2010
Den nächsten Tag verbrachte Leonie genauso, wie sie den vorherigen beendet hatte. Liegend, auf dem weichen Sofa von Sebastians Vater. Hätte man sie nicht mit vereinten Kräften gezwungen, sich einen Moment der Ruhe zu gönnen, wäre es ihr peinlich gewesen, die Gastfreundschaft von Sebastians Vater auf solch plumpe Weise auszunutzen. Doch als sie die Augen geöffnet hatte und aufstehen wollte, hatten bereits beide Männer über ihr gestanden und auf sie eingeredet. Ob sie wollte oder nicht, sie kam nicht weg, die beiden Hähne wachten über das einzige Huhn im Stall.
Als Leonie das nächste Mal die Augen öffnete, musste sie mit Erstaunen feststellen, dass es draussen bereits wieder dunkel geworden war. Sie hatte den ganzen Tag verschlafen und ja, es hatte gut getan.
Erneut wagte sie den Versuch, sich aufzusetzen. Ganz vorsichtig streckte sie erst den einen Fuss unter der Decke hervor, dann den anderen. Als sie den Boden berührte, wartete sie einen Augenblick ab, doch keiner der beiden kam hervorgeprescht, um sie wieder zurück auf die Couch zu nötigen. Im Gegenteil, eine ihrer Wachen war bereits im Raum anwesend und brachte mit scheinbarer Leichtigkeit ein neues angenehm warmes Feuerchen zum Lodern. Im Kamin wie auch in ihrem Bauch, was Leonie mit einem Anflug von Ärger zu ignorieren versuchte.
Zufrieden mit seinem Werk zog Sebastian das Gitter vor dem Feuer zu und drehte sich um. „Na, sieh mal einer an. Gut geschlafen?“ Ein schelmisches Grinsen umspielte seine Lippen.
„Haha. Ist ja gut, ihr hattet Recht, mich nicht aufstehen zu lassen. Aber jetzt darf ich doch, oder?“
„Klar. Du darfst sogar ins Bad. Paps ist dabei etwas zum Abendessen zuzubereiten. Ich hoffe, du magst Fondue, er kann nämlich nichts anderes.“
„Fondue ist gut. Meinst du, es reicht noch für eine Dusche?“
„Ich denke schon. Nur wird wohl die Wäsche, die ich dir zum Wechseln anbieten kann, nicht sonderlich weiblich ausfallen. Genauso wie das Shampoo. Aber es steht dir offen, alles zu gebrauchen, was du benötigst und findest.“
Sie legte ihren Kopf schief und sah ihn an, wie er so dastand, mit den Händen in seiner Jeans, die Schultern etwas angezogen, als wäre er ein wenig verlegen, dahinter das warme Licht des knisternden Feuers, das in einem Spiel von Schatten und Licht durch sein wirres Haar tanzte und seine grünen Punkte in den Augen zum Springen brachte. Wieder meldete sich das warme Gefühl in ihrem Bauch. Aber diesmal schob sie es nicht beiseite. Wie sollte sie auch? Er, wie auch sein Vater, hatten sich rührend um sie gekümmert, dazu kamen noch die Umgebung mit dem Schnee draussen, das Holzhaus mitten im Wald, im Kamin das prasselnde Feuer und das Scheppern in der Küche. Ignorierte man die Umstände, wäre es das perfekte Idyll. Wie könnte sie also nicht eine warme, dankbare Zuneigung zu ihren beiden Helfern empfinden? Leonie begann zu lächeln und erhob sich etwas ungelenk vom Sofa, woraufhin Sebastian neben sie trat um sie zu stützen.
„Alles okay?“
„Nun, es geht. Ich habe das Gefühl, mein gesamter Brustbereich schmerzt, als hätte mich ein Bus gerammt.“
„Naja, du bist da drunter auch ziemlich blau.“ Sebastian zeigte auf ihren Pullover.
„Moment mal. Woher weisst du das?“
„Blöde Frage. Ich habe nachgesehen.“ Mit einem leichten Schubs liess er sie los und schob sie schleunigst um das Sofa herum Richtung Treppe, die in das obere Stockwerk führte. „Das Badezimmer ist auf der linken Seite.“
Sie schnappte noch zweimal nach Luft, es wollte ihr aber kein passender Spruch über die Lippen kommen. Also gab sie auf und wandte sich ab.
