2010
Gedankenverloren starrte Sebastian auf das Etikett der Bierflasche, die er hin und her drehte, ohne wirklich zu wissen, was darauf stand. Der Abend war kurzweilig gewesen, die Gäste trinkfreudig. Das war gut, denn so hatte er keiner Zeit gehabt, weiter den düsteren Gedanken nachzuhängen. Dennoch war Sebastian nicht ganz bei der Sache gewesen. Immer wieder hatte er falsch gerechnet oder ein anderes Getränk serviert als bestellt worden war. Ohne, dass er etwas dagegen hätte tun können, schweiften seine Gedanken andauernd zurück zu dem Gespräch mit seinem Vater, das er vor ein paar Stunden mit seinem überstürzten Aufbruch unterbrochen hatte. Aber noch mehr Information hätte er nicht ertragen können.
Seine Hoffnung, niemand möge etwas von seiner mangelnden Konzentration bemerken, schien sich zu erfüllen. Bisher hatte ihn jedenfalls noch keiner darauf angesprochen. Vielleicht waren alle zu sehr mit ihren eigenen Ablenkungsversuchen beschäftigt, dachte er. Aber er irrte.
„Warum hast du ihr nicht alles erzählt?“
Träge hob Sebastian den Kopf. Seine eigenen warmen, grünen Sprenkel kreuzten direkt Sörens stechend kaltes Blau.
„Lass mich in Ruhe.“
„Oh, glaub mir, das würde ich zu gerne tun. Kann ich aber nicht.“
Genervt trank Sebastian einen grossen Schluck und setzte die Flasche wieder vor sich ab, ohne den Blick noch einmal auf Sören zu richten. „Was willst du von mir?“
„Eigentlich will ich, dass du Leonie in Ruhe lässt, aber da sie nichts gegen deine plumpen Annäherungsversuche einzuwenden hat, wird sie dich wohl nicht abservieren. Noch nicht. Eine Möglichkeit gibt es da noch. Du hast ihr nicht die ganze Wahrheit gesagt. Du weisst mehr, davon bin ich überzeugt.“
„Wovon redest du eigentlich?“
„Tu nicht so scheinheilig. Seit du heute in die Bar gekommen bist, bist du nicht bei der Sache. Also frage ich mich, was in den letzten Stunden vorgefallen ist.“ Ohne die unterschwellige Feindseligkeit hätte man Sörens Aussage beinahe als fürsorglich einstufen können.
„Nichts ist vorgefallen. Und wenn doch, dann ginge es dich zuletzt etwas an.“
„Wenn du dich da mal nicht täuschst.“ Diesmal kam die Feindseligkeit offen zum Vorschein. Herausfordernd funkelten sich die beiden Männer an.
„Was ist denn hier los?“
Sofort verbargen beide ihre ehrlichen Mienen hinter einer unerschütterlich freundlichen Maske. „Nichts. Ich hatte nur das Gefühl, unser lieber Sebastian hier wollte sich noch etwas von der Seele reden. Er scheint mir seit Anfang des Abends etwas durch den Wind zu sein. Da habe ich mich als Lastesel angeboten, doch meine Wenigkeit ist offensichtlich nicht das, was er braucht. Vielleicht hast du mehr Glück.“ Etwas zu fest um freundschaftlich zu sein, klopfte Sören Sebastian auf die Schulter. Dann zog er ab.
Indes schob sich Leonie auf den Barhocker neben Sebastian. Beiläufig hob sie ihr Whiskeyglas. Ganz automatisch stiess Sebastian mit ihr an.
„Was hat Sören damit gemeint? Stimmt etwas nicht?“
„Abgesehen davon, dass sich meine kleine heile Welt als Spielplatz von intriganten Mördern entpuppt?“ Die bittere Ironie in seinen Worten war deutlich hörbar.
Betrübt senkte Leonie den Kopf. „Es tut mir leid. Das ist alles meine Schuld.“
Ein Ruck ging durch Sebastian. Grob packte er Leonie an den Schultern und drehte sie zu sich. „Spinnst du? Wenn es um Schuldzuweisungen geht, bin ich der erste, den es trifft. Meine Verantwortungslosigkeit hat uns hierhergebracht. Aber darum geht es nicht. Diese Geschichte wächst uns langsam über den Kopf.“
„Ich soll zur Polizei gehen? Vielleicht hast du Recht.“
„Nein. Du bist solange in Gefahr, wie jemand rumschnüffelt.“
„Du meinst…“ Leonie wollte den Gedanken nicht zu Ende bringen. Musste sie auch nicht, Sebastian übernahm das für sie.
„Es ist vorbei.“
Ungläubiges Entsetzen spiegelte sich in Leonies Augen. „Das kann nicht dein Ernst sein. Wir sind so nahe dran!“
„Leonie“, er löste eine Hand von ihrer Schulter und legte sie behutsam auf ihre Wange, den Blick fest auf ihre Augen gerichtet. „Wem machen wir hier etwas vor?“ Sebastian war sich nicht sicher, wofür diese Frage in Wahrheit bestimmt war. Zu Leonies Schutz oder zu seinem eigenen? Oder zum Schutz seines Vaters?
Leonie, die sich weich und vertrauensvoll auf seine warme Berührung eingelassen hatte, erstarrte zu Eis. Ungläubig schüttelte sie langsam den Kopf. Ein Gefühl des Verrats loderte in ihr auf und brannte zu schnell und zu überwältigend, als dass sie es einfach hätte beiseite schieben können. Steif stand sie auf, mechanisch ging sie davon.
Draussen angekommen atmete sie erst einmal tief ein. Sie musste ihre Gedanken ordnen. Dafür bot sich ein Spaziergang in der kalten Nachtluft durch das stille Grächen geradezu an. In den meisten Wohnungen brannte noch Licht. Die Leute waren also noch wach und wenn sie zudem den beleuchteten Strassen nachging, würde sie wohl kaum jemand anrühren. Also stapfte sie los. Bald schon war sie von ihren Gedanken derart eingenommen, dass sie nicht mehr auf den Weg achtete. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie begriff, dass die Chalets sich lichteten und die helle Strassenbeleuchtung nach und nach schwächer wurde, bis vor ihr nur noch eine schwache Reflektion den Nachthimmel erhellte.
