2010

 

Auf der Suche nach einem ruhigen Plätzchen an der Wärme überredete Sören Leonie dazu, in sein Hotelzimmer zu gehen. Ohne Hintergedanken, wie er mit einem Augenzwinkern anfügte. Dort angekommen kam Leonie nicht umhin, über die besondere Atmosphäre zu staunen. Das Zimmer wie auch das ganze Hotel schienen schon etwas in die Jahre gekommen, aber keineswegs schmuddelig oder schmutzig. Direkt neben dem Eingang lag ein kleines, mit blassrosa Platten ausgelegtes Badezimmer. Geradeaus trat man in einen verhältnismässig grossen Schlafraum, der Platz für einen Schreibtisch, einen wuchtigen Eichenschrank und ein grosses Zweierbett mit vielen kunstvollen Verzierungen an den Bettpfosten bot. Die hellgelbe Tapete sagte Leonie eher weniger zu, aber in Kombination mit dem flauschigen Teppich in neutralem hellgrau wirkte sie erfrischend fröhlich. Obwohl sie sich gerne auf das Bett mit den riesigen, einladend wirkenden Daunenbettdecken geworfen hätte, vermied sie einen weiteren Blick darauf und liess sich auf dem Sessel nieder. Sören, der im Hotelrestaurant eine Flasche Wein und zwei Gläser geholt hatte, entging dieser Umstand nicht, er kommentierte ihn aber lediglich mit einer hochgezogenen Augenbraue.

„Hier.“ Er drückte Leonie das volle Weinglas in die Hand und setzte sich ihr gegenüber auf das Bett.

„Danke. Also, was hast du herausgefunden?“ Aus einem ihr unerklärlichen Grund fühlte sich Leonie nicht ganz wohl in ihrer Haut, weshalb sie es für besser hielt, gleich zur Sache zu kommen.

„Zum Wohl erst mal.“ Sören hielt ihr das Glas hin, um anzustossen. Dann nahm er einen grossen Schluck und füllte sofort wieder nach. „Okay, ich war heute den ganzen Tag im Dorf und bin den Orten nachgegangen, an denen ich die älteren Dorffrauen vermutete, die einiges zu erzählen wissen.

„Zum Beispiel?“

„Zuerst die örtliche Bäckerei und dann wollte ich die Metzgerei in Angriff nehmen, da ich davon ausging, dass die Mädels für ihre Männer Fleisch fürs Mittag- oder Abendessen brauchen.

Beim Wort ‚Essen’ meldete Leonies Magen seine Anwesenheit mit einem lautstarken Knurren.

„Hunger?“

„Scheint so. Zum Essen hat es heute nämlich noch nicht so richtig gereicht.“

„Kein Problem, ich kann uns etwas organisieren.“

„Nein, nein. Lass nur.“ Leonie winkte ab und begnügte sich fürs erste mit Wein, um das Loch zu stopfen. „Wie erfolgreich war dein Bäckereiplan?“

„Sehr. Es kam tatsächlich eine äusserst muntere alte Dame hereinspaziert. Sie hielt ein kurzes Pläuschchen mit der Verkäuferin, während sie auf ihr Brot wartete, das sie übrigens nicht mit einem Wort erwähnte. Das ging vollautomatisch. Sie kam rein, sie wurde begrüsst, die Verkäuferin drehte sich um und holte bereits das Brot aus dem Korb und verpackte es. So ein Dorfleben hat schon auch schöne Seiten.“ Sören lächelte sie aus diesen unheimlich blauen Augen an.

„Dafür bin ich wohl noch zu wenig lange hier. Wenn ich in die Bäckerei gehe, weiss niemand, was ich möchte.“

„Darf ich dich daran erinnern, dass es auch nicht unbedingt deine Stärke ist wie ganz normale Menschen ganz normale Einkäufe zu tätigen? Dein Grundnahrungsmittel sind gesalzene Erdnüsse aus dem Snackbestand einer Bar.

„Du hast die Erdnussflips vergessen. Also, weiter.“

„Richtig. Wo war ich? Ach ja. Ich habe mir schon gedacht, ich sei fehl am Platz, so zackig wie das alles von Statten ging. Aber ich wurde eines Besseren belehrt. Die Dame schien nämlich eine Schwäche für Süssigkeiten zu haben und die schien sie jeden Tag neu zu wählen. Also begann die grosse Entscheidungsfindung. Du wirst es kaum glauben, die haben die Vorteile einer jeden süssen Backware durchgekaut. Das war aber meine Chance. Ich klinkte mich mit meiner Meinung in das Gespräch ein. Die Damen schienen das ganz lustig zu finden und am Ende landeten dann, gemäss meinem Vorschlag, eine Crèmeschnitte und ein Stück Schwarzwälder-Kirschtorte in einer weissen Schachtel. Alles schien für mich zu laufen, denn die gute Frau hatte noch einen dieser alten Einkaufswagen dabei. Ich bot ihr also meine Hilfe an, die sie bereitwillig annahm. Bei ihr angekommen, konnte sie ihre Lobeshymnen über meine Freundlichkeit kaum bremsen und lud mich auf einen Kaffee ein. Jackpot, dachte ich. Und ich behielt Recht. Die Dame heisst Petra, ist seit jeher in diesem Dorf heimisch und leider Witwe seit zwei Jahren. Hermann, ihr Hund, ist aber noch quietschfidel und echt nervtötend.

