1986
Heinz lauschte angespannt Hans‘ Vorschlag. Er war der Aufforderung sich zu setzen gefolgt. Jetzt fragte er sich, weshalb. Mit jedem weiteren gedämpften Wort zog sich Heinz’ Magen mehr zusammen. Sie hatten ihn auf den Stuhl in der Ecke gewiesen, wahrscheinlich, weil sie fürchteten, er würde die Flucht ergreifen, sobald er genug gehört hatte. Und sie hatten Recht. Heinz wäre am liebsten davongerannt. Ihm war übel und er wollte sich übergeben. So wirkte er offenbar auch.
„Heinz? Alles in Ordnung? Du bist weiss wie die Wand!“
Übersensibilisiert wie er in dem Augenblick war, konnte Heinz nach diesem Ausspruch nur daran denken, dass die Wände in diesem Lokal alles andere als weiss waren. Ein Teil davon ist es vielleicht mal gewesen, aber der Zigarettenrauch hatte gründlich gearbeitet und alles in ein ungesundes, schmutziges Gelb getaucht. „Ihr habt das alles schon von langer Hand geplant, nicht wahr?“ Die Übelkeit war auf einmal einer unbändigen Wut gewichen.
„Keine Ahnung, wovon du sprichst. Vergiss nicht, du bist zu mir gekommen und hast nach Hilfe verlangt.“
„Darauf habt ihr nur gewartet.“ Das war keine Frage mehr, es war eine Feststellung. „Helen wird sich niemals damit einverstanden erklären.“
„Sie wird. Du musst es ihr nur überzeugend erklären. Sobald sie hört, dass ihr Junge auf der Strasse steht, wenn du das Angebot nicht annimmst, wird sie einlenken.“
„Ihr seid also bereit, mich meiner gesamten Existenz zu berauben?“
„Nein. Wie bieten dir eine Lösung aus deiner ausweglosen Situation.“ Hans beugte sich vertrauensvoll vor. Obwohl die Männer im selben Alter waren, hatte sein Tonfall etwas Väterliches.
„Verstehe. Wie lange noch?“
„Geh und sprich mit Helen. Josef wird dich morgen anrufen.“ Josef nickte und das Gespräch schien beendet. Ohne weitere Aufforderung erhob sich Moritz von seinem Stuhl, um Heinz den Weg frei zu machen. Dieser stand bedächtig auf, immerzu auf seine Atmung konzentriert, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Ohne sich noch einmal umzusehen verliess er den Gasthof.
Den Kopf in die Hände gestützt sass Heinz auf der Bank vor dem Haupthaus. Es war bereits nach zehn Uhr abends, sein Junge schlief und Helen hatte in der Küche zu tun. Wenigstens dachte er das. Denn in eben diesem Augenblick legte sich eine kühle Hand in seinen Nacken. Ohne die Hand zu entfernen setzte sich Helen neben ihn.
„Was ist passiert?“ Ihre Stimme war sanft und weich. Heinz wusste, wenn sie erst einmal die Wahrheit erfuhr, würde sich das ändern. Doch er musste es ihr jetzt sagen. Ihm rannte die Zeit davon. „Es ist genau das eingetreten, wogegen du dich immer standhaft gewehrt hast.“
Helens Atem entrann ihrer Lunge mit einem leisen Zischen. „Du warst bei Hans?“ Es klang bereits verkrampfter als noch ihre Frage zuvor. Heinz wagte es nicht, aufzusehen.
„Ganz recht. Ich habe ihn um Hilfe gebeten.“
Die Hand entfernte sich aus seinem Nacken. „Waren die anderen auch da?“
„Ja.“
„Sie nehmen uns unser Grundstück, wenn du nicht spurst?“
„Sie nehmen uns alles, wenn ich nicht tue, was sie wollen.“
„Sie haben doch schon alles. Was wollen sie noch?“
„Das Haus.“
„Wie das?“ Helen schien sehr beherrscht, aber Heinz wusste, in ihr drin tobte ein Sturm.
