2010
Über den ganzen Ereignissen dieses Tages hatte Sebastian die Zeit vollkommen vergessen. Er war spät dran. Es würde ihm nicht mehr reichen seine Schicht pünktlich zu beginnen und bei seinem Vater war er auch nicht gewesen.
Obwohl ihm der Gedanke an den bevorstehenden Besuch Kopfzerbrechen bereitete, wollte er die Konfrontation so schnell wie irgend möglich. Denn die Aussprache war schon allzu lange hinausgezögert worden. In Gedanken versunken ging er um das Gebäude herum, um die Bar durch den Hintereingang zu betreten.
Wie gehofft, war Angela schon da und hatte alles für den bevorstehenden Abend vorbereitet. Als er den Raum betrat, sah sie von ihrer Getränkeliste auf. „Ich nehme an, du wurdest von den heutigen Ereignissen aufgehalten?“ Ohne die Antwort abzuwarten sprach sie weiter. „Das ist ’ne ziemlich grosse Sache, findest du nicht auch? Hast du Leonie schon gesehen? Was sagt sie dazu?“ Der begeisterte Ausdruck in Angelas Gesicht wich einem argwöhnischen Blick, als sie Sebastian ertappte, wie er bei Leonies Name ein kleines bisschen zurückwich. „Was ist los?“ Da war er wieder, der strenge Ton einer Mutter, die ihr Kind auf frischer Tat ertappt hat.
„Nichts!“ Aber anstatt seine Verteidigungsposition durch seine Körperhaltung zu bestärken, steckte er schuldbewusst seine Hände in die Hosentaschen.
Angela trat näher an ihn heran und obwohl sie fast ein ganzer Kopf kleiner war als Sebastian, drohte sie ihm äusserst effektiv mit dem Zeigefinger. „Du verheimlichst etwas und du weisst, dass ich es früher oder später erfahren werde. Also, was möchtest du? Kurz und schmerzlos oder lang und qualvoll?“
„Leonie ist in den Keller von Hans eingebrochen, und dort hat sie gehört, wie er starb. Sie sagt, er wäre in der Zeit nicht alleine gewesen. Weil ihr unter diesen Umständen aber kein einflussreiches Organ Glauben schenken würde, ist sie mit ihrem blauäugigen IKEA-Fleischbällchen losgezogen um erneut in das Haus einzubrechen und sich den Tatort anzusehen.“
Beim Wort Tatort zeichnete Sebastian Gänsefüsschen in die Luft, nur um seine Hände nach seinem Geständnis wieder in den Hosentaschen verschwinden zu lassen.
Mit jedem weiteren Wort wanderten Angelas Augenbrauen weiter in Richtung Haaransatz. Erst, als er geendet hatte, bemerkte sie, dass ihr Mund offen stand und sie den Atem angehalten hatte. Mit einem geräuschvollen ‚puff’ liess sie schliesslich die Luft wieder aus ihrer Lunge entweichen. Dann rang sie sichtlich nach Worten. Doch bevor sie die Passenden fand, ging die Tür auf und der erste Gast trat ein. Dieser Umstand sorgte für etwas Verwirrung. Als Angela wie auch Sebastian die Person schliesslich erkannten, war das Gedankenchaos komplett.
Sebastian, der aufgrund seines Informationsvorsprungs schon etwas Zeit gehabt hatte, einiges zu verarbeiten, fing sich schneller als Angela.
„Verena, richtig?“
„So ist es. Tut mir leid, Ihren Namen habe ich nicht verstanden.“
„Oh, bitte entschuldigen Sie. Sebastian.“ Hastig zog Sebastian eine Hand aus der Jeanstasche und hielt sie Verena entgegen. Diese warf aber nur einen kurzen Blick darauf, ohne Anstalten zu machen, die dargebotenen Hand zu ergreifen.
„Haben Sie auch anderen Whiskey als den Fusel, den ich kürzlich trinken musste?“
Kurz stutzte Sebastian, dann liess er die Hand wieder sinken und wandte sich zu den Whiskeys. „Wir haben die, die hier stehen.“
Abschätzig zog Verena eine Augenbraue hoch. „Naja, mehr kann man in einem Etablissement wie diesem wohl auch nicht erwarten. Nun denn, dann nehme ich einen doppelten Vodka mit Eis.“
Inzwischen schien sich auch Angela wieder gefangen zu haben und beäugte Verena argwöhnisch. Sebastian warf ihr einen fragenden Blick zu, den sie mit einem leichten Schulterzucken beantwortete. Dann räusperte sie sich.