Unter der Dusche hatte sie feststellen müssen, dass Sebastian recht gehabt hatte. Ihr ganzer Körper war mit blauen Flecken übersäht. Abgesehen von diesem Handicap hatte das heisse Wasser allerdings ihre Lebensgeister wieder in Schwung gebracht. Sie sass nun, ein Bein untergeschlagen, an dem massiven Eichentisch in dem heimeligen Essbereich, der fliessend in die grosszügige Küche überging und versuchte irgendwie mit den Ärmeln des viel zu grossen, typischerweise karierten Holzfällerhemds, klar zu kommen, ohne das ganze Gedeck vom Tisch zu fegen. Schliesslich gab sie es auf, verschränkte die Arme und war dankbar, dass sie wenigstens ihre eigene Jeans tragen konnte.
Leonie staunte nicht schlecht, als sie erfuhr, dass Heinz das gesamte Haus und seine Innenausstattung selbst entworfen und umgesetzt hatte, doch für den Ausblick durch die breite Fensterfront über der Arbeitsplatte der Küche hatte sie zurzeit nicht sehr viel übrig. Denn vor ihr auf dem Tisch wurde das dampfende Käsefondue abgesetzt. Kaum hatte sich auch Heinz an den Tisch gesetzt, rührten auch schon alle gleichzeitig mit Begeisterung in dem Käse herum, immer darauf bedacht, dem anderen das Brot von der Gabel zu stechen oder die Knoblauchzehen herauszufischen. Als glorreicher Sieger ging Heinz aus dem Kampf hervor, weshalb Leonie und Sebastian sich um den Abwasch kümmern mussten, was dank der Geschirrspülmaschine schnell erledigt war. Und als hätten sie sich abgesprochen, nahmen anschliessend alle im Wohnzimmer Platz, um endlich zu klären, weshalb Leonie ursprünglich gekommen war. Doch das Gespräch schien keine neuen Erkenntnisse zu bringen.
„Nachdem mich Sebastian über deine Geschichte unterrichtet hatte, habe ich in meiner Erinnerung herumgewühlt. Um meinem Gedächtnis etwas auf die Sprünge zu helfen, habe ich auch noch meine alten Unterlagen hervorgekramt. Viel kam dabei aber leider nicht heraus.“
„Du musst wissen, Paps hat im Keller eine ansehnliche Sammlung alter Papiere, Fotos, Zeitungsartikel und so weiter. Er hält nichts davon, Dinge zu entsorgen“, wandte sich Sebastian augenzwinkernd an Leonie.
Heinz ignorierte den Kommentar und fuhr fort. „Tatsächlich hatte ich damals gerade Dienst, aber da mein Skilift erst hinter einem weiteren Hügel lag, habe ich nichts gesehen. Ich habe erst von dem Vorfall erfahren, als ich von oben angefunkt wurde. Beinahe gleichzeitig war auch ein aufgebrachter Skifahrer hilfesuchend an mich herangetreten.“
„Ach, tatsächlich?“ Erwartungsvoll beugte sich Leonie ein Stück vor.
„Ja. Genauso hat die Polizei auch reagiert. Mach dir aber keine Hoffnungen. Der Mann fragte nur nach einem Pflaster, weil er sich an der Kante des Skibillets geschnitten hatte und sein Ärger rührte daher, dass er seine Skijacke vollgeblutet hatte. Er ist zudem den ganzen Tag mit seiner Frau unterwegs gewesen, welche glaubwürdig versicherte, sie wären erst zu der Unfallstelle dazugestossen, als es schon passiert war. Ausserdem stellte sie klar, ihren Mann nie aus den Augen verloren zu haben und immer mit ihm zusammen gefahren zu sein. Man konnte ihm nichts Gegenteiliges nachweisen.“
„Gut für die Frau, schade für mich.“
„Abgesehen davon stiess ich noch auf die Beschreibung des Skianzuges des Unbekannten, die die Polizei anhand der Aussage deiner Mutter“, er nickte Leonie zu, “herausgegeben hatte. Die Beschreibung stimmte nicht mit dem überein, was der Schnittwunden-Mann trug. Mehr konnte man dann auch nicht herausfinden, weil eben diese Art von Skianzug, die der Täter getragen hat, damals topmodern war.“
„Wie sah er denn aus?“
„Nun, es soll ein hellgrauer Einteiler gewesen sein, mit blauen, dreieckigen Einsätzen links und rechts auf Beckenhöhe. Erstaunlich, dass deine Mutter sich so genau erinnern konnte.“
