1986
Endlich waren sie in ihrem Chalet angekommen. Die Sonnenstube des Wallis machte auch heute ihrem Namen alle Ehre, was für die aufgewühlten Gemüter nach der regen- und ereignisreichen Fahrt eine wahre Wohltat war. Um ihre Tochter nicht eine Sekunde aus den Augen lassen zu müssen, scheuchte Verena Marc von ihrem Platz auf dem Balkon aus im Befehlston im ganzen Haus umher, damit die Unmengen an Gepäck dort ihren Platz fanden, wo sie ihrer Meinung nach hingehörten. Marc beschwerte sich nicht. Im Gegenteil. Selbst noch zu erschrocken darüber, dass er beinahe seine geliebte Leonie verloren hätte, kam ihm die körperliche Arbeit gerade recht.
Nachdem alles verstaut war, entschied sich die kleine Familie für einen kleinen Spaziergang durch das Dorf. Dabei liess Marc es sich nicht nehmen, einen ahnungslosen Passanten zu bitten, ein Erinnerungsfoto von der ganzen Familie mit der Hannigalpbahn im Hintergrund zu schiessen. Dann machten sie sich auf, die nötigsten Lebensmittel für die Woche einzukaufen und eine anständige Käsemischung für ihr Fondue auszusuchen. Denn obwohl Verena stets darauf bedacht war, gut auszusehen, und obwohl ihre langen roten Fingernägel nicht für die Hausarbeit geeignet schienen, war sie eine wahrlich meisterhafte Köchin. Dies war auch der Grund gewesen, weshalb Marc sich vor so langer Zeit in sie verliebt hatte.
Damals verbrachte er seine Ferien oft auf dem Bauernhof seines Onkels. Diese Zeit war für ihn immer die schönste gewesen, weshalb er diese Ausflüge zu einer Art Tradition werden liess, die er bis weit über die Pubertät hinaus aufrecht erhielt. Eines Abends, als er beim Abendbrot sass, erhielt er ein Essen aufgetischt, an dessen Geschmack er sich bis zum heutigen Tag erinnerte. Der Kartoffelstock war der cremigste, das Fleisch das feinste, die Möhren die saftigsten und die Sauce die würzigste, die er jemals gegessen hatte. Aus Begeisterung über die Gaumenfreude tat er lauthals Kunde darüber, dass er sofort diejenige zu sehen wünsche, die dieses begnadete Essen zubereitet hatte, damit er ihr umgehend einen Heiratsantrag machen könne. Bei diesem Ausruf begannen die Augen seines Onkels derart zu glänzen, dass Marc Angst bekam, denn positive Gefühlsregungen lagen nicht unbedingt in der Natur seines Onkels.
„Junge“, hatte er gesagt, „ich nehme dich beim Wort.“
Erst jetzt dämmerte Marc, dass er sich etwas zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte. Es war ihm bekannt, dass seine Familie schon lange darauf aus war, ihn schnellstmöglich zu verheiraten, da sie um seine Freiheitsliebe wusste und sich deshalb sorgte, er würde niemals ein gutes solides, sesshaftes Leben mit einer anständigen Frau an seiner Seite führen. Aber genau dies war für seine Familie das A und O.
Hingegen zweifelte er trotz seiner wagemutigen Aussage daran, dass sein Onkel wirklich ernsthaft die altbekannte dicke Köchin mit ihm vermählen wollte. Abgesehen davon, dass sie bereits einen Ehemann hatte. Zu spät kam ihm in den Sinn, dass die altbewährte Köchin niemals etwas dergleichen Schmackhaftes aus ihren Töpfen zauberte, wie es vor ihm auf dem Teller lag. Kaum hatte er den Gedanken zu Ende gebracht, rief sein Onkel aus vollem Hals nach dem kochlöffelschwingenden Wesen. Marc wollte bereits die Flucht ergreifen, da öffnete sich auch schon die Tür zum Esszimmer und ein zierliches, etwas scheues Mädchen mit Stupsnase trat ein. Die Haare hatte sie zu einem langen blonden Zopf geflochten, der auf ihrer rechten Schulter ruhte. Dieser Anblick hatte ihm schlicht den Atem geraubt. Die Flucht war ebenso vergessen wie die Reue über seine Aussage. Leider war das Mädchen nicht so scheu, wie sie sich damals gab. Sie entpuppte sich als zickiges, launisches Weibsbild, das nur schwer zufriedenzustellen war, aber wusste, wann es besser war, den Mund zu halten. Davon liess sich Marc allerdings nicht im Geringsten abschrecken. Er wollte sie. Und nach langem, hartnäckigem Umgarnen bekam er sie am Ende auch.
