1986
Marc kam erst sehr spät in der Nacht zurück in die Wohnung. Sein Atem stank nach Alkohol und seine Kleidung roch, als wäre er eine brennende Zigarette. Mit Ach und Krach schaffte er es zu der richtigen Wohnungstür und streifte polternd die Skischuhe ab, von denen er sich seit Verenas Abgang am Nachmittag nicht mehr getrennt hatte. Nur mit Mühe konnte er stehen und er musste sich immer wieder abstützen um überhaupt in die Nähe der Türfalle zu kommen. Jene gab dann aber unter seiner Berührung sofort nach und da ihm mit dem Aufgehen der Tür sein letzter haltgebender Gegenstand entglitt, stürzte er geradewegs zu Boden. Das Schmerzempfinden hatte er im Alkohol ertränkt, weshalb er sich, ohne die Schramme am Kopf zu bemerken, grunzend aufrappelte und in Richtung Wohnzimmer torkelte. Dort liess er sich aufs Sofa fallen und schlief sofort laut schnarchend ein.
Die ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages legten sich wie eine warme Umarmung über das Gesicht des schlafenden Kindes und kitzelten es aus seinem tiefen Schlaf zurück in die Gegenwart. Sich unter der riesigen Daunendecke ausstreckend gab Leonie zuerst ein lautes genüssliches Gähnen von sich, bevor sie die Augen öffnete und nach Lilli Ausschau hielt, neugierig darauf, wo jene wohl diesmal die Nacht verbracht hatte. Da sie dank des riesigen weichen Kissens weder links noch rechts etwas sehen konnte, hob sie den Kopf, liess den Blick durchs Zimmer schweifen, fand aber keine Lilli. Ein spontaner Einfall bewog Leonie, sich auf die Knie zu setzen und vornüber unter das Bett zu sehen. Und tatsächlich, da lag die braunhaarige Puppe. Auch sie hatte die Augen bereits offen.
„Guten Morgen, Lilli! Hast du gut geschlafen?“ Leonie zog die Puppe unter dem Bett hervor und nahm sie in den Arm. Dann strich sie ihr das lange Haupthaar aus dem Gesicht, so dass nur noch der Pony geordnet über der Stirn lag. „So ist es besser. Und nun schauen wir nach, wer sonst noch wach ist.“ Leonie öffnete ihre Schlafzimmertür nur einen kleinen Spalt breit, bevor sie sie erschrocken wieder zudrückte. Sie umarmte Lilli noch ein kleines bisschen fester, senkte den Kopf zu ihrem Ohr hinunter, um sicherzugehen, dass niemand anderes sie hören konnte und wisperte ganz leise: „Hast du das auch gehört? Da ist etwas in der Wohnung!“ Sie wich ängstlich zurück, hin und her gerissen, was zu tun war. „Soll ich mich verstecken? Nein, Lilli, das geht nicht. Mama und Papa wären dann ganz alleine! Ich muss ihnen helfen.“ Tapfer riss sich Leonie zusammen und griff nach der Türfalle. Behutsam drückte sie sie hinunter und spähte hinaus. Der Korridor lag still und friedlich vor ihr. Kein Mensch weit und breit. Doch dann hörte sie es wieder. Es war wie ein Grunzen eines Schweines. Doch wie sollte ein Schwein in die Wohnung kommen? All ihren Mut nahm sie zusammen, dann ging sie weiter. Sie schlich ins Wohnzimmer, wo sie die Ursache für das Geräusch vermutete. Beim Nähertreten wurde es plötzlich unruhiger und ertönte mehrfach hintereinander. Leonie sah sich bereits entdeckt und erwartete jeden Moment einen Angriff. Also entschloss sie sich, schneller zu sein. Sie jagte blind aus ihrer Deckung und preschte nach vorne. Geradewegs auf das Sofa zu. Knapp erkannte sie, dass das Ding sich bewegte, aber es war zu spät um umzudrehen. Entweder jetzt oder nie. Lilli voran sprang sie mit einem Satz auf den sich bewegenden Koloss. Und riss nach ihrer Landung erschrocken Augen und Mund auf. Ein gellender Schrei, der so ziemlich jede Emotion enthielt, entglitt ihr, als sie sich auf dem Bauch ihres Vaters sitzend wiederfand. Dieser war nicht minder überrascht, nur der Schrei fiel in einer etwas tieferen Tonlage aus. „Leonie!“
„Papa? Wo ist das Schwein? Hast du’s gekriegt?“
Jetzt war er erst recht irritiert. „Welches Schwein?“
„Na, das mit den grässlichen Geräuschen!“
„Das Schwein ist dein Vater, mein Kleines.“ Anstatt sich über die skurrile Situation zu amüsieren, blieb Verena mit eiserner Miene im Türrahmen stehen, die Arme fest vor der Brust verschränkt.
