1986
Nun war es für Verena amtlich. Dies waren die schlimmsten Ferien, die sie je erlebt hatte. Eigentlich hätte sie es bereits zu dem Zeitpunkt wissen müssen, als Marc ihre Einwände wegen des Abfahrtstages ignoriert hatte. Aber sie hatte nachgegeben. Und prompt gerieten sie in einen Stau, der ihr beinahe die Tochter genommen hätte. Dass jene dann kurze Zeit später erneut einer unberechenbaren Gefahrensituation ausgesetzt wurde, war einfach zu viel. Daran trug nur dieser verantwortungslose Vater die Schuld.
Schlimm genug, dass die Kleine mutterseelenallein die Piste unsicher machte, war sie ihr auch noch begeistert in die Arme gelaufen, nachdem Marc sie anschliessend wieder auf den Berg gebracht hatte. Ohne Punkt und Komma bekam sie die Geschehnisse erzählt. Während ihr Entsetzen stieg, schien Marc in seiner Reue zu ertrinken. Aber es brachte alles nichts.
Zutiefst enttäuscht schnappte sie sich kurzerhand ihr Kind und liess ihren Ehemann im Schnee stehen. Und nun, da sie sich in ihrer Ferienwohnung eingefunden und langsam zur Ruhe gekommen war, brach draussen ein ohrenbetäubender Tumult aus. Leonie war in ihrem Zimmer und wo Marc war, war Verena egal. Den kühlen Waschlappen von ihrer Stirn nehmend, schlurfte sie theatralisch auf den Balkon. Von dort konnte sie gerade noch sehen, wie eine nicht geringe Anzahl Leute beinahe ehrfürchtig vor einem Mann zurückwichen, der den Platz soeben zu betreten schien. Das anfängliche Selbstmitleid wich der unverhohlenen Neugier, weshalb Verena sich hinter dem Vorhang des Fensters hervor und hinaus auf den Balkon traute, von wo aus sie das Szenario besser überblicken konnte.
Obwohl sie wusste, dass es sich nicht gehörte, sich an anderer Menschen Leid zu weiden, obsiegte die Sensationslust. Sie war sich noch nicht schlüssig, ob sie dem Mann, der soeben von der Polizei aus dem Nachbarhaus geführt wurde, ihr Mitleid schenken oder ob sie ihn lieber verachten sollte. Während sie darüber nachgrübelte, dass jemand, der verhaftet wurde, bestimmt auch etwas ausgefressen hatte und es daher nicht besser verdiente, brach auf dem Platz plötzlich das Chaos aus. Zuerst waren die Stimmen nur leise an ihr Ohr gedrungen. Sie hatte hören können, wie der Begleiter des beeindruckenden Herrn dem Verhafteten jegliche Hilfe zusicherte, aber anstelle eines Ausdruckes der Dankbarkeit wurde der Sträfling ausfällig und ging überraschend zum Angriff über. Erschrocken riss Verena die Augen weit auf und schlug sich die Hand vor den offenstehenden Mund. Nun stand ihre Meinung fest. Empörung und Verachtung schienen die passenden Emotionen.
Gegenüber dem Balkon, im Schatten der Häuser, stand er nun und beobachtete die ganze Szene, genauso, wie er immer wieder einen Blick zum Balkon warf. Die Geste, wie sie sich vorhin die Hand vor den Mund geschlagen hatte, wirkte gekünstelt und auch etwas grotesk.
Unbewusst betastete er seinen Ehering. Dann schüttelte er leicht den Kopf. Für diese Art Ablenkung war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Er musste sich konzentrieren. Nachdem niemandem im Gasthof entgangen war, dass draussen ungewohnte Unruhe herrschte, war auch er in einigem Abstand zu den anderen wild spekulierenden Gästen zum Schauplatz des Geschehens aufgebrochen.
Genauso, wie er im Gasthof das Gespräch belauscht und sich alles genau eingeprägt hatte, beobachtete er nun mit wachsendem Interesse das Verhalten der Schaulustigen, das Auftreten der Herren Hans und Moritz und die daraus resultierende Reaktion des Verhafteten.
Nachdem jener dann abgeführt war und sich die Bevölkerung langsam wieder zu zerstreuen begann, rückte er noch etwas näher an die Hauswand und wartete mit möglichst teilnahmsloser Miene im Schutze des überhängenden Eingangsbereichs, bis nur noch wenige Unschlüssige auf dem Platz herumstanden.
Viele begaben sich zurück an ihre liegengelassene Arbeit. Manche versammelten sich grüppchenweise in einiger Entfernung um die Köpfe zusammenzustecken und wild gestikulierend über die willkommene Unterbrechung der Alltagsmonotonie zu schnattern. Während vor allem die aufgeregten Damen ihren Tratsch an die Theken der Läden verschoben, begaben sich die Herren vorwiegend in die dunkle Vertrautheit der Gaststuben. Und genau das tat er ihnen nach. Vorsichtig trat er aus seinem Versteck und ging mit leicht gesenktem Kopf zurück in das Wirtshaus, von wo aus er gestartet war.
Als er feststellte, dass weder Moritz noch Hans anwesend waren, setzte er sich an die Theke, mit dem Ziel, soviel wie möglich von dem Gerede aufzuschnappen und sich selbst ein wenig mit der grossbusigen Bardame zu unterhalten, deren weisse Haut so verführerisch aus dem weiten Ausschnitt glänzte. Denn niemand wusste mehr von den alltäglichen Bürden eines Dorfes als sie.