„…das Brot kleiner schneiden.“
Marc musste mehrmals blinzeln, bis das dunkle Holz des Esszimmers seines Onkels verblasste und die plastifizierte Küchenzeile seiner derzeitigen Umgebung wieder deutliche Formen annahm. „Entschuldige. Was hast du gesagt?“
„Das Brot. Die Stücke sind zu gross! Du versaust alles.“
Ein Blick in die grosse Glasschüssel verriet Marc, dass er die Schellte zu Recht kassierte. Er hätte genauso gut den gesamten Brotlaib in die Schüssel legen und den Käse darübergiessen können. „Ich war in Gedanken. Tut mir leid.“
„Ja, ja. Mach es jetzt einfach gründlich. In Ordnung?“
Reumütig sammelte Marc das Brot wieder aus der Schüssel und begann, es in mundgerechte Stücke zu zerschneiden.
„Leonie?“ Der Ruf hallte durch die ganze Wohnung, so dass Marc befürchtete, die Nachbarn müssten sich gleich allesamt beschweren.
Als die Kleine nicht antwortete, rief Verena einfach noch lauter. „Leonie!“
„Schatz, geh’ sie doch holen, ich rühre derweil weiter.“
Verärgert knallte Verena den Kochlöffel in die Fonduepfanne und stapfte aus der Küche. „Leonie, warum kommst du nicht, wenn ich dich rufe?“
Friedlich mit ihrer Puppe spielend sass das Mädchen in ihrem eigenen Zimmer unter dem Fenster. „Leonie, du kommst jetzt sofort und deckst den Tisch.“
Wortlos stand Leonie auf und tat wie geheissen. Ihre Mutter blieb ratlos im Zimmer zurück. Was hatte die Kleine nur? Beim Abendessen sprach sie die Frage dann laut aus. „Kleines, warum sagst du nichts mehr? Tut dir etwas weh? Ist dir nicht wohl?“
Anstelle von Leonie antwortete Marc. „Sie spricht doch. Zwar mit ihrer Puppe, aber das ist bestimmt nur eine Phase. Mach’ dir keine Gedanken, Schatz.“
Das Thema schien damit beendet, doch nach einer Weile legte Leonie die Gabel hin und sah zu ihren Eltern auf. „Lilli sagte, es wird etwas Schlimmes geschehen.“
„Wie bitte?“ Verena hielt mitten in der Bewegung inne. Der Käse lief zwischen den Zinken ihrer Gabel hindurch und tropfte auf den Teller. „Was soll denn passieren?“
„Das hat sie nicht gesagt.“
„Und woher weiss sie denn so etwas?“
„Sie hat es geträumt.“
„Tatsächlich. Und wann wird es passieren?“
„In dieser Woche.“
Obwohl die Heizung auf Hochtouren lief, fröstelte es Verena genauso wie Marc.
„Herzchen, wie kommst du darauf, dass es diese Woche sein wird?“, hakte Verena weiter nach.
„Sie ist ein kleines Kind, das kannst du nicht ernst nehmen“, flüsterte ihr Marc ins Ohr. Aber Verena liess sich nicht beirren und wiederholte die Frage.
„Lilli sagt, überall war Schnee und ein schrecklich lautes Geräusch. Du warst auch da, Mama.“
„Unfug! Lilli hat das nur geträumt, Schätzchen, du musst also keine Angst haben. Mama hat sich in Lillis Traum vielleicht einen Nagel abgebrochen und laut geschrien, wie sie es immer tut, wenn das passiert. Es ist alles gut. Komm, wir essen weiter. Es wäre doch schade, wenn das Fondue ganz einkochen würde.“
Für diesen unqualifizierten Kommentar erntete Marc einen zornigen Blick, aber die passenden Worte schluckte Verena, schwer um Beherrschung ringend, hinunter. Wieder an Leonie gewandt, fragte sie stattdessen: „Und was habe ich im Schnee gemacht?“
„Du hast geweint.“