„Sind Sie auf der Suche nach Leonie? Sie müssen wissen, sie hat heute ihren freien Tag.“
„Oh, tatsächlich? Wie schade. Aber eigentlich wollte ich sowieso zu Ihnen.“ Mit ihrem leuchtend rot lackierten Fingernagel deutete sie auf Sebastian. Dieser sah verwirrt auf.
„Zu mir? Wieso das denn?“
„Ich will wissen, welche Absichten Sie mit meiner Tochter verfolgen.“
Während Sebastian zu verstehen versuchte, was genau Verena dazu bewegte, ihm eine solche Frage zu stellen, trat Leonie auf demselben Weg an Zumbrunns Haus heran, den sie vor kurzer Zeit schon einmal genommen hatte. Sören wartete im Schutz des Schattens verborgen an der Frontseite, bis Leonie ihm das vereinbarte Zeichen gab.
Kein Fenster des ehrwürdigen Gebäudes war erleuchtet. Also war die Chance gross, dass niemand im Haus war. Oder die Schwägerin hatte sich hingelegt. Oder sie teilte sich dem Pfarrer im Dunkeln mit, was Leonie unweigerlich äusserst unzüchtige Gedanken bescherte. Angeekelt schob sie sie beiseite, während sie sich zum zweiten Mal an diesem Tag an der Hauswand entlang drückte, bis zu dem kleinen Fenster, das in den Keller führte. Dann schnappte sie sich einen kleinen Kieselstein und warf ihn auf die Strasse, direkt in den Lichtkegel der Laterne.
Kurz darauf erkannte sie Sören, der einen verstohlenen Blick in ihre Richtung warf, während er lässig auf die Haustür zuschlenderte. Sollte es doch nötig werden, würde er für Ablenkung sorgen. Dieses Wissen hatte etwas Beruhigendes.
Hastig drückte Leonie das Kellerfenster erneut auf und schlüpfte ins Haus. Vorsichtig tastete sie sich durch die Dunkelheit. Jetzt war sie beinahe froh, schon einmal hier gewesen zu sein, denn so wusste sie ungefähr, wo sie hintreten und welche Richtung sie einschlagen musste.
Sie fand die Türfalle wenig später und drückte sie langsam hinunter. Aber die Tür gab nicht nach. Bemüht, möglichst kein Geräusch zu machen, schluckte Leonie eine aufkommende Tirade an Schimpfwörtern hinunter und tastete unterhalb der Türfalle nach einem Schlüssel. Natürlich war da nichts.
Eigentlich hatte sie das nicht tun wollen, um nicht unnötig auf sich aufmerksam zu machen, doch es schien sich nicht vermeiden zu lassen. Sie zog ihr Taschenmesser aus der Jacke und zündete die integrierte Lampe an. In dem schwachen Schein erkannte sie, dass das Schloss wahrscheinlich so alt war wie das ganze Haus. Dadurch etwas optimistischer gestimmt, leuchtete sie durch das Schlüsselloch hindurch. Wie gehofft, schien der Schlüssel zu stecken. Nur eben von der anderen Seite.
Schnell dachte sie nach und erinnerte sich an eines ihrer Abenteuerbücher, die sie als Kind immer gelesen hatte. Der Blick auf den Boden stellte sie zufrieden. Sie ging zu dem ihr nur allzu bekannten Bauernschrank und nahm sich einen der vielen Bögen Papier. Dann ging sie zurück zur Tür und schob das Papier unter dem Türblatt hindurch. Insgeheim beglückwünschte sie die Erbauer alter Häuser dafür, dass sie vor allem in Kellern zwischen Tür und Boden jeweils genug Abstand gelassen hatten, dass ein Kind die Hand hätte unten durch stecken können.
Dann öffnete sie an ihrem Taschenmesser die Ahle und begann im Schloss herumzustochern. Es dauerte nicht lange, bis mit einem dumpfen Plumpsen der Schlüssel aus dem Schloss zu Boden fiel - direkt auf das Papier. Leonie zog nun das Papier unter dem Türrahmen hindurch und hätte beinahe lauthals herausgelacht, als sie den Schlüssel vor sich liegen sah. Ein bisschen fühlte sie sich wie Miss Marple.