Verwundert sah Leonie erst ihre Mutter an, dann ihren Vater, dann Lilli. „Das verstehe ich nicht. Hast du es gegessen?“
Anders als seine Frau hatte Marc seinen Humor nicht eingebüsst, trotz den hämmernden Kopfschmerzen, die ihm die Sehfähigkeit beeinträchtigten. „Ich denke, was deine Mutter meint, war mein Schnarchen.“
„Ich meinte nicht nur das.“ Mit diesen Worten wandte sich Verena ab und stolzierte mit wippendem Bademantel ins Badezimmer.
Marc sah ihr bedauernd nach. Dann hob er seine Tochter hoch und richtete sich selbst auf. Neben sich setzte er sie wieder ab und rieb sich müde mit beiden Händen über das Gesicht.
„Warum ist Mama wütend?“
„Weil dein Papa ein Idiot ist.“
„Ist es weil, ich gestern alleine gefahren bin? Dann bin nämlich ich schuld und nicht du.“ Mit ihren grossen grünen Augen schaute Leonie zu ihrem Vater auf.
Erstaunt darüber, wie sensibel sein kleines Mädchen die Situation zu erfassen vermochte und gerührt über ihre offensichtliche Bereitschaft, die Schuld auf sich zu nehmen, um ihren Vater zu schützen, legte er einen Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. „Nein Liebes, ich hatte die Verantwortung und hab’s vermasselt. Dafür gilt es jetzt einzustehen. Du hast nichts falsch gemacht. Und so ganz nebenbei“, er packte sie und begann sie zu kitzeln, um die schwere Stimmung zu vertreiben, „du scheinst gestern mächtig Spass gehabt zu haben!“ Sein Angriff verfehlte die Wirkung nicht. Leonie jauchzte fröhlich auf und wand sich kichernd im Versuch, seinen Händen zu entrinnen. „Abgesehen davon, was fällt dir eigentlich ein, mich einfach anzuspringen, mich aus meinem Schlaf zu reissen und dann noch zu behaupten, du hättest ein Schwein gejagt?“
Leonie gelang die Flucht, woraufhin sie, Lilli fest im Arm, kreischend durch das Wohnzimmer sauste. Marc war natürlich schneller. In einigen wenigen Schritten hatte er sie wieder eingeholt, legte den Arm um ihren Bauch, hob sie hoch und drehte sie auf den Kopf. Die langen, roten Haare hingen frei in der Luft nach unten und Leonies Gesicht lief rot an. Ob es am Lachen lag oder daran, dass ihr das Blut in den Kopf stieg, liess sich nicht genau sagen. Marc wirbelte Leonie noch kurz durch die Luft, bevor er sie wieder absetzte. Dann drückte er ihr einen Kuss auf den Scheitel und schubste sie ein wenig vorwärts. „Du verschwindest jetzt besser in die Küche und sorgst für guten Kaffee, vielleicht kann ich dir dann das mit dem Schwein verzeihen. Möglicherweise habe ich mich bis dahin auch entschieden, ob ich deine Handlung von vorhin sehr tapfer oder eher leichtsinnig finden soll.“
Leonie verdrehte die Augen. „Ach, Papa, du weisst doch, dass ich keinen Kaffee machen kann!“
„Egal. Nun geh!“ Gebieterisch hob Marc die Hand und zeigte in Richtung Tür, durch die Leonie dann auch kichernd verschwand.