Innerlich fluchend blieb Leonie stehen und versuchte sich zu orientieren. Tatsächlich erkannte sie den Ort. Verwundert stellte sie fest, dass sie auf die Strasse Richtung Bergji geraten war. Hier kam nur eines in Frage: Umdrehen.
Doch mitten in der Bewegung hielt Leonie inne. Hatte sich im Schatten der Bäume etwas bewegt? Ein mulmiges Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. Das erste Haus am Dorfrand war nur ein paar Meter entfernt. Das war machbar. Also setzte sie sich wieder in Bewegung. Ganz von alleine beschleunigten sich ihre Schritte. Erleichtert dachte sie daran, es beinahe geschafft zu haben, da löste sich ein Schatten aus der Dunkelheit und legte ihr die Hand fest und unerbittlich auf den Mund. Ihr Schrei verebbte zu einem gurgelnder Laut, noch bevor er ihre Kehle erreichte. Beschwichtigend flüsterte ihr eine Stimme ins Ohr. „Ganz ruhig! Ich bin’s nur!“
Dann liess die Hand von ihr ab. Ohne weiter nachzudenken drehte sich Leonie um, holte mit der geballten Faust weit aus und traf Sören direkt am Kinn. Er strauchelte, konnte sich aber auf den Füssen halten. Aber anstatt sich aufzuregen, zuckte ein belustigtes Lächeln um seine Mundwinkel. „Du hast ’ne ziemlich harte Rechte für ein Mädchen.“
„Und du kannst gleich noch meine Linke ausprobieren, es sei denn, du schmierst dir dein selbstgefälliges Grinsen selbst aus dem Gesicht!“ Teils vor Schreck, teils aus Wut darüber, dass er sie schon wieder aus dem Hinterhalt angefallen hatte, schwang sie drohend die linke Faust. Wenn er sie nochmals herausforderte, würde sie ohne zu zögern erneut zuschlagen. Er hatte es nicht besser verdient.
„Schscht! Oder willst du die ganze Nachbarschaft aufwecken?“
„Im Fenster brennt Licht und der Fernseher flackert. Da gibt’s nichts zu wecken.“
„Ich seh’ schon, dein Sarkasmus ist auf Spazierfahrt. Du brauchst wohl noch ’ne Weile um wieder runterzukommen. Aber vielleicht hilft dir meine kleine Überraschung dabei.“
Jetzt regte sich ein kleiner Funke kindlicher Neugierde in ihr, der direkt ihre Augen erreichte. Sören bemerkte die Veränderung in dem leuchtenden Grün und nahm Leonie lächelnd an der Hand. Zusammen zogen sie weiter. Weiter weg vom Dorf. Weiter in die Dunkelheit.
„Timo? Was hast du für mich?“ Von seinem Klingelton aus den sinnlosen Grübeleien gerissen, war Sebastian auf einen Schlag wieder ganz da. Verdutzt bemerkte er ganz nebenbei, dass das Licht der Bar bis auf die Leuchtreklame erloschen war. Von seiner Bierflasche perlte das Eiswasser ab und der Inhalt hatte ein leichtes Schaumkrönchen. Über dem Etikett klebte ein Zettel. Er erkannte Angelas geschwungene Handschrift sofort. ‚Wenn du wieder zu dir kommst, geniess das frische Bier. Wenn du uns brauchst, wir sind da. Aber schliess die Bar, bevor du kommst.’
Der letzte Satz stand in Saschas krakeligen Lettern geschrieben. Das passte. Da wollte er den ganzen Abend seine geistige Abwesenheit verheimlichen und stand dann derart neben sich, dass er kaum mehr mitbekommen hatte, dass seine Freunde rund um ihn herum die Bar dicht gemacht hatten. Genauso wie er gerade eben nicht mitbekam, dass Timo immer noch in der Leitung war und mit Ausrufen in den verschiedensten Tonlagen versuchte Sebastians Aufmerksamkeit zurückzugewinnen.
„Ja! Nein! Ich bin dran! Tut mir leid Timo, aber du weisst ja, ein Abschiedskuss deiner Frau haut den Stärksten um.“
Vom anderen Ende der Leitung folgte umgehend die erwartete Lass-meine-Frau-in-Ruhe-Standpauke, die Sebastian nutzte, um das Telefon kurz wegzulegen, seine Jacke überzuziehen, die Reklamen zu löschen, zu kontrollieren, ob die vordere Tür verriegelt war und sich schliesslich mitsamt Telefon aus der hinteren Tür zu schleichen, die er regelkonform schloss. Dann erst hob Sebastian das Telefon wieder an sein Ohr. Gerade rechtzeitig, um brav auf Timos Vortrag über ‚Freunde fassen die Frauen anderer Freunde nicht an, zu antworten.
„Bereits nach unserer ersten Begegnung habe ich verstanden, dass sie dein Mädchen ist, obwohl du mit der blutenden Nase nach Hause gegangen bist.“ Diese oberflächliche Auseinandersetzung zusammen mit der frischen eisigen Luft sorgte dafür, dass sich Sebastian ein wenig entspannte.
Durch die Ablenkung dachte er nicht darüber nach, wo er hin wollte. Seine Beine schlugen ganz von alleine den Weg zu seiner Wohnung ein. Wie gewohnt spazierte er vom Zentrum weg, an der schlafenden Hannigalpbahn vorbei, weiter Richtung Ende des Dorfes.
Dann geschahen zwei Dinge auf einmal. Sebastian blicke die Strasse hoch. Dort parkte ein grosser, dunkelgrüner Geländewagen, den er nur zu gut kannte.
Gleichzeitig begann Timo loszuwerden, weswegen er eigentlich angerufen hatte. Sofort verhärteten sich Sebastians Gesichtszüge. Sein ganzer Körper war in Alarmbereitschaft.