Sosehr sich Leonie auch über die Details amüsierte, sie wünschte, er würde langsam zum Punkt kommen, solange sie noch klar denken konnte. Denn der Alkohol auf leeren Magen verlangte nach seinem Opfer. „Und was hat Petra sonst noch zu erzählen gewusst?“

Es wird dich umhauen. Während wir so plauderten, dachte ich, ich pirsche mich am besten über ihren Ehemann an das Thema heran. Also sprach ich brav mein Beileid über den traurigen Verlust aus und erlaubte mir die Frage, wie er gestorben ist. Stell dir vor, der Typ hatte einen Herzinfarkt. Einfach bumm, tot. Und dann schwärmte sie mir vor, welch guter Polizist er war.“

„Polizist? Wie praktisch!“ Anerkennend nickte Leonie Sören zu.

„Ja, nicht wahr? Ich liess sie dann erzählen und erzählen, welche Heldentaten er vollbracht hatte und so weiter. Und dann erwähnte sie etwas, das mich stutzig gemacht hat.“

Neugierig richtete sich Leonie auf ihrem Stuhl auf. Plötzlich kribbelte ihr ganzer Körper. Sie wusste nicht, ob sie es auf den Alkohol oder die Spannung schieben sollte. „Was war es?“

„Hermann ist schwul.“

Wie bitte?“ Leonie blinzelte Sören verstört an. Dieser musste lauthals lachen.

„Tut mir leid. Das war natürlich nur ein Scherz. Nehme ich zumindest an. Petra erzählte mir von einem Fall ihres Mannes, den er lange Zeit nicht aus dem Kopf bekam. Es gab einmal einen Skiunfall.“

„Ist das ungewöhnlich?“

„Du bist zu ungeduldig. Warte doch erst einmal ab! Ein Mann hatte offenbar aus dem Nichts heraus einen anderen angefahren und ist einfach geflohen. Man hat den Flüchtigen nie gefunden. Was aus dem Angefahrenen wurde, konnte sie nicht oder nicht mehr sagen.“

Leonie sah Sören fragend an. „Und was hat das mit meiner seltsamen Erfahrung zu tun?“

„Als ihr Mann erzählte, wann und wo der Unfall stattgefunden hatte, stellte Petra irgendwann fest, dass sie wusste, von welchem Vorfall er sprach. Denn offenbar war sie rein zufällig an demselben Tag auch auf der Piste und an eben diesen Unfall herangefahren. Allerdings war dann bereits der Rettungshelikopter im Anflug gewesen. Aber, und jetzt halt dich fest, sie hatte ein völlig verloren wirkendes, kleines Mädchen nahe der Unfallstelle im Schnee sitzen sehen. Sie ging davon aus, dass die Kleine irgendetwas mit dem Verunfallten zu tun haben musste und weil sich niemand um sie zu kümmern schien, fuhr sie zu ihr und zog sie in ihre Arme.

„Das ist ja süss und sehr rührend. Aber ich versteh immer noch nicht.“

„Leonie, dieser Unfall. Das war am Seetalhorn, unter einem Felsvorsprung, vor vierundzwanzig Jahren.“

Langsam dämmerte Leonie, was Sören sagen wollte, glauben konnte sie es aber nicht. „Sören, was…, wie…?“

Sören kniete sich vor Leonie hin und legte seine Hand schützend über die Ihre. Willst du wissen, warum sie das alles noch so genau weiss?

Aus Angst vor der Antwort zögerte Leonie, bevor sie ein halbherziges Ja zustande brachte.

„Grächen war damals noch ein Frischling auf dem Wintersportmarkt. Dieser Unfall ausgelöst durch Fremdeinwirkung war der erste, seiner Art. Deshalb hat man auch grosses Aufhebens darum gemacht. Die Gegner des Wintersportprojekts nutzten das als Aufhänger, um ihre Debatten um die Nachteile wieder aufflammen zu lassen. Davon bekamen die Touristen kaum etwas mit, aber die Bevölkerung war verunsichert. Sie, als Befürworterin der Öffnung Grächens für den Tourismus, konnte sich dann auch noch sehr gut an die Erleichterung erinnern, als die Kritik wieder abebbte und das Projekt weiterverfolgt werden konnte. Sie erinnerte sich aber auch noch an etwas anderes.“

