Zumbrunn handelt.“

Angela blieb die Luft weg.

„Wenn dich das schon zum Ersticken bringt, was tust du, wenn ich weiter erzähle?“

„Das wirst du herausfinden müssen. Erzähl!“

„Auf deine Verantwortung. Heute Morgen habe ich das hier wieder gefunden. Erinnerst du dich?“ Leonie drückte Angela die Notiz in die Hand. Angela las laut vor: „Anrufer unbekannt, Bücher Hannigalpbahn, umhören!“ Angela sah auf. „Kommt mir sehr bekannt vor. Ich verstehe es aber immer noch nicht.“

Ich schon. Dieser Zettel war bei den Dokumenten, die die Vermieterin nach dem Tod meines Vaters gefunden hatte. Meine Grossmutter erzählte mir vor langer Zeit einmal, dass mein Vater als Wirtschaftsprüfer bei der Steuerverwaltung tätig gewesen war. Daher war mir zwar klar, dass die Dokumente in der Kiste aus Vaters Büro stammten, aber mir war nicht klar, was das bedeutete. Bis ich diesen Zettel wiederfand.“

Den Blick auf die Notiz in Leonies Hand gerichtet, legte Angela kurz die Stirn in Falten, dann glätteten sie sich plötzlich und ihre Augen wurden gross. „Wirtschaftsprüfer bei der Steuerverwaltung? Du denkst, jemand hat die Steuerverwaltung anonym angerufen und einen Tipp platziert der im Zusammenhang mit der Hannigalpbahn steht. Da man nicht wissen kann, wie ernst solche Anrufe zu nehmen sind, erhielt dein Vater den Auftrag sich während seines Familienurlaubs etwas umzuhören.“

„Zu diesem Schluss kam ich auch, ja. Und möglicherweise hat er sich zu deutlich umgehört oder schon geahnt, dass etwas an dem anonymen Tipp dran war, so dass er ein Risiko wurde und aus dem Weg geräumt werden musste.“

Auf einmal hatte Angela einen dicken Kloss im Hals. Sie musste mehrmals schlucken, um ihn zurückzuzwingen. „Das ist schrecklich und unaussprechlich unfair. Aber absolut möglich.“

„Vor allem ist es noch nicht alles. Internet und Telefon sei dank, habe ich noch mehr herausgefunden.“ Leonie atmete einmal tief und schwer ein, um die kalte Klaue, die ihr Herz umklammerte, zu vertreiben. „Fassen wir doch noch einmal zusammen. Wir haben drei verschiedene Szenarien. Szenario eins: In unseren Händen halten wir einen Ordner, der unzählige Rechnungen beinhaltet, von vielen verschiedenen Firmen. Quittiert wurden die Rechnungen aber allesamt von drei sich wiederholenden Unterschriften. Von Sebastian wissen wir, dass so manche hier in Rechnung gestellten Arbeiten nie ausgeführt wurden, wohingegen die Kellnerin in Zumbrunns Wirtshaus von einigen Neuerungen schwärmt. Ein paar Rechnungen scheinen also echt zu sein, während andere gefälscht sind. Eines haben aber alle gemeinsam: Die Gesamtbeträge sind vollkommen unrealistisch und absolut überrissen.“ Leonie machte einige Atemzüge Pause, bevor sie fortfuhr. „Szenario zwei: Drei Männer. Innert drei Jahren verschwinden zwei davon. Der eine spurlos, der andere hinterlässt eine blutige Sauerei. Fast zwanzig Jahre später taucht der eine, zusammen mit einer zweiten Leiche wieder auf, erstochen, vom Gletscher freigelegt. Aber als wäre damit irgendein Gleichgewicht ins Wanken geraten, stirbt der Dritte, nachdem der Zweite wieder aufgetaucht ist.“

„Szenario drei“, konzentriert nahm Angela Leonies Faden auf, „ein Mann aus dem Unterland, seines Zeichens Wirtschaftsprüfer bei der Steuerverwaltung, erhält einen anonymen Tipp, will mehr wissen, verbindet diese Nachforschungen mit einer netten Ferienreise, wird auf der Piste angefahren und endet in einer Holzkiste.“ Sofort bereute Angela ihre unbedachte Wortwahl, doch Leonie schien sich nicht daran zu stören.

„Stimmt.“ Als wollte sie die Denkfalten glätten, rieb sie sich mit dem Zeigefinger über die Stirn. „Und die Verbindung zwischen den Strängen sind zum einen diese geheimnisvollen Bücher aus der Notiz meines Vaters und zum anderen das offensichtliche Interesse an einer stark verbesserten Hannigalpbahn.“

Du meinst, das Wort Bücher ist nicht im literarischen Sinn zu verstehen?“

Leonie deutete mit dem Kopf ein Nein an.

