1986
Immer ihr Gesicht vor Augen wollte sich Ambros aus dem Garten schleichen und in Richtung des Waldes fliehen. Er wusste, dass er auch im Wald auf der Hut sein musste. Schliesslich gab es genug Abenteurer und Verrückte, die sich auch bei schlechtesten Bedingungen in den Wald wagten. Ganz zu schweigen davon, dass Hans nicht eher ruhen würde, bis er ihn gefunden hatte. Es wäre eine Illusion zu glauben, Hans würde ihn wenigstens erneut der Gerichtsbarkeit ausliefern. Diesmal nicht. Diesmal würde er selbst das Gesetz in die Hand nehmen, davon war Ambros überzeugt. Seine einzige Chance war möglichst weit weg zu gehen. Am besten ins Ausland. Frankreich zum Beispiel. Er wollte schon immer mal nach Südfrankreich. Die Wärme, das Meer, der Sandstrand - so ganz anders als Zuhause. Zuhause? Nein, ein Zuhause hatte er nicht mehr.
Aber bevor er von einem neuen Zufluchtsort träumen konnte, musste er von dem Alten unbeschadet wegkommen.
Also beschloss er, sich seine Träumereien für später aufzuheben und sich hier und jetzt darauf zu konzentrieren, den Berg hinunter ins Tal zu kommen. Am besten war es wohl, direkt nach Italien durchzubrechen und von dort aus weiterzusehen.
Ambros hatte sich noch nicht weit von Alinas Haus entfernt, als hinter ihm plötzlich die Nacht hell erleuchtet wurde und ein ohrenbetäubender Lärm die Luft erfüllte. Sofort duckte er sich hinter einen Fels und versuchte, etwas zu erkennen. Mehrmals musste er blinzeln, bis sich seine Augen an das grelle Licht gewöhnt hatten. Langsam nahmen die Umrisse hinter dem Licht deutlichere Formen an. Je klarer die Objekte wurden, desto mehr begriff er die Bedeutung der Geräusche. Und dann war auf einen Schlag alles ganz klar. Drei Schneemobile rasten in halsbrecherischem Tempo direkt auf sein Versteck zu.
Aus den Augenwinkeln nahm er kleinere Lichtkegel wahr. Erst blitzten sie zu seiner Linken und Rechten nur vereinzelt zwischen den kahlen Baumstämmen hervor. Schnell wurden es aber mehr. Ein Blick über die Schulter genügte, um festzustellen, dass es hinter ihm nicht besser aussah. Er war umzingelt.
Am schlimmsten aber empfand Ambros einen anderen eindringlichen Laut und kurze abgehakte Befehle, die von den Felsen widerhallten. Sie waren auf der Jagd. Aber nicht nach Wild. Sie jagten ihn. Und sie hatten die Hunde dabei. Ambros wusste, er musste sofort reagieren. Gegen die Menschen konnte er vielleicht noch ankommen, aber gegen die Jagdhunde hatte er nicht die geringste Chance. Es sei denn, er war schneller als sie. Er musste sich entscheiden und zwar jetzt.
Die Fahrzeuge kamen immer näher. Die Hunde schienen die Witterung aufgenommen zu haben. Erwischten sie ihn, würde er so oder so sterben. Das konnte er genausogut tun, indem er versuchte, sein Leben zu retten.
Die Schneemobile würden kaum weiter frontal auf den Fels zusteuern, hinter dem er sass. Entweder sie hielten an oder sie drehten ab. Was sie auch tun würden, er musste schnell sein. Zwar hatte er den Überraschungseffekt auf seiner Seite, aber der währte nur kurz. Und die Hunde kamen rasch näher. Ambros atmete tief ein. Ohne die Schneemobile aus den Augen zu lassen zählte er bis drei. Dann sprang er auf den Felsen, genau in dem Augenblick, als das mittlere Schneemobil unterhalb des Steins seitlich abdrehte.
