Prolog
Noch zogen die Nebelschwaden vor dem Fenster vorbei, doch schon bald würde der Dunst einem herrlich sonnigen Tag weichen.
Mit einem selbstzufriedenen Grinsen hob der Unbekannte am Fenster die Tasse mit dem dampfend heissen Kaffee zum Mund und trank einen herzhaften Schluck. Dann las er den Artikel auf der ersten Seite des Grächner Tagblattes zum dritten Mal an diesem Morgen.
‚Grächen im Blutrausch?’
Grausiger Fund in Gletscherspalte: Wer hat die beiden Männer ermordet?’
Herrlich sensationslüstern und fast so amüsant wie der dazugehörige Text, dachte er abfällig.
‚Eingebettet in das jahrhundertealte Felsgestein wirken die gewaltigen Eismassen des Riedgletschers ruhig und friedlich. Doch das ist alles nur Illusion. Unter der sanften Oberfläche lauern Tod und Verderben.
Dass man nie wissen kann, wann das Grauen über einen hereinbricht, zeigt der jüngste Fund einiger Wanderer. Am frühen Morgen entdeckten sie in einer Gletscherspalte zwei grauenvoll zugerichtete Leichen. Ihre Körper sind mit unzähligen Einstichen übersät, die auf eine grausame Bluttat hinweisen. Ein schrecklicher Verdacht breitet sich im Bergdorf Grächen aus, der die Bewohner unruhig auf die jüngere Vergangenheit ihres Dorfes zurückblicken lässt. Aber die Polizei schweigt. Die Identität der Toten ist noch nicht geklärt. Doch manche erinnern sich, dass im Jahr 1986 einige Menschen spurlos aus dem Dorf verschwunden sind. Gibt es einen Zusammenhang?’
Immer noch grinsend liess er die Zeitung wieder sinken und lenkte seine Aufmerksamkeit auf die glühende Sonne, die sich jetzt langsam und anmutig über das schroffe, graue Felsgestein schob. Nach und nach verfärbte sich das abweisend kalte Blau des ewigen Eises in ein warmes unschuldiges Rotgold. Er genoss das gewaltige Naturschauspiel, während er über den letzten Satz des Zeitungsartikels nachdachte.
Ja. Ja, es gibt einen Zusammenhang, dachte der Unbekannte. Aber niemand wird ihn entdecken. Und falls doch, wird es zu spät sein. Denn der Mörder ist wohlauf - und noch lange nicht fertig.