„Die Hannigalpbahn ist eine Bergbahn. Hinter einer Bergbahn steht meist eine Aktiengesellschaft. Eine Aktiengesellschaft braucht eine Revisionsstelle und einen Direktor.“

„Darf ich raten?“

„Nur zu.“

„Direktor: Hans Zumbrunn, Revisionsstelle: Moritz Amstutz. Aber was ist mit Josef?“

„Das habe ich mich auch gefragt, bis Zumbrunns Wirtin heute erzählte, wie viel Grund und Boden Josef besass.

„Du denkst also, der Boden auf dem die Bahn steht…

„…gehörte Josef Gasser.“

„Das ist ja ein dicker Hund! Aber diese Tatsache alleine ruft noch keinen Wirtschaftsprüfer auf den Plan.“

„Nein, tut sie nicht. Aber wenn jemand ausplaudert, dass mit den Büchern, also der Buchhaltung, der Bergbahn Schabernack getrieben wird, wird die Steuerverwaltung hellhörig. Wenn die drei Männer im Zusammenhang mit der Hannigalpbahn dasselbe Zahlenspiel spielten, wie wir es aus diesem Ordner kennen, dann war das ein ziemlich einträgliches Geschäft. Stell dir vor, wie hoch die korrekten Rechnungen für ein Unternehmen dieser Dimension ausfallen und wie viel man entsprechend in die eigenen Taschen wirtschaften kann, wenn man diese Beträge ein bisschen anpasst? Die Hannigalpbahn war ihr Goldesel und sie sollte erst der Anfang sein. Denn wie wir von der Dame aus Zumbrunns Wirtschaft wissen, wollten die Herren das Skigebiet noch erweitern. Ich nehme an, um noch mehr in ihre eigenen Taschen zu streichen. Nur wuchs ihnen das ganze Unternehmen über den Kopf, bis es sie den Kopf kostete.“

Das war zuviel. Leonie fürchtete, die Rivella-Flasche würde der Tortur nicht weiter standhalten. Sorgfältig löste sie sie aus Angelas verkrampften Fingern.

Diese gerissenen Hunde! Die haben sich ihre eigene kleine Marktwirtschaft erschaffen! Die haben sich untereinander reale Rechnungen von fiktiven Geschäften gestellt, ausgeführt von erfundenen Firmen. Oder echte Geschäfte, echte Ware und Dienstleistungen, für unrealistisch hohe Preise. Im Zusammenhang mit der Hannigalpbahn haben sie auch bestimmt bestehende Rechnungen vorab bezahlt, dann die Rechnung gefälscht und den falschen Betrag erst dann vom Konto der Bergbahnen abgebucht.“ Angela brach ab.

„Das wäre durchaus möglich. Das würde aber einen Verbündeten in der Bank voraussetzen.“

Langsam drehte Angela ihren Kopf zu Leonie. Fassungslos sah sie sie an. „Jan arbeitet auf der Bank.“

„Jan?“

„Der Ehemann von Alina und Handlanger von Hans Zumbrunn.“

„Na, das passt ja.“

„Allerdings.“ Abwesend tastete sich Angela vor, bis sie den vertrauten Hals ihres Rivellas wieder unter den Fingern spürte. Sie drehte den Deckel auf und trank einen Schluck. „Dennoch bleibt eine Frage offen: Wer hat deinen Vater angerufen? Jemand muss etwas bemerkt haben!“

Sieht so aus. Nur warum hat sich dieser Jemand am Ende dann doch von der Aufdeckung dieser brisanten Sache abhalten lassen?“

„Dein Vater kam um. Das könnte abschreckend gewirkt haben.“

„Soweit ich das sehe, wusste niemand von der zweiten Aufgabe meines Vaters. Er war nur ein Mann, der einen tragischen Unfall hatte.“

„Okay. Aber wenn es niemand rausfand, wer soll dann angerufen haben?“

„Wie wäre es mit dem, der zuerst starb?“ Erschrocken fuhren beide Frauen derart zusammen, dass Leonie der Ordner von den Knien rutschte. Die Köpfe schossen gleichzeitig in die Höhe, während sie mit wild hämmerndem Herzen, gleichermassen ertappt, wie auch verängstigt, zur Tür starrten. Der Körper zu der Stimme blieb im Schatten verborgen, dennoch wusste Angela, wer dort stand. Sie schluckte schwer und rief: „Josef?“

Leonie spürte, wie ihr alles Blut aus dem Gesicht wich. Im Gegensatz zu Angela konnte sie die Stimme nicht zuordnen.