Er beschleunigte seine Schritte, bis er bei dem Chalet ankam, das er sein Zuhause nannte. Noch bevor er seine Wohnung betrat, wusste er, er würde seinen Vater dort nicht antreffen, obwohl dessen Auto vor dem Haus stand. Dennoch rannte er die Treppe hinauf. Hastig öffnete er die Tür. Alles war dunkel.
Immer noch hörte er Timos Bericht an. Aber auf dessen besorgte Nachfrage reagierte er nicht mehr. Stattdessen beendete er das Gespräch und rief nach seinem Vater. Keine Antwort. Er hetzte durch die kleine Wohnung. Nichts. Da fiel sein Blick auf die Balkontüre. Sie gab ihm die Sicht auf ein wundervolles Waldstück frei. Dazwischen ein Sessellift. Die Sessel schaukelten nicht nur im Wind, sie bewegten sich vorwärts. Mitten in der Nacht. Ohne weiter nachzudenken stürmte Sebastian aus der Wohnung.
„Gib mir wenigstens einen Tipp!“ Inzwischen war der Ärger mit Sebastian vollkommen unter freudiger Erregung begraben.
„Nein.“
„Ach komm schon, Sören!“ Da hielt er in der Bewegung inne und Leonie sah auf. Ihr vorfreudiges Lächeln wandelte sich in Erstaunen. „Wie hast du das denn hingekriegt?“
„Der Betreiber hatte eine romantische Ader. Also hat er mir den Schlüssel gegeben. Aber sollte uns jemand erwischen, bin ich wegen Diebstahl dran. Denn die offizielle Version lautete, dass ich den Schlüssel für das Häuschen geklaut habe.“
„Du bist irre!“
„Sozusagen. Jetzt komm!“ Sören zog Leonie mit sich und bedeutete ihr, auf dem heranfahrenden Sitz Platz zu nehmen. Der Lift rumpelte leise, während die einzelnen Vierersessel über die Rollen ratterten. Ansonsten war es beinahe gespenstisch still. Dunkel ragten die Spitzen der Tannen in den nachtblauen Himmel und rundherum leuchtete der weisse Schnee. Entzückt sog Leonie die magischen Eindrücke in sich auf.
Oben angekommen wäre sie am liebsten noch eine Runde gefahren. Aber Sören öffnete den Sicherheitsbügel und gab ihr einen kleinen Schubs, so dass sie vom Sitz rutschte.
„Und nun?“
„Nicht so ungeduldig. Dreh dich bitte um und schliess die Augen.“ Gespielt skeptisch tat Leonie bereitwillig, was von ihr verlangt wurde. Sören zauberte ein samtenes, dunkelrotes Tuch aus seiner Jacke und band es behutsam um Leonies Augen. „Damit du nicht schummelst.“ Belustigt hob Leonie eine Augenbraue, sagte aber nichts. Er kannte sie einfach zu gut.
Den Arm um ihre Schulter gelegt, führte er sie dann quer über die Skipiste bis zu der kleinen Kapelle auf der anderen Seite. „Okay. Nicht bewegen, klar?“ Sie nickte zustimmend. „Sehr gut.“
Die Stelle, an der Sörens Arm gelegen hatte, wurde kalt. Sie spürte, wie er sich von ihr entfernte. Gespannt lauschte sie in die Dunkelheit. Da! Ein Rascheln. War er das oder ein nachtaktives Tierchen auf der Jagd? Noch ein Geräusch. Das konnte sie überhaupt nicht zuordnen. Dann ein Knarren. Öffnete er die Tür zur Kappelle? Was wohl darin verborgen lag? Wieder etwas. Es klang irgendwie - Leonie bemühte sich, genauer hinzuhören - als ob nebst Sören noch jemand anderes da wäre. Sie hörte jemanden atmen. Aber nicht flüssig. Eher in kurzen Stössen. Abgehackt und stockend. Konnte das sein?
Dann drehte der Wind. Ein Geruch stieg ihr in die Nase. So vollkommen anders als der frische Geruch nach Schnee und Eis. So unpassend. Schwer und blumig. Warte. Diesen Geruch kannte sie doch! Nur, woher?
„Leonie? Ich will dich nicht weiter auf die Folter spannen, also mach dich bereit. Achtung, Trommelwirbel, tata!“ Sören konnte die Mischung aus überschäumender Begeisterung und gespannter Erwartung kaum zügeln.
Als die Augenbinde fiel, sah Leonie überhaupt nichts. Ihre Augen mussten sich erst an das fahle Licht gewöhnen. Die Konturen der Umgebung wurden schärfer und die Silhouetten begannen sich in verschiedenen Farbnuancen noch deutlicher voneinander abzuheben. Aber das ging alles zu langsam. Ungeduldig blinzelte Leonie, um schneller erkennen zu können. Ohne dass sie es hätte steuern können, klappte ihr die Kinnlade runter. Verblüfft stand sie da und suchte in ihrem plötzlich leergefegten Gehirn nach Worten. Doch die Wüste hatte sich breit gemacht.
„Sie ist sprachlos! Wie entzückend!“ Die Stimme war etwas zu schrill und tat Leonie in den Ohren weh. Genauso war das Blond der Haare etwas zu grell. Leonie musste mehrfach blinzeln, ehe sie sich sicher sein konnte, dass sie nicht träumte.
„Verena?“ Ungläubig musterte Leonie ihre Mutter. Sie glaubte immer noch an eine Fata Morgana, anders liess sich deren Anwesenheit nicht erklären.
