1986

 

Besorgt machte Heinz sich auf den Weg. Jetzt war er froh, hatte er tags zuvor seine Ausrüstung im Skiraum der Hannigalpbahn gelassen. Den Skianzug hatte er im Kassenhäuschen deponiert. So musste er nicht erst noch nach Hause, sondern konnte gleich seine Hilfe anbieten.

Immerzu fragte er sich, was dort oben wohl vorgefallen war. Wahrscheinlich würde er es bald erfahren. Das Dorf wusste sicher schon Bescheid.

Zu seinem Erstaunen herrschte im Dorf aber kein Aufruhr, sondern das normale gemächliche Treiben. Weiter ging er zur Gondel und direkt in den Skiraum. Er hatte eine gute Zeit erwischt. Es war Mittag, die Schneeverrückten waren beim Essen, die Lifte entsprechend entlastet und die Pisten leer. So auch der Skiraum. Er war ganz alleine. Dachte er zumindest. Als er nach seinen Ski greifen wollte, tippte ihm jemand auf die Schulter. Erschrocken fuhr Heinz herum. „Moritz!“

„Nicht so laut, du Idiot! Damit das klar ist, ich bin nicht hier.“

Heinz nickte langsam.

„Gut. Jetzt hör mir genau zu. Oben auf der Alp fährt eine kleine Familie Ski…“

Mit zunehmendem Entsetzen hörte sich Heinz seinen Auftrag an. Er wollte seiner Weigerung schon Ausdruck verleihen, da drückte Moritz die richtigen Knöpfe. „Du wirst das schön erledigen, sonst knöpfen wir uns einfach deine Familie vor. Klar?“

Wieder ein langsames Kopfnicken.

„Gut. Und jetzt verschwinde.“

Verstört trat Heinz ins Freie. Mechanisch wie ein Roboter ging er in die Gondelstation und holte den Rucksack mit dem Skianzug, der Kappe und der Skibrille. Er zog alles über. Die Kappe schob er tief ins Gesicht, und obwohl er noch in der Station war, zog er die Brille bereits auf. In geduckter Haltung stieg er in eine der anfahrenden Kabinen.

Ohne Verzögerung kam er oben am Seetalhorn an. An jedem anderen Tag hätte er, immer wieder aufs Neue fasziniert, den Blick über das Panorama gleiten lassen. Es war einfach atemberaubend schön. Nur heute nicht. An diesem Tag hatte er nur ein Auge für das abschüssige Gelände vor sich.

Bisher war niemand zu sehen. Vielleicht waren sie überhaupt nicht mehr da. Dann wäre er aus dem Schneider. Aber schon einige Meter weiter gab der Fels die Sicht auf den Rest der Piste frei. Und damit auch auf drei Menschen, ziemlich weit unten. Er zog sein Fernglas aus der Seitentasche des Rucksacks und stellte es scharf. Obwohl der Mann mit etwas Abstand zu der Frau und dem Kind fuhr, mussten es zweifelsohne die Gesuchten sein, denn die Personenbeschreibung, die er von Moritz erhalten hatte, passte aufs Haar genau. Hier waren sie also, die Steine, die aus dem Weg geräumt werden mussten. Er kannte das Gelände gut, also brauchte er nicht lange darüber nachzudenken, wie er sich abseits der Pisten unbemerkt nähern konnte. Einmal noch atmete er tief ein, um das bedrückende Gefühl loszuwerden, aber es tat sich nichts. Also gab er es auf.

„Bring’s einfach hinter dich“, murmelte er sich selbst zu, vergewisserte sich, dass alles war, wo es hingehörte, überprüfte den aktuellen Standort seines Ziels, steckte die Stöcke in den Schnee, um loszulegen, da geschah etwas Seltsames.

Ungläubig starrte Heinz den Hügel hinunter. Wie aus dem Nichts schoss in halsbrecherischer Geschwindigkeit ein Skifahrer hinter einem Fels hervor, direkt auf die Piste, und prallte ungebremst in den inzwischen vorausfahrenden Mann. Einen kurzen Augenblick waren beide in eine riesige Schneewolke gehüllt, aus der sich nur noch einer herauslöste, die Piste wieder verliess und hinter dem nächsten Felsen genauso schnell verschwand, wie er gekommen war.