„Droht man, die Sache ans Licht kommen zu lassen, könnte es sein, dass man im Dunkeln verschwindet. Manchmal gibt es aber Fälle, in denen die Toten nicht gut genug begraben wurden.“

Eigentlich wollte sie nicht nach Luft schnappen, aber ihr Körper gehorchte ihr nicht, was sogleich alle Aufmerksamkeit auf sie lenkte. Vor allem seine.

„Deine Freundin wirkt, als hätte sie einen Geist gesehen.

Angela hatte sich derart in ihren Gedanken verloren, dass sie Leonies Zustand nicht bemerkt hatte. Bis jetzt. Ihrer Kehle entfuhr ein seltsamer Laut.

„Nun, der Gedanke ist nicht ganz von der Hand zu weisen.“ Angelas Tonfall hatte fast etwas Tadelndes.

Die Gestalt schwieg. Etwas blitzte kurz in der Dunkelheit auf. War das Metall? Dann ertönte ein bleiernes Geräusch, scharf sog die Person den Atem ein. Das Schweigen schien ewig anzudauern, doch dann ertönte ein Glucksen aus dem Schatten. Lachte er etwa? Der Gedanke verflog so schnell, wie er gekommen war, als sich eine Schuhspitze in den schmalen Lichtstreifen schob, der von draussen herein drang. Dann folgte der Rest des Körpers. Im ersten Augenblick reagierte Leonie überhaupt nicht. Dann schlug sie nach der Hand, die ihr angeboten wurde.

„Du, ihr…“ Der Satz endete in einer Art Löwengebrüll. Während Sebastian den kleinen unerwarteten Scherz sichtlich genoss, versuchte Angela ihre sich kräuselnden Lippen hinter einer anklagenden Fassade zu verstecken.

„Na kommt schon, die Bar wartet.“ Mit diesen Worten stapfte Leonie ohne einen weiteren Kommentar davon. Sie wollte die beiden nicht auch noch zu Sprüchen ermutigen, indem sie das kleine Spielchen kommentierte. Es würde auch so noch genügend darüber gescherzt werden.

„Hey Leonie! Sei doch nicht so! Das war echt keine Absicht. Ich hab zuerst gar nicht kapiert, dass ihr mich in dem Gegenlicht nicht sehen könnt! Der Auftritt war nicht geplant, wirklich nicht!“ Aber sie drehte sich nicht mehr um. Stattdessen trat Angela an Sebastians Seite.

„Wie lange hast du denn schon in der Tür gestanden?“

„Lange genug, um euren kleinen Wirtschaftskrimi mitanzuhören.“

„Ja, aber Wirtschaft ist ziemlich langweilig“, ertönte eine weitere Stimme.

Jetzt war es an Sebastian erschrocken zurückzuweichen.

„Oh, hab ich euch erschreckt? Tut mir leid!“ Sören, der aufs Geratewohl den Stimmen gefolgt war, nachdem er den vorderen Bereich der Bar leer vorgefunden hatte, lehnte sich lässig an die Wand.

„Geschieht den beiden ganz recht, grummelte Leonie etwas weiter entfernt, woraufhin Angela ihr die Zunge rausstreckte.

„Sehr erwachsen. Nein, ich meine das ernst. Der Betrug in Ehren, aber der ist doch längst verjährt. Nach alledem ist eine ganz andere Frage weit mehr in den Vordergrund gerückt.“

„Die wäre?“ Neugierig sah Angela auf.

„Wer hat Leonies Vater getötet und jetzt auch noch Hans Zumbrunn?“ Als wäre das eintretende Schweigen nicht unheimlich genug, wurde ein unangenehmes Gefühl, beobachtet zu werden, durch das Halbdunkel noch verstärkt. Alle wirkten bemüht, dem Drang zu widerstehen, sich nach Augen umzusehen, die auf ihren Rücken zu ruhen schienen.

„Wer immer es war, er ist noch da.“ Sebastian schaute Leonie mit offener Besorgnis in die grünen Augen. An ihrem Gesichtsausdruck konnte er deutlich erkennen, dass sie an dasselbe Erlebnis im Wald dachte wie er. Stumm, aber alarmiert standen die beiden anderen daneben. „Und er ist noch nicht fertig. Leonie versuchte ihre trockene Kehle zu befeuchten, doch sie schluckte leer. „Jetzt will er mich.“

 

 

Wenn die Wahrheit nicht ruht
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