„Jetzt hat sie’s!“ Das schien eher an Sören gerichtet zu sein, was Leonie nur noch mehr irritierte. Heillos überfordert schnappte sie nach Luft. „Oh, fast vergessen“, Verena stellte sich übermütig in Pose, warf die Arme auseinander und rief laut: „Überraschung! Freust du dich, mich zu sehen?“
„So kann man es auch sagen.“ Langsam legte sich die Wüste. Als hätte jemand einen Damm eingerissen, brach stattdessen eine Flut von Fragen über Leonie herein. Sie bediente sich daher an der ersten greifbaren. „Was soll das ganze Theater?“
„Willst du, oder soll ich?“ Mit einem bezaubernden Augenaufschlag und einem hinreissenden Lächeln schaute Verena ganz kurz zu Leonie, dann direkt an ihr vorbei, um einen intensiven Blickkontakt aufzubauen - der zu Leonies blankem Entsetzen erwidert wurde. Sie konnte nicht anders, als kurz die Augen zu schliessen und die Schläfen mit den Fingern zu bearbeiten. Doch der plötzlich stechende Kopfschmerz liess sich nicht so einfach vertreiben.
„Du kannst viel schöner präsentieren als ich, also darf ich das Erzählen übernehmen?“
Ein leises, verzweifeltes Stöhnen entrann Leonies Kehle. Ihre grinsenden Gegenüber ignorierten es. „Okay. Dann mal los. Ich kann es kaum erwarten!“ Tatsächlich sah Verena aus wie ein Kind vor dem Süssigkeitenregal.
„Hey, bevor hier irgendjemand irgendwas erzählt, was genau läuft zwischen euch und wie lange schon?“
„Du greifst vor! Aber gut. Schon ziemlich lange.“
Jetzt wurde Leonie auch noch übel. „Hattet ihr zwei schon“, sie zeigte je mit einer Hand auf Verena und Sören und führte die Finger zusammen, “bevor wir zwei?“ Dieselbe Geste, nur bezog sie dieses Mal sich selbst mit ein.
„Und während. Aber das tut nichts zur Sache.“
Leonie hatte plötzlich weiche Knie. Sie wusste nicht, dass es noch viel schlimmer kommen sollte.
„Jedenfalls, liebe Leonie, haben du und ich uns aus einem bestimmten Grund kennengelernt. Wie ich anlässlich der Gespräche mit deiner Mutter feststellen musste, haben wir etwas gemeinsam. Wir erlitten nämlich ein ganz ähnliches Schicksal. Und der Ursprung unser beider Leids liegt hier. In dem Dorf zu unseren Füssen.“
Vergessen war die ekelhafte Vorstellung über ihre Mutter und Sören. Er hatte ihre volle Aufmerksamkeit. „Ich bin nicht in die Schweiz gekommen um zu studieren. Sondern um etwas zu beenden, was vor langer Zeit begann. Dass sich dabei unser aller Wege kreuzten, gestaltete die ganze Sache noch etwas interessanter. Als mir deine Mutter davon erzählte, was mit deinem Vater geschehen ist und dass sein Tod nie gesühnt worden war, kochte die sowieso schon vorhandene Wut auf dieses Kaff nur noch höher. Also schlossen wir einen Pakt. Egal wie, ich würde dich dazu bringen, in Grächen nach dem Mörder deines Vaters zu suchen. In der Zeit konnte ich das tun, wozu mein Vater nie gekommen ist. So würden beide Verbrechen gesühnt und die längst überfällige Rache wäre die unsere.“
Ein blutrünstiger Ausdruck trat in Sörens Augen, der Leonie davon abhielt, nach seinem Vater zu fragen. Stattdessen brannte ihr etwas anderes auf der Zunge. „Aber ich habe doch denjenigen, der meinen Vater angefahren hat, noch gar nicht gefunden!“
Mit zunehmendem Unbehagen verfolgte Leonie die Veränderung in Sörens Gesicht. Der leicht irre Ausdruck wich einem wissenden Lächeln. „Ach, Leonie. Weisst du, beim Aussuchen deiner Spielgefährten greifst du ab und zu ganz schön daneben.“
Es war deutlich, dass er damit nicht sich selbst meinte, daher überhörte er auch Leonies ironisches „Tatsächlich?“
„Zum Glück gibt es ja noch diejenigen, die einen klaren Verstand behalten, während deiner vernebelt ist. Ansonsten wäre dieses kleine Spektakel nicht möglich gewesen.“ Stolz hielt er inne. Fast, als würde er sich eine Minute gönnen, um sich selbst zu feiern. „Wie dem auch sei, dein Hündchen hat dir eine wichtige Tatsache verschwiegen, als er dich bat, die ganze Geschichte zu vergessen. Blöd nur, dass ich nicht ganz unabsichtlich zur richtigen Zeit am richtigen Ort war. Verena?“
Wie die Assistentin in einer schlechten Zaubershow juckte Verena auf, als sie ihren Namen hörte und schritt emsig zur Tat. Bisher hatte Leonie nicht bemerkt, dass Verena in einer ziemlich unbequemen Pose ausgeharrt hatte.
Erst, als sie ihren Arm bewegte, sah Leonie, dass Verena die Hand leicht verdreht im Schatten der Türöffnung verborgen hielt. Unweigerlich schoss Leonie ein Gedanke durch den Kopf. Was hatte dieser Bastard mit ihrer Mutter angestellt? Von plötzlicher Sorge erfüllt, trat sie einen Schritt auf ihre Mutter zu, doch als wäre sie gegen eine unsichtbare Mauer geprallt, stockte sie in der Bewegung und taumelte entsetzt wieder einige Schritte zurück. Ungläubig starrte sie auf die dunkle Türöffnung. Erst blitzte eine Reihe von silbern schimmernden Elementen auf, aber noch bevor Leonie sich fragen konnte, ob das wirklich die Glieder einer soliden Kette waren, endeten sie auch schon zwischen zwei schwieligen Objekten, die derart geschunden waren, dass sie kaum mehr als Hände identifiziert werden konnten.
