2010
Leonie konnte sich einfach keinen Reim auf die Geschichte machen. Was hatte das alles zu bedeuten? Gab es wirklich einen Zusammenhang zwischen dem, was sie gestern erfahren hatte und dem, was ihrem Vater zugestossen war? Und wenn ja, welchen? Oder handelte es sich nur um den ganz normalen Wahnsinn des Alltags, der nicht das Geringste miteinander zu tun hatte? Leonie wälzte sich in ihrem Bett hin und her. Seit sie sich von den anderen dreien getrennt hatte, fühlte sie sich von der Informationsflut derart erschlagen, als hätte sie zuviel Alkohol getrunken und genau dieselben Nachwehen spürte sie nun auch in den Knochen. Sie hatte starke Kopfschmerzen, fühlte sich ausgelaugt und wenn sie sich aufstützte, drehte sich alles, so dass sie sich sofort wieder hinlegte.
Dennoch wusste sie, dass das kein akzeptabler Zustand war. Also kroch sie aus den zerwühlten Laken und stand auf. Sogleich machte sich die nächste Eigenschaft ihres Phantomkaters bemerkbar. Weiche Knie. Tapfer zwang sie sich, auf den Beinen zu bleiben. Wankend bewegte sie sich dann vorwärts in Richtung Badezimmer. Dort hoffte sie, Rettung im Spiegelschrank zu finden. Aber die Packung Aspirin war nicht da. Vage erinnerte sich Leonie, seit der letzten Tablette keine mehr nachgekauft zu haben. Ein grosser Fehler, wie sie nun bemerkte.
Irgendwo in dem funktionierenden Teil ihres Gehirns meldete sich dann aber eine eingespeicherte Information. Leonie füllte sich ein Glas mit Wasser und trottete ins Zimmer zurück. Dort sah sie sich erst einmal um. Wo zum Teufel hatte sie ihre Handtasche? In den Wintermonaten war eine Handtasche meist überflüssig, da sie alles in ihrer Skijacke mit sich trug. Entsprechend wusste sie jetzt auch nicht, wo sie die Tasche zuletzt hingelegt hatte.
Zuerst suchte sie auf Augenhöhe alles ab, um sich nicht mehr als nötig bewegen zu müssen. Wie befürchtet, wurde sie auf diese Weise nicht fündig. In Gedanken versuchte sie dann nachzuvollziehen, wo eine Handtasche landete, wenn kein Stuhl in der Nähe war. Leonie streifte sie in der Regel von der Schulter und liess sie auf ihrem Weg in den Raum einfach auf den Boden plumpsen. Na toll. Ächzend ging sie auf die Knie und suchte den Raum auf allen Vieren nochmals ab. Sie spähte unter jedes der wenigen Möbelstücke, bis sie dort ankam, wo der Tag angefangen hatte. Beim Bett. Eine Hand auf die Matratze gestützt, beugte sie den Kopf, soweit es der pochende Schmerz zuliess, nach unten und schob mit der anderen Hand das Laken beiseite. Und tatsächlich, der schwarze lederne Beutel lag ungefähr in der Mitte des grossen Doppelbetts. Leonie wunderte sich, wie die Tasche soweit unter das Bett gelangen konnte und verdrehte genervt die Augen. Sie liess das Laken los und streckte ihren Arm soweit sie konnte unter das Bett. Blind tastete sie nach ihrer Tasche. Es dauerte nicht lange, bis sie etwas zwischen die Finger bekam. Es war lang und dünn. Vermutlich der Träger. Also zog sie daran und beförderte die ersehnte Tasche ans Licht.
Nach wie vor kniend begann sie darin herumzuwühlen. Zuerst bekam sie ihre Armbanduhr in die Finger. Bevor sie sie ungeduldig wieder zurück in die Tasche schob, fiel ihr Blick darauf, woraufhin sie leise aufstöhnte. Die Uhr verriet ihr, dass es bereits später Nachmittag war. Sie hatte den ganzen Tag verschlafen. Ändern liess sich dieser Umstand nun nicht mehr, also wühlte sie weiter, in der Hoffnung bald das Objekt der Begierde zu finden. Sie zog ihr grosses Portemonnaie hervor, begierig darauf, an den Inhalt im Münzfach zu kommen. Ihren Not- respektive Reisevorrat sozusagen. Erleichtert drückte sie die weisse runde Tablette aus der Verpackung und spülte sie mit einem grossen Schluck Wasser hinunter. Dann liess sie das Portemonnaie wieder in die Tasche fallen. Diese schob sie dann aber nicht zurück unter das Bett. Sie wollte sie in der Garderobe neben der Tür deponieren. Als sie sie hochhob und aufstehen wollte, fiel ihr Blick auf etwas, das sie offensichtlich mit der Handtasche unter dem Bett hervorgezogen hatte. Es war ein zusammengefaltetes, weisses Stück Papier.
Erstaunt griff sie danach und faltete es auseinander. Als sie die Nachricht darauf erkannte, begann ihr Herz schneller zu schlagen. Fassungslos liess sie sich wieder zurücksinken und starrte die Buchstaben auf dem Blatt Papier an. Dann, als hätte sie in eine Steckdose gefasst, sprang sie in die Höhe und hastete in das Badezimmer. Der Schmerz war genauso vergessen wie die Tasche.