Ohne weiteren Widerstand liess sich die Tür öffnen und Leonie fand sich in einem grosszügigen, jedoch etwas muffigen Kellergewölbe wieder. Schnell steuerte sie die Treppe in die obere Etage an. Bevor sie hier ihr Glück versuchte, legte sie ein Ohr an die Tür und lauschte angestrengt.
Selbstsicher trat Sören an die Treppe vor der Eingangstür heran und sprang sie leichtfüssig in geschmeidigen Bewegungen hoch. Dann zählte er bis zehn und klopfte an. Nichts rührte sich. Die Möglichkeit, dass nach dem tragischen Vorfall niemand öffnen wollte, kam ihm gar nicht in den Sinn. Also versuchte er es erneut. Diesmal etwas lauter. Der dritte Versuch wirkte bereits forsch und ungeduldig.
Als sich wiederum nichts rührte, liess er von der Tür ab. Vorsichtig lehnte er sich zu dem Fenster daneben. Die Augen vor äusseren Einflüssen abschirmend spähte er in das Innere des Hauses. Der Vorhangstoff verwehrte ihm aber den Einblick. Abgesehen davon war es viel zu dunkel.
Missmutig und etwas enttäuscht darüber, dass er nicht wie geplant den verirrten Touristen mimen konnte, stellte er sich wieder gerade hin und dachte nach. Irgendwie musste er herausfinden, ob jemand im Haus war. Und diesen Jemand galt es abzulenken. Nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn man Leonie in dem Haus entdeckte!
Um nicht allfällige neugierige Nachbarsaugen auf sich zu ziehen, trat er den Rückzug an. Unten an der Treppe angekommen wanderten seine Augen zu dem von der Finsternis verhüllten Teil des Gebäudes, ohne wirklich etwas zu sehen. Denn mit den Gedanken war er ganz woanders. Irgendeine Möglichkeit musste es doch geben. Und dann plötzlich kam ihm die Idee.
Immer noch ein Ohr an das Türblatt gedrückt, kniete Leonie auf der ausgetretenen staubigen Stufe der Kellertreppe. Sie meinte eben noch ein Klopfen gehört zu haben, war sich aber nicht sicher. Jetzt war es jedenfalls still. Irgendwie zu still. Wo war Sören? Wo war die Frau?
Die Tür, die den Wohnraum und das Kellergeschoss voneinander trennte, war zwar stabil gebaut und aus massivem Holz, aber Leonie sollte doch dennoch wenigstens gedämpft hören, wenn auf der anderen Seite ein Gespräch geführt wurde. Da war aber überhaupt nichts. Hin- und hergerissen wog Leonie ab, was nun zu tun war. Riskierte sie, entdeckt zu werden oder zog sie ab?
Auf einmal hörte sie dann doch ein Geräusch. Leonie horchte auf und versuchte zu erkennen, was es war. Wieder presste sie das Ohr an die Tür. Aber irgendetwas war seltsam. Erneut raschelte es. Dann auf einmal begriff sie. Das kam nicht von hinter der Tür, das kam aus der Finsternis hinter ihr. Unmittelbar nachdem sie verstanden hatte, reagierte sie auch schon ohne weiter nachzudenken. Hastig richtete sie sich auf und betätigte die Türfalle. Erleichtert stellte sie fest, dass diese nachgab. Im nächsten Augenblick stand sie im Flur des Hauses. Eilig drückte sie die Tür wieder ins Schloss und lehnte sich mit dem Rücken dagegen.
Die Augen geschlossen, horchte sie auf ihr wild gegen die Rippen polterndes Herz. Sie meinte, man müsse es meilenweit hören. Über der ganzen Aufregung hatte sie vergessen, dass sie sich in diesem Augenblick auf dem Serviertablett präsentierte. Also schluckte sie die Angst hinunter, öffnete die Augen - und starrte direkt in ein eichenholzbraunes Augenpaar unmittelbar vor ihr.
Sie hätte beinahe laut geschrien, hätte es ihr die Kehle nicht im selben Augenblick zugeschnürt. Ihre Panik niederkämpfend sog Leonie langsam die Luft ein. Während sie sich darauf konzentrierte, wie sich ihre Lungen füllten, beruhigte sie sich etwas und der vernebelte Verstand klärte sich soweit, dass er wieder einigermassen brauchbar funktionierte.