In erwartungsvoller Anspannung verfolgte Sören mit leuchtenden Augen seine Inszenierung und die Reaktion der einzelnen Darsteller. „Endlich. Vergangenheit und Gegenwart treffen aufeinander und verschmelzen zu der einen Geschichte, die sie eigentlich schon immer waren.“
Leonie hörte nicht hin. Auf den Ruck, mit dem Verena an der Kette zog, stolperte eine geschwächte Gestalt in den schwachen Schein der Nacht. Das Gesicht war deutlich erkennbar schmutzig und mit Blut überströmt. Weitere unidentifizierbare dunkle Stellen breiteten sich über die ganze sichtbare Haut aus. Und davon gab es in Anbetracht der eisigen Temperaturen viel zu viel. Denn die Person trug zu seinen massiven Winterstiefeln und der Jeans lediglich ein rot kariertes Holzfällerhemd.
Leonie wollte das Herz zerspringen. „Heinz?“ Da versagte ihr die Stimme. Sie fühlte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Flehend sah sie zu Sören. Der schien nur darauf gewartet zu haben. „Ja, traurig, nicht wahr? Hier hast du ihn, wahrlich und leibhaftig, den Mann, der deinen Vater getötet und dich sowie deine Mutter um viele Jahre Familienglück gebracht hat. Und dein lieber Freund, sein Sohn“, in einer dramatischen Geste deutete Sören auf Heinz, “hat von alledem gewusst und dir nichts gesagt.“
Verständnislos musterte Leonie Sören. „Was erzählst du mir da?“
Jetzt hatte er die gewünschte Aufmerksamkeit. Alles lief wie geplant. Dass Verena dasselbe dachte, stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Triumphierend lächelnd stand sie daneben und hielt ihren Gefangenen in Schach.
„Sebastian ging noch einmal zu Heinz. Alleine, wie er glaubte. Er hat ihn wiederum nach den damaligen Vorfällen gefragt, fast so, als hätte er, auch ohne die Antwort zu hören, schon mehr gewusst. Seine Ahnung hat er dir aber auch verschwiegen. Stimmt’s?“
Leonie nickte nur schwach.
„Ich hab’s gewusst. Dieser verlogene Schweinehund! Wie dem auch sei, Heinz hat ihm eine rührselige Geschichte dreier Männer aufgetischt, die nicht nur das Dorf unter Kontrolle hatten, sondern auch Heinz. Und alles wegen Geld. So hat er wohl auch einiges dafür bekommen, dass er deinen Vater umgemäht hat. Ungestraft kam er davon! Aber das war schon immer so, nicht wahr?“ Nun richtete Sören seinen Blick auf Heinz und sah ihn wutentbrannt an. „Immer habt ihr die Schuld eurem auserwählten Sündenbock aufgebürdet, nie habt ihr selbst dafür gerade gestanden. Ihr habt sein Leben zerstört!“
Leonies Blick huschte von Sören zu Heinz und zurück. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass Sören mit dieser Inszenierung nicht nur ihr und ihrer Mutter einen Gefallen tun wollte. Die Konzentration auf die einzelnen Bausteine dieses bizarren Erlebnisses bewirkte, dass Leonie ihr aufgewühltes Inneres etwas beruhigen konnte. „Sören, hier geht es doch nicht mehr nur um mich und Verena. Oder?“
Mit einmal Mal verhärteten sich Sörens Gesichtszüge. Die Kiefermuskeln spannten sich deutlich an und die sonst so hellen, strahlenden Augen nahmen die dunkle Farbe sturmgepeitschter Meere an. Die Hände zu Fäusten geballt, traten die Fingerknöchel weiss hervor. „Nein, es ging nie nur um dich oder Verena.“ Wieder an Heinz gewandt, fuhr er fort: „Ihr habt auch meinen Vater zerstört. Dabei hat er nichts getan!“ Langsam trat er auf Heinz zu. Seine Umgebung schien er vergessen zu haben. Heinz schüttelte den Kopf, aber der Knebel hinderte ihn am Sprechen. „Sagt dir der Name Ambros noch etwas?“
Jetzt weiteten sich Heinz’ Augen vor Überraschung. Auch in Leonie regte sich etwas, aber sie konnte es nicht zuordnen.
„Ja, ganz richtig, mein lieber Heinz. Ambros war mein Vater und er hat mir alles erzählt. Er erzählte mir, wie ihr ihn wie ein wildes Tier gejagt habt, wie er nur durch eine List davongekommen ist. Ja, da staunst du, was? Er hat das Schneemobil alleine über die Klippe geschickt. Er selbst floh durch die Berge und schlug sich nach Italien durch, von wo aus er sich über Frankreich bis nach Schweden durchkämpfte. Erst dort, viele tausend Kilometer von euch entfernt, wagte er einen Neuanfang. Meine Mutter war schwach. Sie machte sich vor langer Zeit aus dem Staub, denn sie hörte die Geschichte über Vaters Vergangenheit nicht gerne, ich hörte sie dafür umso lieber. Und mit jeder Erzählung wuchs mein Hass. Noch bevor ich volljährig war, wusste ich, ich würde zurückkehren und die Verantwortlichen für ihre taten bluten lassen. Also bin ich hergekommen um das, was ihr ihm angetan habt, zu sühnen. Leider sind von euch nicht mehr ganz so viele übrig, wie ich gehofft hatte.“
Da fiel Leonie etwas ein. Bestürzt schloss sie für einen kurzen Moment die Augen. „Hans Zumbrunn… Du warst das.“
Sören schien erfreut, er liess von Heinz ab und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf Leonie. „Wusste ich doch, dass du die Richtige bist.“ Stolz trat er an ihre Seite. Noch bevor Leonie fragen konnte, was er damit meinte, griff er in seine dicke Jacke, zog einen schwarzen Gegenstand hervor und reichte ihn ihr. „Hier. Bring die Geschichte zu einem Ende. Tu es für deinen Vater, deine Mutter, deine verlorene Kindheit und vor allem für dich.“
Reflexartig streckte Leonie ihre Hand aus und nahm den ihr angebotenen Gegenstand, noch bevor sie realisierte, was von ihr verlangt wurde. Verdutzt starrte sie auf ihre Handfläche. Noch nie hatte sie eine Waffe gehalten. Und jetzt lag da eine direkt in ihrer Hand. Schwer, schwarz und gefährlich. Sie umfasste sie, wie sie es aus Filmen kannte. Beide Hände um den Schafft, den Lauf geradeaus gerichtet.