Heinz traute seinen Augen nicht. Aber es spielte keine Rolle. Jetzt kam es auf jede Sekunde an. Mittlerweile trugen die Sessel wieder mehr Menschen auf den Berg. Die Mittagszeit schien vorbei zu sein.

Sich seine Kenntnisse über die Umgebung zunutze machend, eilte Heinz mit den Skiern auf den Schultern zu der Bergstation der Seetalhornbahn. Wenn er sich richtig erinnerte, war heute Peter für das Ende zuständig und Manuel für den Anfang, was Heinz entgegenkam. Peter hatte die schlechte Angewohnheit seine Füsse hochzulagern und Zeitung zu lesen, anstatt den Lift im Auge zu behalten, während Manuel immer pünktlich wie ein Uhrwerk Feierabend machte und den Posten verliess, ob die Ablösung vor Ort war oder nicht. Heinz hoffte inständig, Peter käme nicht genau heute auf die Idee seinen Job verantwortungsbewusst auszuführen und dass Manuel nicht doch plötzlich zu warten begann.

Aber er hatte Glück. Heinz hielt sich noch kurz verborgen, um seine Atmung mitsamt Herzschlag zu beruhigen, bevor er sich aufrichtete und seine Deckung mit möglichst unbeteiligter Miene verliess. So gelassen, wie seine Nervosität es zuliess, mischte er sich unter die Restaurantbesucher, die nach und nach wieder aufbrachen. Als gehöre er dazu wanderte er zwischen den überfüllten Skiständern durch. So konnte er unauffällig die Lage überblicken.

Kurz wog er ab, was als nächstes zu tun war. Sich unter die Skifahrer zu mischen und so den Berg hinunter bis zu seinem Arbeitsplatz zu kommen, war zu riskant. Wenn genau dann der Helikopter eintraf, musste er warten und würde nicht rechtzeitig unten sein. Wollte er aber glaubhaft behaupten können, er hätte von dem Unfall nichts mitbekommen, weil er gearbeitete hatte, musste er unten sein, bevor der Helikopter kam. Sollte er mit dem Lift hinunterfahren? Nein, auch der Lift würde angehalten, wenn der Helikopter kam. Ausserdem war der Lift zu langsam. Auf Skiern war er selbst schneller.

Kurz sah Heinz auf die Uhr und rechnete nach, wieviel Zeit seit dem Unfall vergangen war. Der Helikopter konnte jeden Augenblick kommen. Er hatte keine Zeit zu verlieren. Also schlüpfte er mit geübten Bewegungen in seine Ausrüstung, schnallte die Ski an und trieb sie an, indem er die Skistöcke mit regelmässigen kräftigen Bewegungen in den Schnee stiess. Schnell hatte er die ersten Meter hinter sich gebracht. Als er sich der Unfallstelle näherte, wurde ihm unbehaglich zumute. Er zwang sich, nicht genau hinzusehen. Nur einen kleinen Blick riskierte er, um sich zu versichern, dass die Familie nicht mehr alleine war. Tatsächlich erkannte Heinz einige andere Menschen, die die Lage im Griff zu haben schienen. Also fuhr er weiter, bis er plötzlich das unverkennbare Geräusch von Rotorblättern erkannte. Jede Sekunde würde jemand den anderen Leuten auf der Piste da Zeichen geben, nicht mehr weiter zu fahren. Heinz musste schneller sein. Er ging in die Hocke und raste den Berg in halsbrecherischem Tempo hinunter. Gerade, als er die Stelle passierte, wo der Mann unter dem Felsen im Schnee lag, erkannte er im Augenwinkel, wie jemand die Hände hochriss. Der Helikopter würde also sogleich hinter der Bergkuppe auftauchen. Und so war es dann auch. Schnee stob auf und der Rumpf glitt anmutig über den Rand der Felsen. Heinz kam ein wenig ins Straucheln, aber er fing sich wieder und setzte seinen Weg unbeschadet fort, bis zu seinem Arbeitsplatz.