Als der Fahrer des Gefährts die Bewegung über sich wahrnahm, hob er den Kopf. Ironischerweise erkannte Ambros in dem Mann Jan. Ohne zu zögern sprang Ambros vom Fels. Halb auf Jan, halb auf dem Schneemobil landend, nutzte er Jans Körper, um die Wucht des Aufpralls zu bremsen. Gleichzeitig verwendete er aber seinen Schwung, um Jan wegzustossen. Dieser wehrte sich, klammerte sich mit einer Hand am Schneemobil fest. Ambros sah seinen Vorteil, hievte sich mehr auf das Fahrzeug, packte gleichzeitig Jans anderen Arm und drehte ihn erbarmungslos auf den Rücken. Jan jaulte auf, der Schmerz durchzuckte ihn und für den Bruchteil einer Sekunde lockerte er seinen eisernen Griff um den Lenker. Lange genug, dass Ambros mit dem freien Ellbogen ausholen, ihn seinem Gegner mit voller Wucht ins Gesicht rammen und diesen gleichzeitig von sich stossen konnte. Jan verlor den Halt und dann verschwand er in einer Schneewehe.
Eilig rutschte Ambros nach vorne und griff nach dem führerlosen Lenker. Hektisch sah er sich um. Seine Attacke war von Jans Kumpeln sicherlich nicht unbemerkt geblieben. Aber wo waren sie? Ambros erhielt die Antwort schneller als gewünscht. Hinter ihm, genauso wie von der Seite, heulten Motoren auf. Durch den aufgewühlten Schnee konnte Ambros kaum etwas erkennen, also verliess er sich auf sein Gehör. In einer schwungvollen Drehung wendete er sein Schneemobil und drehte den Gashahn auf. Er steuerte direkt auf die ihm entgegenkommenden Fahrzeug zu. Just in dem Augenblick, als eine Kollision unausweichlich schien, drehten die ihm entgegenkommenden Schneemobile ab. Erleichtert, dass der Plan aufgegangen war, gab Ambros weiter Gas. Er war sich sicher, dass der Schreck über dieses Manöver nicht von langer Dauer war. Bald würden sie die Verfolgung aufnehmen.
Aber wo sollte er hin? Zwar kam er schneller voran, ein Schneemobil taugte allerdings nicht unbedingt für jedes Gelände. Es war auch nicht gerade das, was er als unauffällig bezeichnen würde. Auf einmal fiel ihm etwas ein. Kurz wunderte er sich, dass er nicht früher darauf gekommen war. Ambros steuerte zielsicher durch das Gebirge, brauste haarscharf an Bäumen vorbei und zwischen schroffen Felsen hindurch. Da er bestimmte, wo es lang ging, war er etwas schneller als seine Gegner. Dennoch, lange würden sie nicht brauchen, um ihn einzuholen.
Das Schneemobil brachte er hinter einem riesigen Steinbrocken zum Stehen, stieg ab und rannte, so schnell es ging, zu einer kleinen Holzhütte auf einem Felsvorsprung. Immer wieder sank er knietief im Schnee ein. Inzwischen waren seine Hände eiskalt und er spürte sie kaum noch, doch er brauchte sie, um vorwärts zu kommen. Er glaubte, bereits ewig unterwegs zu sein, aber alles spielte sich in wenigen Minuten ab. Ambros erreichte die Hütte und rammte mit der Schulter die sowieso schon morsche Holztür ein. Sie gab sofort nach. In dem winzigen Hüttchen angekommen, warf er einen Kontrollblick aus dem einzigen, kleinen Fenster. Von der Hütte aus sah man über das ganze Tal, bis hin zu den gegenüberliegenden Bergen. Vor allem sah Ambros aber zwei schnell näherkommende Scheinwerfer.