„Ja. Genauso. Na los, mein Schatz, tu es!“ Unheilvoll und gesichtslos schwebte das aufgeregte, erwartungsvolle Flüstern Verenas zu Leonie und umwaberte sie wie der eisige Wind. Unweigerlich hob Leonie die Waffe mit ausgestreckten Armen etwas höher. Den Lauf direkt auf Heinz’ Kopf gerichtet. Sie musste sie nur noch entsichern und abdrücken.
„Ja, sieh’s dir an. Auch du kannst sie jetzt nicht mehr aufhalten.“
Leonie verstand nicht an wen sich die Worte richteten. Irritiert sah sie sich um.
„Tu es nicht. Leg die Waffe weg.“ Sie hörte die warme Stimme, noch bevor sie ihn sah. Dann entdeckte sie ihn. Er hatte sich erstaunlich nahe an die kleine Gruppe heranschleichen können, ohne dass sie ihn bemerkt hätten. Oder hatte Sören ihn schon lange gesehen? Gefesselt von seinem intensiven Blick verharrte Leonie in ihrer Position. Er wirkte nicht aufgewühlt, nicht flehend, nicht verwirrt und auch nicht verzweifelt. Sondern ruhig und besonnen. Das war irritierend, vermutete sie ihre eigenen Gefühle derzeit doch im Auge eines Orkans wiederzufinden.
„Er hat ihn nicht umgebracht.“
„Lächerlich!“ Wütend schleuderte Sören das Wort nur so heraus. „Erschiess ihn und seinen Sohn gleich mit! Er hat dich benutzt, mit dir gespielt, dich verraten!“
„Er hat ihn vielleicht angefahren, getötet wurde er aber erst im Krankenhaus.“
Leonies Hand begann zu zittern. Sebastian wertete das als gutes Zeichen und sprach weiter auf sie ein. „Timo hat ein wenig rumgeschnüffelt. Jemand hat deinem Vater Arsen verabreicht. Wahrscheinlich über den Blutverdünner.“
Wieder eine Flut Bilder. Ein Mädchen unter einer Fensterbank, zwei Füsse in schwarzen Schuhen, ein weisser Kittel, eine Hand in der Tasche, eine Hand am Schlauch zum Arm ihres Vaters, wild piepsende Geräte. Leonie japste nach Luft. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie vergessen hatte zu atmen.
„Woher will er das nach so vielen Jahren wissen, hä?“ Wutentbrannt kreischte Verena Sebastian an. Ihre Stimme war noch um einige Oktaven gestiegen.
„Ihretwegen. Sie haben sich eine Kopie der Patientenakten geben lassen. Wissen Sie noch?“
Verenas Kinnlade klappte herunter. Mit offenem Mund starrte sie Sebastian an.
„Mein Hausarzt…“
„Genau. Sie haben ihm die Akten zur Durchsicht gegeben. Wahrscheinlich in der Hoffnung, das Krankenhaus verklagen zu können. Wie das bei Hausärzten so läuft, hatte er aber noch ganz viele andere Fälle. So rutschte die Akte Ihres Mannes immer tiefer und tiefer und geriet in Vergessenheit. Bis zu Timos Telefonanruf.“
„Aber wie…?“
„Timo hatte mit meinen Informationen und der Vermutung auf einen unnatürlichen Tod eine völlig neue Ausgangslage. Er hatte eine Ahnung, wonach er suchen musste. Damals wäre keiner auf die Idee gekommen, dass das Ganze nicht mir rechten Dingen zugegangen ist. Also hat man es bei der oberflächlichen Betrachtung belassen und den Fall als erledigt abgelegt. Und genau darauf hat der Mörder spekuliert. Sein Plan ist vollständig aufgegangen.“
„Und wer soll das getan haben? Das ist doch alles Schwachsinn!“ Sören vermochte die Ungeduld in seiner Stimme nicht zu verbergen. „Dein Vater ist schuldig und muss dafür bestraft werden!“ Und weit weniger energisch fügte er an Leonie gewandt hinzu: „Oder ich erledige das. Aber dann muss ich leider auch dich erledigen.“
Noch bevor Leonie begriff, packte Sören sie fest am Arm. Eine entsetzliche Vorahnung veranlasste sie, ihren Blick zu senken. Da entdeckte sie sie. Sören hatte eine zweite Waffe bei sich - und die Mündung war direkt auf Leonie gerichtet.
Im ersten Augenblick schockiert, wich ihr Entsetzen schnell einem anderen Gefühl. Ein Gefühl des Elends. Sie stand mit dem Rücken zur Wand. Nur ein Ausweg war gangbar. Derjenige mit den wenigsten Opfern. Langsam hob sie erneut die Arme. Die Waffe fest im Griff. Sie zitterte nicht mehr.
Als hätte sie es schon tausendmal gemacht, entsicherten ihre Finger ganz von selbst die Pistole und schlossen sich dann um den Abzug. Verena hatte sich inzwischen wieder gefangen und während sie ihre Tochter beobachtete, breitete sich dasselbe siegessichere Lächeln auf ihrem Gesicht aus, wie es Sörens Züge erhellte.
Nur einmal noch wandte sie den Kopf von ihrem Ziel ab und versenkte ihren Blick in Sebastians Augen. Und sie erkannte seinen Schmerz. Der Schmerz, der auch der ihre war. „Es tut mir so leid.“ Sie flüsterte es nur, aber er hörte sie. Er deutete nur ein leichtes Kopfnicken an, doch sie verstand. Tief einatmend richtete sie den Blick wieder auf Heinz, der einfach nur ruhig dastand und wartete. Ihre Handflächen waren trotz der Kälte schweissnass. Sie musste sich konzentrieren. Noch einmal atmete sie tief ein, richtete sich zu ihrer vollen Grösse auf und - drückte ab.