Ihrer aufgewühlten Gefühle wieder mächtig, wandte sie den Blick von dem Portrait an der gegenüberliegenden Wand ab. Auch ohne zu wissen, wie er ausgesehen hatte, war sie sich sicher, soeben Bekanntschaft mit Herrn Hans Zumbrunn gemacht zu haben.
Noch einmal lauschte sie, ob das Geräusch aus dem Keller näher kam, hörte aber nichts mehr. Dennoch wollte sie nicht länger in der Nähe dieser Tür sein. Darüber, wie sie das Haus je wieder verlassen konnte, wollte sie erst nachdenken, wenn es soweit war.
Dicht an die Wand gedrückt tastete sie sich vorsichtig einige wenige Schritte durch den langen, dunklen Korridor vorwärts. Dann blieb sie erneut stehen und spähte in die von diffusem Licht leicht erhellten Räume.
Alles schien still und friedlich, nur ihr etwas zu schneller Atem war zu hören. Sobald sich ihre Augen einigermassen an das schwache Mondlicht gewöhnt hatten, konnte sie sich allmählich ein schemenhaftes Bild ihrer Umgebung machen.
Leonie erkannte, dass die Tür, durch die sie den Keller verlassen hatte, unter einer Treppe lag, an deren Fuss sie nun stand. Was sich im oberen Geschoss befand, war aber nicht von Interesse. Viel interessanter schien der Raum rechts neben dem Treppenabsatz.
Bevor sie sich aber dem Ziel ihrer verbotenen Aktion näherte, wandte sie sich nach links um.
Wie gehofft, lag dort, nur durch einen schmalen Windfänger vom Wohnraum abgetrennt, der eigentliche Eingang. Für den Bruchteil einer Sekunde schoss ihr durch den Kopf, wie einfach es wäre, ihre dumme Aktion einfach abzubrechen, durch die Tür zu marschieren und alles zu vergessen. Doch genauso einfach schien es, durch die andere Tür zu treten. Dorthin, wo sich vielleicht ein paar weitere Teile zu ihrem seltsamen Puzzle verbargen.
Würde sie es sich je verzeihen, wenn sie nun ging, jetzt, da sie doch schon so weit gekommen war? Zögerte sie, weil sie sich vor dem fürchtete, was sie finden könnte? Weil sie Angst hatte, der Wahrheit ein Stück näher zu rücken? Die Antworten zu erhalten, nach denen sie schon immer gesucht hatte, ohne es zu wissen? Eigentlich war es ganz einfach. Die Antwort lautete: Niemals. Sie würde sich niemals verzeihen einfach abgehauen zu sein, nur weil sie Schiss hatte.
Also fasste sie sich ein Herz. Mit dem Grundriss des kleinen Teils des Kellers im Kopf, den sie kannte, wandte sie sich nach rechts und trat in den Raum, unter dem sie ihrer Meinung nach zu dem schicksalhaften Zeitpunkt gewesen war. Und tatsächlich – entweder waren die Bewohner des Hauses sehr unordentlich gewesen oder die Frau hatte den Tatort noch nicht aufgeräumt. Es konnte aber auch noch nicht allzulange her sein, dass die Sanitäter hier waren. Entsprechend könnte es also nur eine Frage der Zeit sein, bis die Schwägerin auftauchte. Aber wo war sie jetzt? Soweit Leonie gesehen hatte, lag das Haus im Dunkeln und war still. Eigentlich zu still. Hatte sie nicht mit Sören abgesprochen, er solle die Frau ablenken? Wo war er?
Durch den Windfang hatte sie sehen können, dass die Haustüre geschlossen war und auch dort kein Licht gebrannt hatte, das auf einen Besuch hindeutete. Hatte Sören sie etwa ganz vom Haus weggelockt? Das wäre natürlich hervorragend, aber darauf verlassen wollte sich Leonie nicht. Also schob sie die Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf das, was vor ihr lag.