 

Gleichermassen aufgewühlt wie erschöpft, kam Heinz an diesem Abend nach Hause. Anstelle eines herrlich entspannenden Kaminfeuers und wohlriechenden Essensdüften empfing ihn seine Frau wartend im dunklen, kalten Korridor. Sie sah irgendwie krank und nervös aus. Argwöhnisch trat Heinz auf sie zu, doch sie wich vor ihm zurück. „Helen?“

Heinz wagte sich noch einen Schritt vor, aber sie hob abwehrend die Hände. „Nicht.“ Niedergeschlagen senkte sie den Blick. Sie schien unentschlossen, denn sie sagte nichts weiter, sondern rang immerzu ihre Hände.

Erst jetzt erkannte Heinz, dass neben Helen noch etwas Eckiges stand. Es waren zwei schwarze Koffer. Verständnislos starrte er seine Frau an. „Was hast du vor?“

„Heinz, ich…“ Ihre Stimme brach, bevor sie den Satz beenden konnte. Irgendetwas lastete schwer auf ihrer Seele und langsam kroch die nackte Angst in Heinz hoch. Helen wusste selbst, dass sie nicht darum herum kam, wenigstens ein kleines Wort der Erklärung abzugeben. Jetzt, da der Entschluss gefasst war, wurde sie ganz ruhig. „Ich wollte unsere Familie doch nur beschützen. Jetzt, da du den Auftrag nicht ausführen musstest, kann dir ganz bestimmt niemand etwas anhängen.“

Im ersten Augenblick verstand Heinz nicht, was Helen damit sagen wollte. Doch dann wich mit einem Schlag alle Farbe aus seinem Gesicht. „Was hast du getan?“ Erst sprach er leise, fast bedrohlich, dann wurde er lauter. Seine Wut konnte er kaum noch zügeln. Er tat wieder einen Schritt, diesmal so schnell, dass sie nicht mehr ausweichen konnte. Fest packte er sie an den Schultern und begann sie zu schütteln. „Helen! Sag, dass du das nicht warst!“

Mit stoischer Ruhe wartete Helen ab, bis er aufhörte sie zu schütteln und sie antworten liess. „Ich war da. Ich habe euch gehört. Es war ein Leichtes ohne Verdacht zu erregen an einen Skianzug wie den Deinen zu kommen. Ich zog ihn über und machte mich auf den Weg. Ich dachte, ich könnte damit leben. Ich dachte, ich könnte unsere Familie retten. Denn schlussendlich ist es doch meine Schuld, dass du dich auf diese Haie eingelassen hast. Nur, weil ich diesen vermaledeiten Hof haben wollte! Aber ich kann es nicht. Ich kann nicht damit leben.“

Sich aus seinem Griff zu befreien war ganz einfach. Mit jedem Wort hatte er seine Finger etwas mehr gelockert. Sanft legte sie eine Hand auf seine Wange und hauchte ihm einen zarten Kuss auf die Lippen. „Ich muss eine Weile nachdenken. Pass gut auf unseren Jungen auf, solange ich weg bin. Ich liebe dich.“ Dann war sie zur Tür hinaus.

Erst, als die Tür ins Schloss fiel, löste sich Heinz aus seiner Starre. Wut, Enttäuschung und Verständnislosigkeit sammelten sich zu einem Vulkan an Gefühlen, die dringend ein Ventil brauchten. „Das klingt wie ein beschissener Abschiedsbrief! Ein verdammt schlechter dazu!“ Brüllend wischte er mit einem Ruck über die Kommode neben ihm. Die kleinen Figuren und die filigran gearbeitete Kristallschale landeten scheppernd auf dem Boden und zersprangen in ein Meer aus tausend schimmernden Stückchen. Und er erkannte sein Herz darin.

Sie würde nicht wiederkommen. Niemals. Das wusste er mit absoluter Sicherheit und er sollte Recht behalten.

 

 

Wenn die Wahrheit nicht ruht
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