Mit einem dumpfen Knall löste sich der Schuss. Und exakt in diesem Augenblick stürzte sich Sebastian auf Sören. Er erwischte ihn mit voller Wucht und riss ihn um. Überrumpelt durch den überraschenden Angriff glitt Sören die Waffe aus der Hand und landete irgendwo im Schnee. Während er verzweifelt versuchte, Sebastian abzuwehren, tastete er immer wieder danach. Aber Sebastian holte mit der Rechten aus und erwischte Sören schmerzhaft am Kinn. Wutentbrannt versuchte dieser mit der flachen Hand Sebastians Kopf wegzudrücken, um sich etwas mehr Bewegungsfreiheit zu schaffen. Und es gelang. Sören konnte sich soweit strecken, dass er an das kleine Messer in seinem Gürtel herankam. Ohne zu zögern zog er heraus und stach ziellos zu.
Er erwischte Sebastian unterhalb des Schlüsselbeins. Mit schmerzverzerrtem Gesicht zuckte jener zurück. Sofort nutzte Sören seinen Vorteil und schlug mit ganzer Kraft gegen die verletzte Schulter. Dabei stemmte er seinen Körper vom Boden weg, womit er Sebastian in einer schnellen Bewegung von sich schieben und sich selbst in eine bessere Lage bringen konnte. Er richtete sich halb auf und brachte sich wie ein Footballspieler in erneute Angriffsposition. Währenddessen rappelte sich auch Sebastian auf. Die gesunde Hand hatte er schützend über die verletzte Schulter gelegt. Jetzt zog er sie weg und nahm seinen Gegner ins Visier. Wie auf Kommando stürmten beide gleichzeitig aufeinander zu.
„Aufhören!“ Die grelle Stimme durchschnitt die Luft wie eine scharfe Klinge. Weshalb, konnte niemand sagen, aber alles schien zu gehorchen. Gleichzeitig richteten sich alle Blicke in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war.
Breitbeinig stand Verena im Schnee, die blonden Haare wehten wild um ihren Kopf, während sie mit beiden Händen Sörens verlorene Pistole umschlossen hielt und auf Sebastian zielte. „Deine Familie nimmt mir nicht noch einmal einen Mann! Lass ihn los oder ich bring dich um!“
Nachdem Leonie abgedrückt hatte, war sie vom Rückstoss derart überrumpelt worden, dass sie zurückgetaumelt war. Bis sie sich wieder gefasst hatte und die Situation überblickte, hatte sich Verena bereits von ihrem Posten neben Heinz entfernt. Sie musste gesehen haben, wo Sörens Waffe gelandet war. Also war sie dorthin gegangen und hatte sie aufgehoben.
„Verena! An deiner Stelle würde ich die Waffe fallen lassen.“ Leonie hatte Stellung bezogen. Wie gerade eben stand sie bereit. Bereit auf ihre eigene Mutter zu schiessen.
„Du würdest doch nicht etwa…“
„Doch, würde ich. Du hast gerade selbst gesehen, wie ich auf einen Menschen schiesse. Willst du das Risiko eingehen?“
„Ich bin aber nicht irgendein Mensch. Ich bin deine Mutter!“
„Ach, jetzt bist du also meine Mutter? Tut mir leid, diesen Job hast du schon vor über zwanzig Jahren gekündigt.“
Die kurze Ablenkung ausnützend, rammte Sebastian Sören den Ellbogen in den Bauch. Wie gehofft lockerte sich Sörens Arm um Sebastians Hals, was jener nutzte, um sich loszureissen, Sörens Arm hielt er aber fest, drehte ihn unnatürlich um die eigene Achse, so dass die Schulter auszukugeln drohte. Sören schrie auf. Ganz automatisch wollte sich sein Körper aus dieser Haltung winden. Aber Sebastian liess nicht locker. Hart traf er Sören mit der flachen Hand an der Nase. Sofort begann sie zu bluten. Noch ein gezielter Schlag gegen die Schläfe und Sören brach zusammen.
Durch ihre Verunsicherung gelähmt, beobachtete Verena die Szene. Aber als sie Sören zusammenbrechen sah, löste sich ihre Starre. „Du Mörder!“, schrie sie lauthals, dann gab es einen Knall, und um Leonie wurde alles schwarz.
Wild flitzten abwechslungsweise Lichter und Schatten vor ihren Augen herum. Es waren keine Formen zu erkennen und das machte sie verrückt. Sie wollte wissen, was da die ganze Zeit so erstaunlich lautlos um sie herum geisterte. Angestrengt versuchte sie mehr zu erkennen, doch die Umrisse wurden einfach nicht schärfer.
Dann schien ihr Gehör auf einmal ganz sensibel geworden zu sein. Wo vorher kein Mucks zu hören war, war jetzt plötzlich ein tosendes Rauschen zu vernehmen, fast, als stünde sie neben den Niagarafällen. Moment. Stehen? Nein, stehen fühlte sich anders an. Lag sie etwa? Aber warum? Was wurde hier eigentlich gespielt? Und da nahmen die Schatten auf einmal klare Konturen an, alles wurde farbig, zumindest so, wie es eine eisige Nacht mitten in den Bergen zuliess, und das Rauschen wandelte sich in Worte.
„Sie wacht auf!“
„Was…“
„Schscht. Ruh dich aus. Alles ist in Ordnung.“
„Sebastian?“
„Nein, ich bin’s. Timo. Soll ich Sebastian holen?“
Leonie war verwirrt, ihr Körper fühlte sich schwer an, und als sie sich aufstützen wollte, durchzuckte sie ein unsagbarer Schmerz, so dass sie sich gleich wieder zurückfallen liess. Aber ein knappes Nicken brachte sie zustande. Timo musste Sebastian nicht rufen, er war schon auf halbem Weg bei Leonie.