Wollte sie nicht unnötig Aufmerksamkeit auf sich lenken, musste sie auf die Unterstützung stärkeren Lichts verzichten. Stattdessen trat sie ans Fenster und spähte hinaus. Zufrieden stellte sie fest, dass das Fenster auf den hinteren Teil des Grundstückes gerichtet war. Dorthin, wo sich nichts ausser Wald und Berge befand. Dorthin, wo sie selbst vor ein paar Stunden hergekommen war. Bei diesem Gedanken schauderte sie leicht. Vor allem angesichts des Gedankens an ihre jetzige Position und den Ausblick, der sich ihr bot. Hatte vielleicht vor nicht allzu lange Zeit auch jemand so dagestanden, als sie durch den Garten schlich?
Als könnte sie diese unangenehme Vorstellung aussperren, zog sie schnell die Vorhänge zu. Dann wandte sie sich wieder dem Raum zu. Sie zog ihr Schweizer Taschenmesser erneut aus der Jacke und knipste die Taschenlampe an. Der Lichtpegel war nicht sehr stark, aber das kam Leonie nur entgegen, trug es doch seinen Teil dazu bei, nicht erwischt zu werden. Abgesehen davon reichte der Schein der kleinen Lampe aus, um sich umzusehen.
Sie befand sich in einer Art Arbeitszimmer, das gleichzeitig auch als Bibliothek zu fungieren schien. Denn vor ihr stand ein ausladender Schreibtisch, der aus einem dunklen schweren Holz gefertigt war. Die Wände um das Fenster und die Türöffnung herum waren mit Bücherregalen zu gestellt. In der Ecke, schräg gegenüber dem Schreibtisch, befand sich ein gemütlich wirkender Sessel. Und ungefähr in der Mitte zwischen Sessel und Tisch erblickte sie ein filigran gearbeitetes Beistelltischchen. Eigentlich nichts Ungewöhnliches, hätte das Tischchen gestanden. Aber dieses hier lag im Raum.
Sicher, dass sie den Tatort gefunden hatte, ging sie vorsichtig auf das Möbelstück zu. Vergessen war die Tatsache, dass sie hier nichts zu suchen hatte. Um auf ihrem Weg ja nichts zu übersehen, leuchtete sie immerzu den Boden vor sich ab.
Beim Tischchen angekommen ging sie in die Hocke und begutachtete erst den Rand des Möbels, dann den Spannteppich daneben. Der Lichtkegel huschte hin und her, bis er plötzlich stockte. Was war das?
Sie liess das Licht zurückwandern und tatsächlich, dort, wo es nun ruhte, wies der Teppich eine dunkle Stelle auf. Den Atem vor Aufregung angehalten, richtete sie sich auf und näherte sich behutsam. Dann sah sie deutlich, dass es sich bei dieser Verdunkelung des Bodens um einen Fleck handelte. Nach und nach wandelte sich das Dunkelrot in Schwarz, während sich das Blut von Hans Zumbrunn immer weiter in die Teppichfasern einfrass.
Leonie wandte den Blick von der Lache ab und versuchte zu rekonstruieren, was vorgefallen war. Es hiess, er hatte sich bei einem Sturz am Kopf verletzt. Sich das vorzustellen, war nicht weiter schwer. Dort, wo sich die Blutlache befand, musste sein Kopf gelegen haben. Daneben lag das Beistelltischchen auf der Erde. Entsprechend hatte er wohl vor dem Bücherregal gestanden, war zusammengeklappt, hatte mit dem Kopf das Tischchen erwischt, das Tischchen kippte um und er blieb reglos daneben liegen. Klang plausibel.
Nun dieselbe Szene in der Variante, die Leonie von unten gehört hatte. Jemand hatte ihm eine verpasst, Hans hielt sich im Sturz am Tischchen fest und kippte mit ihm um. Oder dieser Jemand hatte das Tischchen nachträglich auf den Boden geworfen, um den Eindruck zu erwecken, es wäre ein tragisches Unglück gewesen.
Wie dem auch sei, nichts wies darauf hin, dass eine weitere Person da gewesen war. Nichts, was die Rückschlüsse auf ein Verbrechen zuliess. Aber was hatte sie denn erwartet? Ein Schild, auf dem stand „Ja, Leonie, du hast recht, jemand hat ihn gewaltsam aus dem Leben gerissen“? Kaum.
Ahnungslos, was sie mit dem Gesehenen anfangen sollte, zog Leonie ihr Handy hervor und stellte die Kamerafunktion ein. Obwohl sie nicht wusste, zu welchem Zweck, begann sie ohne Blitz, nur im Schein der Taschenlampe, den Ort fotografisch festzuhalten. Systematisch bewegte sie sich von dort, wo das Blut war, rückwärts am kleinen Beistelltisch vorbei auf den grossen Schreibtisch zu.