Timo wusste nicht recht, was er von Sebastians Auftrag halten sollte. Er hatte zwar zugesichert, ihn auszuführen, aber er sah weder ein, weshalb, noch warum Sebastian diese Sache wichtig war. Nach dem Telefonat hatte Timo bei Angela zu erfahren versucht, was in Sebastian gefahren sei, Angela hatte aber nur ausweichend abgewinkt und das Thema darauf gelenkt, wie gut der neue Kaffee war.
Daraufhin nahm er einen neuen Anlauf und fragte, ob am Vorabend etwas Besonderes vorgefallen sei, woraufhin Angela auf einmal das unbändige Bedürfnis nach einer erfrischenden Dusche verspürte und die Küche mitsamt Kaffeetasse fluchtartig verliess. Dann bekam er sie nicht mehr zu sehen, weil sie ihren täglichen Verpflichtungen nachzukommen hatte.
Möglicherweise war Angelas Reaktion auch der Grund gewesen, weshalb er Sebastians Aufgabe zu erfüllen gedachte, egal, wie absurd sie sein mochte. Denn auf diese Weise fand Timo vielleicht ein paar Antworten auf die Fragen, die ihm weder Sebastian noch Angela beantworten wollten, und auch auf deren seltsames Verhalten. Entsprechend tauchte Timo zwar spät am Tag, aber dennoch bereits zwei Stunden vor Dienstbeginn im Krankenhaus auf. Die Bergwipfel hatten die Sonne bereits verschluckt und das hell erleuchtete Tal in eine schattige Ebene verwandelt, als Timo durch die elektrische Schiebetür trat. Sein frühzeitiges Erscheinen sorgte für einige erstaunte Gesichter, zum Beispiel das von Schwester Noëlia.
„Timo? Schon so früh hier? Ist zuhause alles in Ordnung?“ Timo meinte, so etwas wie Hoffnung in Noëlias Augen aufblitzen zu sehen. Es war kein Geheimnis, dass sie total auf Rettungssanitäter stand, erst recht auf solche, die gross, gut trainiert, blond und grauäugig waren. Da es davon nicht besonders viele gab, musste man kein Genie sein, um zu merken, dass Schwester Noëlia ein ganz besonderes Augenmerk auf Timo geworfen hatte. Natürlich fühlte sich Timo ein wenig geschmeichelt, allerdings ging ihm das Werben und das ständige Abtasten, wie es denn in seinem Privatleben aussah, ziemlich auf den Geist. Wenigstens war sie hübsch anzusehen in ihrem weissen Kittelchen. Interessanterweise hatte sie auch eine gewisse Ähnlichkeit mit Angela, aber sie war lange nicht so umwerfend und – was noch viel schwerer wog – sie war nicht Angela. Es fiel Timo also nicht schwer, Noëlias Herz ein weiteres Mal zu brechen. „Ja, meine liebe Noëlia, zuhause ist alles in bester Ordnung. Ich habe nur etwas Kleines zu erledigen, bevor meine Schicht anfängt, das ist alles. Aber wo wir schon mal so nett plaudern, ist Armin in der Leichenhalle?“
Mit einem Gesicht, als hätte sie in eine saure Zitrone gebissen, nickte Noëlia und wies mit dem Kopf auf die silberne Flügeltür. „Vor zehn Minuten ging er nach hinten.“
Timo zerrte ein charmantes Lächeln aus seinem Freundlichkeitssortiment und zündete in Noëlias Gesicht auf Knopfdruck die zuvor erloschene Lampe wieder an. Egal, wie er zu ihr stand, Kontakte musste man pflegen, schliesslich konnte man nie wissen, wann man sie brauchte.
Er wandte sich in die angewiesene Richtung und drückte die Flügeltüren mit beiden Händen auf. Er wanderte den langen, mit Neonröhren schwach ausgeleuchteten Gang entlang, bis zu einer weiteren Flügeltür. Jedes Mal, wenn Timo hier hinten war, fragte er sich, ob es ein Gesetz gab, das Architekten zu der horrorfilmähnlichen Aufmachung dieser Räumlichkeiten verpflichtete. Timo stiess die zweite Flügeltür mit beiden Händen auf und fand sich schliesslich in einer weitläufigen Halle wieder. Die Wände der Halle waren gesäumt mit verchromten Schränken, die wie Industriekühlschränke mit viel zu kleinen Türen aussahen. In der Mitte der Halle standen einige Rollbarren, bedeckt mit weissen Baumwolltüchern. In der Halle war es kühl. Timo fröstelte.
„Armin?“ Viele Rückzugsmöglichkeiten gab es in der Halle nicht. Bewegte sich also nichts, war das in den meisten Fällen gut, für Timo derzeit aber eher schlecht. Dann plötzlich flog mit einem Ruck die Tür hinter Timo auf. Das Geräusch hallte derart unerwartet durch den sonst so stillen Raum, dass Timo erschrocken herumwirbelte.