Leonie zog spöttisch eine Augenbraue nach oben. „Tja, sie hat nicht viele Talente, aber bei allem was mit Mode und Aussehen zu tun hat, ist sie unschlagbar, egal in welcher Situation. Was er sonst noch angehabt hatte, wurde nicht erwähnt? Wäre zwar auch egal, das könnte ich meine Mutter bei Gelegenheit fragen.“
„Ich glaube, das wird nicht nötig sein. Der Rest war genauso alltäglich. Schwarze Handschuhe, schwarze Mütze, grosse Skibrille.“
Sebastian, der sich nicht erklären konnte, weshalb ihm der Skianzug auf einmal so klar vor Augen stand, schob das Bild ungeduldig beiseite. „Paps, mussten eigentlich nicht alle Fahrer an dir vorbei? Unterhalb deines Skilifts war ja nichts mehr präpariert.“
„Theoretisch schon. Doch bedenke, der Typ hatte einen Mann umfahren können, ohne selbst zu stürzen. Entweder hatte er grosses Glück gehabt oder er war ein begnadeter Skifahrer gewesen. Wenn letzteres zutrifft, ist er wahrscheinlich querfeldein abgehauen.“
„Das würde heissen, ihm war das Skigebiet bekannt. Er wusste, wo er mit Zeugen zu rechnen hatte und er wusste, wie er sich unbeschadet abseits der Pisten aus dem Staub machen konnte.“
„Wie war es denn mit Spuren im Schnee? Abseits fahren doch nicht derart viele, derart weit, dass man keine Spuren mehr findet?“ Leonies Einwand war berechtigt, aber Heinz nahm ihr mit einem einfachen Kopfschütteln die ganze Hoffnung.
„Leider gibt es mehr von diesen Idioten als nötig. Es stimmt, einigen Spuren ging man nach, jedoch ergebnislos. Denn früher oder später verliefen sie sich zwischen den Bäumen, verschwanden unter kleineren Schneebrettern oder die immer wieder einsetzenden Schneefälle in den darauffolgenden Nächten verwischten sie.“
„Na gut. Aber irgendetwas ging hier vor. Mein Vater wurde absichtlich angefahren. Ich glaube, er war einer Sache auf der Spur, deren Aufdeckung jemand verhindern wollte.“
„Das sind aber schwerwiegende Vorwürfe.“ Mit grossen Augen genehmigte sich Heinz einen Schluck seines Selbstgebrannten, während Sebastian neugierig nachhakte. „Wie kommst du darauf?“
Leonie schilderte, wie sie und ihre Mutter die Kisten von dem alten Hof ihrer Grosseltern geholt hatten und sie schliesslich auf die Notiz gestossen war. Dann erzählte sie auch noch von der alten Frau, die in der Bäckerei die seltsame Warnung ausgestossen hatte und schliesslich erwähnte sie, wie viele Menschen ausgerechnet in jenem Zeitraum verschwunden waren. Obwohl sie bei Letzterem zugegebenermassen den Zusammenhang zu dem, was ihrem Vater zugestossen war, nicht herstellen konnte.
Inzwischen war Sebastian aufgestanden. Unruhig ging er im Raum auf und ab, bis er an ein Sideboard gestützt stehen blieb und den Blick nachdenklich darüber schweifen liess. Viele Andenken aus seinen Kindertagen reihten sich hübsch eingerahmt nebeneinander. Er konnte sich an vieles, was dort abgebildet war, kaum erinnern. Doch einiges war ihm geblieben. So zum Beispiel der Ausflug in die Beatushöhlen, der mit einem Schnappschuss festgehalten wurde, auf dem er seiner Mutter auf den Knien sass, neben ihm ein kleiner Hund, der neugierig an seiner Hand schnupperte. Oder das Bild, auf dem eines der vielen Male verewigt worden war, an denen Sebastian seinen Vater bei der Arbeit besuchte. Keck sass er mit einer riesigen Sonnenbrille, in einen schrecklichen Pullover gekleidet, vor dem Häuschen neben dem Skilift und grinste in die Kamera. Er schnaubte bei der Erinnerung, wie schrecklich die Mode damals gewesen war. Dann blieb sein Blick an einem Bild hängen, das den kleinen, über beide Ohren strahlenden Sebastian auf einem grossen, grünen Spielzeugtraktor zeigte. Das war ein Augenblick gewesen, der sich in Sebastians Gehirn unwiderruflich eingebrannt hatte.
Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen nahm er das Foto in die Hand, um es genauer betrachten zu können. Es war an seinem vierten Geburtstag gewesen. Der Schnee hatte sich hartnäckig bis weit in den Frühling gehalten, was auch der Grund dafür war, dass er im Skianzug auf dem grünen Gefährt sass. Sebastian hatte sich immer genau einen solchen Traktor gewünscht, doch leider vergeblich. Jedes Jahr hiess es aufs Neue, das Geld wäre zu knapp. Aber dann wurde auf einmal alles anders. Der Hof erhielt einige Neuerungen, Mutter bekam die neue Küche und Sebastian endlich seinen Traktor. Natürlich hatte er den neuen Wohlstand ohne zu fragen akzeptiert und die darauf folgenden Geschenke genossen. Heute war er erwachsen, aber bis zu diesem Datum hatte er sich dennoch nie gefragt, woher das Geld auf einmal gekommen war.
Falscher Zeitpunkt, schalt er sich selbst und riss sich aus seinen Grübeleien. Ein seltsames Gefühl blieb aber. Er musste seinen Vater unbedingt einmal danach fragen. Aber nicht heute. Entschlossen wandte er sich wieder den beiden weiteren Menschen im Raum zu, die sich angeregt unterhielten. Offenbar war das erdrückende Thema der Vergangenheitsfindung übergegangen zu einer Diskussion über Einrichtungsfragen.
„…nein, Ikea ist in Ordnung. Es hat’s einfach jeder“, schloss Leonie die Unterhaltung über den Sinn von Möbelhäusern. Dann lenkte sie ihre Aufmerksamkeit auf Sebastian. „Na, aus deinen Abendträumen aufgewacht?“ Dass er auf einmal verschlossen wirkte, entging ihr keineswegs. „Was denkst du, sollen wir langsam aufbrechen? Wir haben die Gastfreundschaft deines Vaters nun schon genug strapaziert und schliesslich stoppt der Alltag auch nicht einfach, nur weil ich etwas angeschlagen bin.“
Sebastian schaute noch einmal auf das Bild, welches er nach wie vor in seiner Hand hielt und dann sah er seinen Vater nachdenklich an, bevor er schliesslich antwortete. „Ja. Ja, ich glaube, wir gehen jetzt.“
Sie packten ihre Sachen, Leonie bedankte sich herzlich und wurde mit einer Umarmung belohnt, was sie leicht erröten liess, und schliesslich schloss sich die Tür hinter ihnen.
„Was ist los mit dir?“
„Ich weiss nicht, was du meinst.“ Ohne ein weiteres Wort wandte sich Sebastian seinem Auto zu und bedeutete Leonie auf der Beifahrerseite einzusteigen.
„Oh! Dann können wir auch gleich mein Auto aus dem Schnee ziehen, oder? In diesem Monster hier hast du ja sicher ein Abschleppseil.“
„Was glaubst du denn, was wir heute Nachmittag getan haben?“
„Keine Ahnung. Schliesslich habe ich geschlafen.“ Im Wissen, dass er genau darauf anspielte, dass sie friedlich geschlafen hatte, während er sich um alles weitere gekümmert hatte, zog sie besserwisserisch die Augenbrauen hoch. „Was ist mit Ovalium passiert?“
„Der ist zu Hause in seiner Tiefgarage. Er hat sich ziemlich tief in den Schnee gegraben, den Zusammenstoss mit der Natur hat er aber bis auf ein paar wenige Kratzer gut überstanden.“
Ob ihrer Erleichterung vergass Leonie, dass sie eigentlich hatte wissen wollen, welche Laus Sebastian über die Leber gelaufen war. Stattdessen murmelte sie einen leisen Dank und da sie keine Antwort erhielt, verfiel sie ebenfalls in Schweigen und liess sich in den Sitz zurücksinken.
Während Sebastians Jeep über den schneebedeckten Weg holperte, kehrte Heinz in sein Wohnzimmer zurück. Er trat an dieselbe Stelle, an der zuvor sein Sohn gestanden hatte. Träge streckte er den Arm aus und griff nach dem Bild mit dem kleinen, glücklichen Jungen auf seinem brandneuen Traktor. Das damalige Strahlen hatte nichts mit dem Ausdruck von gerade eben gemeinsam. Von einem Augenblick auf den andern hatte sich Sebastians Miene versteinert und alle Wärme war aus seinen Augen gewichen, was in Heinz eine Ahnung heraufbeschworen hatte, die nun bleischwer auf seiner Seele lastete. Und was noch schlimmer war, er befürchtete, dass sich diese Schwere nicht noch einmal so einfach abschütteln liess. Der Tag der Wahrheit rückte unausweichlich näher. Auf einmal fühlte er sich unendlich müde. Schwach stützte sich Heinz mit einer Hand an der Scheibe ab, in der anderen hielt er noch immer das Foto, in dessen Betrachtung er sich mit traurig gesenktem Kopf vertiefte.