Vollkommen vertieft in ihre Arbeit hörte sie das leise Rascheln aus dem Flur nicht. Sie bemerkte auch den dunklen Schatten nicht, der an der Türöffnung vorbeihuschte und dann direkt daneben zur Ruhe kam.
Am Kopfende des Schreibtischs angekommen richtete sich Leonie aus ihrer gebeugten Haltung auf und streckte den Rücken durch. Dann liess sie den Blick über den wuchtigen Schreibtisch schweifen. Doch alles schien normal zu sein. Es gab einen unordentlichen Stapel Papier, einige Dokumente lagen auf einer Schreibunterlage, daneben ein offenes Buch. Direkt vor ihr stand eine vergoldete Leselampe. Daneben ein Briefhalter mit einem einzigen, blütenweissen Umschlag drin. Der Fuss war aus Marmor, die Halterungen waren passend zur Lampe vergoldet.
Leonie liess ihren Blick weiter wandern, bis zum nächsten unscheinbaren Fleckchen auf dem Schreibtisch. Abrupt hielt Leonie inne. Eigentlich schien nichts ungewöhnlich zu sein, dennoch wurde sie stutzig.
Ohne die Stelle aus den Augen zu lassen, griff sie wieder nach ihrem Telefon. Doch sie führte die Bewegung nicht zu Ende. Wie aus dem Nichts beschlich sie ein unheimliches Gefühl, das sich in Sekundenschnelle in schreckliche Gewissheit verwandelte. Sie war nicht mehr allein in dem dunklen Raum.
Die Gestalt baute sich im Türrahmen zu ihrer vollen Grösse auf und huschte behände in das Zimmer. Erst sah es so aus, als würde Leonie nichts bemerken, doch dann hielt sie plötzlich inne. Sie wollte sich umdrehen.
Er musste handeln, und zwar schnell. Nur noch wenige Schritte trennten ihn von ihr.
Leonie wandte vorsichtig den Kopf, und schon legte sich ein Arm fest um ihren Körper und eine Hand blitzschnell auf ihren Mund. Instinktiv versuchte sie zu schreien, doch ein sanfter Hauch an ihrem Ohr mahnte sie zur Ruhe. Dann sagte er noch etwas, das kaum den Schleier der Panik zu durchdringen vermochte. Erst als sich die Hand auf ihrem und der Griff um ihren Körper lockerten, begann sie zu begreifen. Der Situation noch nicht ganz trauend, wandte sie sich langsam um. Und vor Erleichterung hätten ihr beinahe die Beine nachgegeben. Genauso um Vergebung bittend wie treuherzig starrten die blauen Augen sie an. „Sören! Was zum…“
Sofort drückte Sören ihr die Hand wieder auf den Mund. „Schscht! Nicht so laut!“
„Was tust du hier?“ Obwohl sich Leonie bemühte zu flüstern, hatte ihre Stimme durch den rasenden Puls einen etwas schrillen Unterton.
„Ich habe an der Tür geklingelt, aber es hat niemand geöffnet. Also habe ich versucht nachzuvollziehen, wo du hingegangen bist und bin dir gefolgt. Dann hab’ ich mich in dem dunklen Keller verirrt und mir ziemlich schmerzhaft das Knie gestossen. Hast du gewusst, wie gross dieser Keller ist?“ Wie ein geschlagener Hund blickte Sören nach unten und zeigte auf die zerrissene Stelle in seiner Jeans.
Ohne auf die Frage einzugehen, seufzte Leonie erleichtert auf. „Du warst das also! Und ich hatte schon Angst, dass noch jemand, dem ich keinesfalls begegnen wollte, dort unten war.“
„Jedenfalls darfst du mich verarzten, sobald wir hier raus sind. Aber interessanter ist im Augenblick eine andere Frage. Hast du was entdeckt?“
„Nein, nicht so richtig.“ Leonie wollte bereits zu einer Erklärung ausholen, da erfüllte plötzlich ein dumpfes Gurgeln den Raum. Sie zuckte leicht zusammen, und irgendwie ahnte sie, dass sie nicht die Einzige war. Das Geräusch schien hinter der Wand durchzuwandern. Als könnten sie es sehen, wanderten ihre Blicke hinterher. Erst, als aus dem Raum nebenan das Rauschen eines Wasserhahns zu hören war, begriffen beide. Entsetzt sahen sie sich an.