Hastig schnappte er sich die Skier an der Bretterwand. Dankbar, dass Daniel offensichtlich eine Vorliebe für kalte Füsse hegte, nahm er sich die danebenstehenden Skischuhe. Mit geübter Hand wollte er sogleich hinein steigen, da drang kurz Licht durch die Ritzen und blendete ihn. Er hatte keine Zeit mehr. Die Schuhe unter den Armen, die Skistöcke und Skier geschultert, stolperte er zurück zum Schneemobil. Die jaulenden Motoren liessen ihn aufhorchen. Durch die Bäume konnte er bereits die dunklen Umrisse erkennen, die auf ihn zusteuerten. Gleich hatten sie ihn. Ambros startete gerade den Motor des Schneemobils, als seine Verfolger um den Fels herum jagten. Ambros’ Schneemobil schoss wie ein Pfeil aus seiner Deckung, knapp an den anderen vorbei. Erschrocken brachten die Fahrer ihre eigenen Schneemobile zum Stehen und starrten dem Vorbeisausenden entgeistert nach, wie es auf den unmittelbar danebenliegenden Abhang zuraste und schliesslich von der Dunkelheit verschluckt wurde. Dann war nur noch das ohrenbetäubende Krachen eines heftigen Aufpralls zu hören.
Panik stand in ihren Augen, als Jan, gestützt von einem seiner Helfer, zurück zum Haus humpelte. Die ganze Zeit hatte Alina in der Kälte gestanden und die nervösen Lichter am Berg beobachtet. Jetzt waren ihre Lippen fast blau und die Finger steifgefroren, obwohl sie sie immer wieder nervös rieb. Die Ungewissheit brachte sie schier um den Verstand.
Als Jan auf ihrer Höhe war, blieb er stehen und schaute sie eisig an. Er sah schrecklich aus mit seinen Schrammen. Um das linke Auge bildete sich bereits die Andeutung eines dunklen Blutergusses. „Du kannst aufhören zu warten. Er kommt nicht wieder. Daniel und Pit haben sich um ihn gekümmert.“
Alina spürte, wie ihr das Blut aus den Wangen wich. Sie hatte Mühe, den Kloss in ihrem Hals hinunterzuschlucken. Angewidert beobachtete Jan ihre Reaktion. Dann wandte er sich ab und liess sich ins Haus bringen. Als sich die Tür hinter ihm schloss, brach Alina auf der Stufe zusammen.
Sie schluchzte auf vor Schmerz, aber ihre Augen blieben trocken. Am liebsten hätte sie geschrien, aber kein Laut kam über ihre Lippen. Erdrückt von einer bleiernen Schwere sass sie eine Weile zusammengekrümmt da. Sie wollte nie wieder aufstehen. Was machte es schon, wenn sie hier erfror? Wenn sie einfach die Augen schloss und sie nie wieder öffnete?
Doch dann dachte sie an die letzten Augenblicke mit Ambros und ihr Herz wurde ihr warm. Nein, sie musste leben. Weshalb, konnte sie sich nicht erklären. Noch nicht. Also rappelte sie sich auf. Sie hüllte das kleine, warme Glühen in ihrer sonst leeren Brust in den Mantel der tauben, abgestumpften Gefühle, um es vor der Aussenwelt zu schützen und zu behüten.
Erfüllt von dieser eisigen Ruhe ging sie mechanisch auf die Tür zu, hinter der zuvor Jan und seine Begleiter verschwunden waren und trat in ihr Haus. Dann füllte sie eine Schüssel mit Wasser, griff sich einen Lappen und ging ins Wohnzimmer.
Wie vermutet fand sie Jan halb sitzend, halb liegend auf dem Sofa vor. Ihr Eintreten sorgte für offene Münder. Verständnislos sahen die drei Männer Alina an, während sie sich wortlos niederkniete, den Lappen in das Wasser tauchte und damit Jans feuchte Stirn abtupfte.
Jan wehrte sich nicht. Er schaute seine Frau nur an. Eigentlich kochte er vor Wut, aber er hatte ihre Hand schon so lange nicht mehr in dieser Zärtlichkeit gespürt, dass sein Ärger mit jeder neuen Berührung ein bisschen mehr weggewischt wurde.
Langsam begann er sich zu entspannen. Eine wohltuende Selbstsicherheit und ein ungeheures Gefühl des Triumphs überkamen ihn. Man würde über diese Nacht reden, zwar nur hinter vorgehaltener Hand, aus Angst vor Hans, aber er, Jan, wäre in aller Munde. Als Held. Er hatte seinen Nebenbuhler in die Schranken gewiesen. Das Duell war ausgefochten und die Trophäe gehörte ihm. Ihm ganz alleine.