„Na du, fertig gepennt?“
Der rechte Mundwinkel hob sich zu einem schwachen Lächeln. Langsam begann nun auch ihr Verstand wieder zu arbeiten und das Lächeln erstarb. „Oh mein Gott! Heinz! Was ist mit Heinz! Oh, Sebastian! Es tut mir so leid!“
Den Schmerz ignorierend, der ihr erneut durch das Bein jagte, setzte sie sich auf und zog Sebastian stürmisch in ihre Arme. Er hatte reichlich Mühe, sie einigermassen auf Abstand zu halten, um sie ansehen zu können. Sein Gesicht dicht vor ihrem, brachte er sie dazu, inne zu halten. „Ganz ruhig. Heinz geht es gut. Er ist zwar vorübergehend taub auf einem Ohr, aber es geht ihm gut.“ Verschmitzt grinste er sie an.
„Taub?“
„Deine Kugel landete direkt neben seinem Ohr in der Wand. Er hatte so Schiss, dass er fast in Ohnmacht fiel. So hatte er wenigstens keine Mühe, zu tun, als wäre er getroffen.“
„Na, sehr charmant. Das nächste Mal treffe ich ganz bestimmt.“
„Gut. Aber könntest du es dann vermeiden angeschossen zu werden?“
„Wie?“ Verdutzt folgte Leonie Sebastians Blick. Unter der sanften Berührung seiner Hand pochte ihr Blut heftig in den Adern. „Ich bin…?“
„…angeschossen worden. Genau. Von deiner eigenen Mutter. Ich war zu langsam. Bitte entschuldige.“
„Meine Mutter… Du warst zu langsam wofür?“
„Du hast auf sie gezielt, ich habe ihren Lover in die Knie gezwungen, sie hat auf mich gezielt und auch abgedrückt. Nur habe ich sie im gleichen Augenblick umgerannt. Der Schuss wurde abgelenkt, das Projektil erwischte deinen Oberschenkel und hinterliess eine hässliche Fleischwunde.“
„Das ist doch nicht schlimm. Warum bin ich denn in Ohnmacht gefallen?“
„Ach, keine Ahnung. Vielleicht, weil man nicht jeden Tag zum Mord angestiftet wird, beinahe selbst draufgeht, während man von ziemlich hässlichen Liebschaften erfährt? Könnte sein, dass das alles ein bisschen viel ist. Könnte sein.“ Den Sarkasmus liess Sebastian noch ein wenig mehr durchdringen, als notwendig gewesen wäre. Aber das war egal. Leonies Aufmerksamkeit wurde von etwas anderem gefesselt. Den Blick fest auf sie fixiert, wurde Sören von einem Polizisten mit auf den Rücken festgebundenen Händen über die Piste in Richtung Gondelbahn gescheucht. Weiter vorne wartete ein anderer Polizist, der eine Verena mit wild abstehendem Haar und hängendem Kopf bewachte.
„Warten Sie!“ Etwas schwerfällig rappelte sich Leonie mit Sebastians Hilfe auf. So schnell sie konnte, humpelte sie zu Sören.
Trotz seiner misslichen Lage hatte er nur ein selbstgefälliges Grinsen für sie übrig. Sie musterte ihn ganz genau, sagte aber nichts. Musste sie auch nicht. Langsam beugte er sich zu ihr hinunter. Sie spürte seinen Atem warm an ihrem Ohr. Er sprach so leise, dass nur sie es hören konnte. „Glaub ja nicht, es wäre vorbei. Denk daran, mindestens einer ist noch übrig.“ Dann wurde er mit einem bedeutungsschwangeren Lächeln auf dem Gesicht abgeführt.
In Leonies Gehirn begann es unweigerlich zu arbeiten. Aber noch bevor sie sich einen Reim auf Sörens Worte machen konnte, wurden sie aus ihren Gedanken herausgerissen.
„Na, ihr zwei, können wir los?“ Timo stellte sich vor Sebastian und Leonie. In einer schützenden Geste legte er Leonie eine Hand auf die Schulter. Etwas verwirrt sah Leonie auf und liess sich unter Timos sanftem Druck zum Gehen bewegen.
„Nein, wartet noch.“ Heinz, der sich aus den fürsorglichen Fängen der Sanitäter befreit hatte, trat an die kleine Gruppe heran. „Timo, geh du bitte vor und nimm deine Kollegen mit. Ich habe mit den beiden noch etwas zu klären.“
Verunsichert blieb Timo stehen und sah Heinz eindringlich an. „Bist du dir sicher?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, sah Timo forschend in die Gesichter von Leonie und Sebastian. Was er darin las, vermochte ihn nicht zu beruhigen. Dennoch gab er zögernd nach. „Na gut, wie ihr wollt. Aber kommt bald runter ins Tal. Die Polizei will eure Aussage und ich will nicht auch noch Erfrierungen verarzten müssen.“ Bei diesen Worten zog Heinz die Wolldecke von den Sanitätern fester um sich. Immer noch verunsichert zog Timo ab und beutete seinen Kollegen dasselbe zu tun.
Sebastian wartete, bis Timo und seine Leute ausser Hörweite waren, dann wandte er sich an seinen Vater. „Paps, was ist los?“
„Es gibt da noch etwas, dass ihr nicht wisst. Etwas, das du noch nicht weisst und daher auch dieser Sören mit seinem Lauschangriff nicht erfahren konnte.“ Eindringlich sah Heinz seinen Sohn an. Leonie fröstelte, als sie diesen Blick beobachtete. Sofort zog Sebastian sie fester in seine Arme.
Sebastian erinnerte sich zurück an den Abend zuvor. Heinz hatte erklärt, dass er auf den Berg gerufen worden war, um ein paar Steine aus dem Weg zu räumen. Für Sebastian war die Sache damit klar gewesen, für Sören offenbar auch, so, wie er heute alles inszeniert hatte. Er selbst wie auch Sören hatten gedacht, dass dies der alles entscheidende Auftrag gewesen war, nämlich Leonies Vater zu beseitigen. Das einzige Mal, dass sie sich einig gewesen waren, und nun sollte das ein Irrtum sein?