„Ach was. Sieh an, Besuch, der auf seinen eigenen zwei Beinen den Weg hierher fand! Bist aber immer noch gleich schreckhaft wir früher, hm?“ Armin schnaubte vor Belustigung. Niemals würde er zugeben, dass er sich ob des unangekündigten, lebenden Besuchs selbst etwas erschrocken hatte.
Er musterte Timo über den Rand seiner tief auf der Nase sitzenden Brille hinweg. „Was führt dich ohne einen Neuen für meine bescheidene Sammlung hierher?“
Timo störte sich nicht an der unsanften Ausdrucksweise von Armin. Er ging eher davon aus, dass das seine Art war, die nötige Distanz zu seiner Aufgabe zu schaffen, sonst könnte er sie wohl kaum ausführen und schon gar nicht während so langer Zeit. Schon bald nach Beginn seiner Ausbildung lernte Timo Armin kennen. Timo war einer der Studenten, die sich würgend verabschiedet hatten, als es darum ging, bei der Sezierung eines Menschen zuzusehen. Auch nachdem die Stunde schon lange vorbei gewesen war, sass Timo, noch ganz grün im Gesicht, auf der Bank vor dem Krankenhaus. Armin hatte ihn damals gefunden und sich neben ihn gesetzt. Anfangs schwieg er, dann sagte er etwas, woran Timo sich bis heute erinnerte und daran festhielt. „Ein Verletzter auf der Bahre ist dasselbe wie für einen Sanitär das verstopfte Rohr oder für einen Automechaniker das Fahrzeug. Hat ein Auto einen Defekt, versucht der Mechaniker ihn zu reparieren, während der Besitzer um sein Ein und Alles bangt. Kann der Mechaniker das Auto reparieren, ist der Besitzer glücklich. Ist der Schaden irreparabel, ist der Besitzer das heulende Elend, während der Automechaniker bereits nach den Ersatzteilen schielt. Klingt herzlos, nicht? Aber es heisst nicht umsonst, ‚einen kühlen Kopf bewahren‘, oder?“ Dann war er aufgestanden und seiner Wege gegangen, genauso, wie Timo seiner Wege ging, bis sie sich hier wieder kreuzten.
„Ich bin hier wegen Hans Zumbrunn.“
Amin verharrte einen Moment reglos. Er schien nachzudenken. Dann tauchte in den blassen Augen unter den buschigen grauen Augenbrauen ein wissendes Funkeln auf. Der hagere leicht gebeugte Mann mit dem schlohweissen Haar schlurfte zu einer der Boxen, öffnete die Tür und zog eine Bahre heraus. Mit ihr entwich eine eisig kalte Wolke.
„Was gedenkst du an dieser Leiche zu finden?“
„Wenn ich das wüsste. Hilfst du mir?“
„Sind die anderen Typen um uns herum tot?“
„Ja. Zumindest hoffe ich das.“ Timo sah sich unsicher um.
„Na siehst du. Was muss ich tun?“
„Er ist seit gestern hier. Es dürften also zwischenzeitlich alle Hämatome, insofern es welche gibt, sichtbar geworden sein. Suchen wir doch zuerst nach dem, was gestern noch nicht dagewesen ist.“
Sofort machten sich beide eifrig an die Arbeit. Sie suchten den ganzen Körper ab. Hinten, vorne. Nichts.
„Okay, das habe ich mir gedacht. Jetzt das Wichtigste. Der Kopf. So wie wir ihn gestern vorgefunden haben, ist er mit dem Kopf auf einen Beistelltisch aufgeschlagen. Was sagt dein Bericht?“
„Etwas Ähnliches. Anzeichen, die einen Sturz ausgelöst haben könnten, fand ich keine. Die Kopfwunde, entstanden durch einen harten Aufprall und ist auf jeden Fall die Todesursache. Aber wie kommst du auf einen Tisch?“
Armins Tonfall liess Timo zögern. „Der Beistelltisch lag neben der Leiche und an der Kante war Blut, während Blut aus einer tiefen Kopfwunde austrat.“
„Klingt plausibel. Hatte der Tisch eine besondere Form?“
Timo dachte kurz nach. „Nein, warum?“
„Sieh’s dir selbst an, wenn’s dein Magen verkraftet.“ Armin grinste Timo herausfordernd an, bevor er sich dem Kopf der Leiche zuwandte. „Hier.“
Timos Blick folgte Armins Finger. „Siehst du das? Eine Tischkante ist meiner Meinung nach etwas Glattes und Sauberes. Das, was hier auftraf, scheint aber das pure Gegenteil gewesen zu sein. Der Gegenstand scheint mir eher eine unregelmässige, schroffe Oberflächenbeschaffenheit gehabt zu haben.“ Armin schaute Timo erst nachdenklich, dann besorgt an. „Junge, sag nicht, dir wird nach so vielen Jahren immer noch übel?“
Timo hatte keine Vorstellung davon, wie er auf Armin wirkte, aber das war ihm auch völlige egal. Schliesslich wusste Armin nichts von Timos merkwürdigem Auftrag. Was zum Teufel lief hier eigentlich?