Dann griff Sören nach Leonies Arm. „Wir müssen hier verschwinden, und zwar sofort!“
„Du hast ja Recht, aber ich dachte, es hätte dir niemand die Tür geöffnet?“
„Vielleicht hat mein Klingeln einfach niemand gehört. Das Haus ist gross und die Frau wahrscheinlich alt, wenn es denn sie ist, die das Wasser angedreht hat. Los jetzt!“
Sören zerrte an Leonies Arm und endlich gab sie dem Druck nach. Gemeinsam stürmten sie zum Ausgang des Zimmers. Dort drückte sich Sören an die Wand und zog Leonie hinter sich. Dann riskierte er einen Blick in den Gang, der immer noch im Dunkeln lag. Er wagte einen Schritt aus dem Raum zum Treppenabsatz und spähte erneut um die Ecke. Alles war dunkel, bis auf einen fahlen Lichtschimmer aus dem Zimmer neben der Kellertür.
Sören dachte kurz darüber nach, dennoch durch den Keller zu fliehen, verwarf die Idee dann aber, als ihm der Windfang ins Auge fiel. Mit einem Handzeichen hiess er Leonie ihm zu folgen.
Schnell war er bei der ersten Tür. Er zog sie auf, als aus dem Gang ein Schlurfen zu vernehmen war. Hektisch schob Leonie Sören in den Windfang und zog rasant, aber leise die Tür zu. Dann ging das Licht im Gang an und leuchtete direkt durch das in die Tür eingelassene Fenster.
Instinktiv duckten sich beide exakt in dem Augenblick, als auf der anderen Seite des Windfangs ein Kopf erschien. Sören und Leonie pressten sich so nahe in die Ecke zwischen Tür und Wand wie nur irgend möglich.
Leonie riskierte es, nach oben zu schauen und erhaschte gerade noch einen Blick auf einen Schatten, bevor er sich von der Tür wegbewegte. Das Schlurfen wurde leiser und wechselte nach einem leisen Aufstöhnen in ein raues, kratzendes Geräusch.
Schwer ausatmend sah Leonie zu Sören. Dieser zeigte mit einem Kopfnicken auf die Tür. Leonie verstand.
Langsam schob sie sich dem Türblatt entlang nach oben, in Richtung des Fensters. Sie versuchte ihre Aufregung zu zügeln, damit ihre Hände zu zittern aufhörten. Dann spähte sie durch die Scheibe in den Wohnraum. Es war nichts zu sehen. Also drehte sie sich zu Sören um, der in der Garderobe einen Schuh nach dem anderen umdrehte. Zu sprechen wagte sie nicht, also tippte Leonie Sören auf die Schulter und deutete auf die Schuhe, bevor sie fragend die Schultern hob. Sören reagierte prompt und zeigte auf die Haustür. Es steckte kein Schlüssel.
Leonie griff nach der Türfalle, doch die Tür gab keinen Millimeter nach. Die Verzweiflung niederkämpfend zwang sich Leonie nachzudenken. Eine Hand in die Hüfte gestemmt, die andere an der Stirn schaute sie sich in dem kleinen Windfang um, als ihr auf einmal hinter den Mänteln etwas Glänzendes auffiel. Schnell schob sie die Jacken beiseite und tatsächlich – da hing ein hübsch bemaltes Schlüsselbrett.
Durch die Form der paar wenigen Schlüssel liess sich schnell eruieren, welcher zur Haustüre passte. Eilig schnappte sich Leonie den kleinen Silbernen und steckte ihn ins Schloss. Innerlich jubelte sie, als der Zylinder sich in Bewegung setzte. Fluchtartig waren Sören und Leonie draussen.
Sören war bereits die Treppe hinunter gerannt, da drehte Leonie noch einmal um, schlich zurück in den Windfang, hängte den Schlüssel zurück an seinen Platz und zog die Tür zu. Sören traute seinen Augen nicht, beschloss aber später nachzufragen.
Dann stahlen sie sich im Schutz der Nacht davon, ohne zu wissen, dass man sie die ganze Zeit beobachtet hatte.