Leonie fürchtete, dass ihr das, was auf diese Ankündigung folgte, überhaupt nicht gefallen würde. Sören umfasste ihr Kinn, hob ihren Kopf etwas an, bis sich ihre Blicke trafen. „Sie sagte, das Mädchen hätte die schönsten grünen Augen gehabt, die sie je gesehen hatte.“

Als würde sie damit etwas verbergen können, schloss Leonie ihre Augen. Den plötzlich einsetzenden Kopfschmerz ignorierte sie. „Das ist nicht möglich. Meine Mutter hat gesagt, ich war noch nie hier. Dass diese Frau sich so genau an all das erinnern will, ist doch Humbug. Das ist alles nur erfunden. Wer soll denn der Verunfallte gewesen sein? Meine Mutter?“ Inzwischen hatte sich die Ungläubigkeit in Wut gewandelt. Aufgebracht riss sich Leonie von Sören los und wanderte unruhig im Zimmer auf und ab.

Das konnte sie mir nicht mehr sagen. Wie du selbst sagst, es liegt lange zurück, antwortete Sören geduldig.

„Ach, an solch kleine Details wie das Geschlecht des Verunfallten kann sie sich nicht erinnern, aber an grüne Augen schon?“ Sie hielt kurz in ihrer Wanderung inne, was Sören beruhigte, denn er fürchtet bereits, sie würde einen Graben in den Fussboden laufen. Er trat auf sie zu. „Zugegeben, so allgemein gesagt, klingt das unglaubwürdig. Aber genau betrachtet“, wieder suchte er ihren Blick, „sind solche Augen einfach aussergewöhnlich und unvergesslich. So etwas sieht man keine zwei Mal im Leben.“

Aufseufzend liess Leonie die Hände sinken. „Das alles ist nur so verwirrend. Nichtsahnend komme ich in dieses Dorf, gehe Skifahren, falle auf die Schnauze und werde deshalb von einer Vergangenheit erschlagen, die aus irgendwelchen Gründen vergessen bleiben sollte. Oder weshalb hätte mich meine Mutter sonst anlügen sollen, wenn wirklich ich das da oben gewesen sein soll?“ Die Vermutung nun auch noch auszusprechen, versetzte ihr einen Stich, der ihr beinahe den kaum vorhandenen Mageninhalt zutage befördert hätte.

„Herrgott, Leonie, du bist ja auf einmal so blass! Komm, setz dich.“ Mit besorgter Miene führte Sören Leonie zum Bett und hiess sie, sich zu setzen. Dann setzte er sich neben sie und nahm sie in den Arm. Auf einmal schrecklich erschöpft, liess sie vertrauensvoll ihren Kopf an seine Schulter sinken und sog seinen ihr nur zu gut bekannten Geruch ein. Beruhigend streichelte er über ihr langes Haar. Dann liess er die Hand in ihren Nacken gleiten und schliesslich ihren Hals entlang, über das Schlüsselbein zu ihrer Schulter und zurück. Leonie war zu aufgewühlt, um einen klaren Gedanken zu fassen und liess ihn gewähren. Auch dann, als seine Hand erst über ihren Brustansatz und dann unter den Saum des Hemdausschnitts glitt, hielt sie ihn nicht auf.

Ein erregendes Zittern durchlief ihren Körper und sie atmete leise seufzend aus. Dies fasste Sören als Einverständnis wie auch als Aufforderung auf. Behutsam hob er ihr Gesicht an und hauchte ihr erst auf das linke, dann auf das rechte Augenlid einen Kuss, bevor er seine Lippen auf ihren Mund senkte. Anfangs war es nur ein sanfter Kuss, der sich schnell in fordernde Leidenschaft verwandelte. Doch als Sören am Verschluss ihres Büstenhalters herumhantierte, wich sie zurück. „Warte. Ich kann nicht.“

„Was soll das heissen? Ich kann mich da an Zeiten erinnern, an denen du mehr als genug konntest. Komm her.“ Er wollte sie wieder an sich ziehen, doch sie entwand sich ihm und stand auf.

„Es tut mir leid. Ich werde jetzt besser gehen.“

„Wie bitte?“ Entrüstet schoss er ebenfalls in die Höhe. „Was ist denn los mit dir? Ah, ich verstehe, der Barkeeper.“ Prüfend musterte er sie.

Wie bitte? Nein, das ist es nicht. Es ist nur…“ Leonie brach ab und liess die Schultern hängen. „Ach, ich weiss auch nicht. Ich bin nur so durcheinander. Ich denke, ich brauche etwas Zeit. Gedanken ordnen und so. Es tut mir leid“, wiederholte sie und öffnete die Tür. Sie war schon zur Hälfte draussen, als sie sich noch einmal umdrehte. „Übrigens, danke für deine Mühe.“ Die Antwort war ein Schulterzucken, aber das genügte vorerst. Leonie wandte sich ab und zog die Tür hinter sich zu.

 

 

Wenn die Wahrheit nicht ruht
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