„Eigenbedarf.“
„Verstehe. Josef behauptet den Hof selbst zu brauchen, Hans wird ihm den Rücken frei halten und seine Ansicht wiegt schwer. Dazu wird Moritz noch sein Buchhaltersüppchen kochen und kein Mietgericht dieser Welt wird etwas gegen die drei ausrichten können. Derweil haben wir nicht das Geringste, womit wir eigenhändig eine neue Bleibe bekommen könnten.“
„So sieht’s aus.“ Heinz schluckte schwer. Helen hatte schon von Anfang an, als sie auf den Hof gezogen waren, gesagt, sie müssten sich, so gut es gehe, aus Geschäften mit Josef, Moritz oder Hans raushalten. Nur hatte sie damals von einem wichtigen Detail keine Kenntnis. Nämlich, dass ihre Warnung zu spät kam. Ein eigener Hof war immer Helens Traum gewesen. Also hatte sich Heinz mit seinen Ersparnissen auf den Weg gemacht, seiner Frau diesen Wunsch zu erfüllen. Selbst erstaunt, wie schnell alles über die Bühne ging, konnte er sie dann eines schönen Tages unter einem Vorwand auf einen Ausflug locken. Dabei schlenderten sie wie zufällig auf einem weitläufigen Spaziergang an einem hübschen Hof vorbei. Zufrieden registrierte Heinz das Leuchten in Helens Augen. Also zog er Helen auf das Grundstück. Sie wehrte sich. Ihr war nicht wohl dabei, auf fremdem Eigentum umherzuschleichen. Heinz ignorierte das und führte bis zur Tür des Haupthauses. Dann forderte er sie auf, die Tür zu öffnen. Helen sah ihn an, als wäre er verrückt geworden. Diesen Blick würde er niemals vergessen. Sie weigerte sich standhaft und zwar solange, bis Heinz sich an ihr vorbeidrückte und die Tür selbst öffnete. Gerade, als Helen ihn bestürzt davon abhalten wollte, ging die Tür auf und ihr Blick fiel ins Innere des Gebäudes. Alles war über und über mit duftenden Blumen dekoriert. Ihre Zurückhaltung war Entzückung gewichen. Verwundert wagte sie einen Schritt ins Innere. Dann entdeckte sie das Spruchband. ‚Willkommen zu Hause’ prangte in grossen Lettern auf einem weissen Stofflaken. Schliesslich fiel der Groschen. „Sag bloss…“ Sie vermochte den Satz nicht zu beenden. Vollkommen perplex stand sie einfach nur mit offenem Mund da. Genauso hatte sich Heinz die Überraschung vorgestellt. Er zog einen silbernen Schlüssel aus seiner Hosentasche, nahm Helens Hand, legte den Schlüssel in ihre offene Handfläche und schloss behutsam ihre Finger darum. Helen verfolgte alles ganz genau. Eine Weile starrte sie einfach nur auf die Hand, bis sie schliesslich mit einem lauten Freudenschrei die Arme in die Luft warf, nur um sie im nächsten Moment um Heinz’ Hals zu schlingen.
Ja, da war sie glücklich gewesen. Und sie hatte nie danach gefragt, wem der Hof mitsamt den Ländereien gehörte. Zweieinhalb Jahre lang schien alles perfekt. Den Höhepunkt dieser absoluten Idylle stellte die Geburt ihres gesunden, kräftigen Jungen dar.
Nach und nach begannen dann Josefs Intrigen. Er setzte Heinz finanziell derart unter Druck, dass Heinz die Tiere zu verkaufen begann. Das war dann auch der Zeitpunkt, an dem Helen begriff, dass etwas ganz und gar nicht stimmte.
Als sie Heinz darauf ansprach, versuchte er sich in Ausflüchte zu retten, doch er kam nicht weit. In einer eiskalten Winternacht zwang sie ihn zur Aussprache. Das Wetter draussen widerspiegelte in einem dramatischen Schneesturm die Verhältnisse im Innern des Hauses. Der Wind zerrte an der Fassade, er rüttelte an Türen und Fenstern und rauschte bedrohlich pfeifend um die Ecken und dann, auf einmal, wurde es ganz still. Drinnen, wie auch draussen.
Helen weinte stumme Tränen über den Verrat und den Vertrauensmissbrauch. Zutiefst verletzt war sie aus der Küche gegangen, hatte ihren Ehemann sitzen gelassen. Tags darauf wollte sie mit Sack und Pack zu ihrer Mutter ins Tal. Diesen Plan hatte sie aber aufgeben müssen, denn eine Lawine hatte die Zufahrtsstrasse verschüttet. Damals hatte Heinz Petrus bereits gedankt, heute, während er an diese Zeit zurückdachte, dankte er ihm erneut. Denn zusammen eingeschlossen zu sein zwang beide, sich mit der Angelegenheit auseinanderzusetzen. Am Ende mussten beide feststellen, dass sie trotz allem am gleichen Strang zogen. Mit allen Mitteln kämpften sie entsprechend weiterhin gegen Josef, Moritz und Hans an. Aber wie sich nun herausstellte, hatten sie den Kampf verloren.