Etwas verärgert musste er feststellen, dass der Hocker in der Nähe des Kühlschranks mit dem Wein schon besetzt war. Also wählte er sich bewusst denjenigen neben dem Zapfhahn. Um ins Gespräch zu kommen, bestellte er sich ein Bier, womit sich seine Platzwahl bereits das erste Mal auszahlte.
„Ist ja einiges los bei euch.“
„Das kann man wohl sagen. Aber glaub ja nicht, dass das immer so ist.“
Er nahm ihr ihre Umgangsform keineswegs übel, denn er wusste, dass dies dazugehörte. Sie setzte ihm das Bier vor und er trank genüsslich einen grossen Schluck. Er wollte ihr Zeit geben. Zeit, die anderen Gäste zu bewirten, denn er wollte nicht aufdringlich sein. Seiner Meinung nach war dies die einzige Chance Informationen zu sammeln ohne bleibende Erinnerungen zu hinterlassen und unauffällig wieder verschwinden zu können.
„Ach nein? Und ich dachte, hier würden jeden Tag irgendwelche Leute verhaftet.“ Er versuchte es mit einem ironischen Tonfall und erntete tatsächlich ein Lächeln. Volltreffer.
„Naja, manchmal verschwinden die Leute auch einfach. Richtig unheimlich!“ Sie zwinkerte ihm verschwörerisch zu. „Aber wenn das öfter so wäre, könnte Grächen wohl schliessen. Und das wäre kaum im Sinne des Häuptlings.“
„Das klingt, als hätte er noch einiges vor.“
„Das klingt nicht nur so, das ist so. Die Hannigalpbahn war nur der Anfang. Es sollen da oben noch weit mehr Gebiete erschlossen werden.“ Da beide Hände mit Bierzapfen beschäftigt waren, wies sie mit den Augen in Richtung der Berge.
„Dann will Grächen in Zukunft voll und ganz auf den Tourismus setzen? Ein stolzes Vorhaben. Und wohl auch ziemlich teuer.“
„Oh, und ob! Allerdings hat der Chef, also der Hans, ein ziemlich gutes Händchen. Er hat schon mit der Gondel den richtigen Riecher bewiesen und viele Investoren gewinnen können. Wie mir zu Ohren kam, sind die Dividenden der Aktionäre zwar nett, aber es wäre wohl niemand böse, wenn sie etwas höher ausfielen. Ich bin überzeugt, dass da noch Steigerungspotential dahinter steckt. Schliesslich ist die Bahn noch nicht so lange in Betrieb, aber die Leute kommen, und zwar immer mehr, also gibt’s bestimmt auch immer mehr abzusahnen.“
Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren, während sich die Bardame erneut mit zwei vollen Gläsern den beiden Herren gegenüber zuwandte. Als sie zurückkam, hatte er weit mehr Fragen, als sie wahrscheinlich Antworten. Deshalb riss er sich zusammen und beschränkte sich weiterhin auf das Ankratzen der Oberfläche. Er schaute sich erst im Lokal um und sagte dann: „Scheint so, als gäbe es für jeden Verschwundenen zehn neue Menschen. Sieht jedenfalls so aus, als würde das Wirtshaus hier richtig gut laufen. Deine Werkzeuge sehen jedenfalls auch ordentlich und relativ neu aus.“ Er liess den Blick anerkennend hinter die Theke gleiten. Mit einem Augenzwinkern fügte er dann hinzu: „Vielleicht sollte ich aber eher sagen, ihr könnt froh sein, dass manche verschwinden? So geht euch wenigsten der Platz nicht aus.“
Wieder schmunzelte sie. Dann lehnte sie sich weit genug zu ihm hinüber, um sichergehen zu können, dass nur er richtig verstand, was sie zu sagen hatte. „Weisst du, seit die Bahn neu eröffnet hat, ist der Chef richtig spendabel geworden. Ich hatte schon lange um einen neuen Kühlschrank gebettelt. Der Zapfhahn war auch undicht. Und auf einmal standen da ein neuer Kühlschrank und ein neuer Zapfhahn. Ich wollte meinen Augen nicht trauen.“
„Wow, das ist ja nett. Da hat die Bahn wohl so manchem Aufschwung verliehen!“
„Besser gelaunt ist der Chef trotzdem nicht. Sitzt nach wie vor mürrisch an seinem Tisch und steckt den Kopf mit seinen zwei Kumpels zusammen. Obwohl, jetzt ist’s ja nur noch einer, nachdem der Josef Reissaus genommen hat. Und ich sag noch vor Kurzem zu einer Freundin, jedes Mal wenn ich an den Tisch geh’, verstummt das Gespräch. So geheimnisvoll wie die tun, drehen die bestimmt dauernd irgendwelche krummen Dinger. Und als hätte ich’s heraufbeschworen, verschwindet plötzlich der Josef und jetzt wird auch noch der Ambros verhaftet. Echt unheimlich.“ Sie tat, als müsste sie ihr Unwohlsein und ihre Gänsehaut abschütteln, lächelte aber unbeirrt weiter.
Der anonyme Anrufer hatte also recht gehabt. Hier wurde irgendein grosses Ding gedreht. Jemand schraubte an den Einnahmen und ein anderer Jemand wusste, wer das tat. Das hatte er im Gefühl. Die Lösung schien zum Greifen nah, aber eben nicht nah genug. Er musste eindeutig diesem Amstutz auf den Zahn fühlen.
Zumindest war ein kleines, aber wertvolles Etappenziel erreicht. Er war in den heiligen Kreis der Vertrauten der Barlady aufgenommen worden. Dass sie nichts auf den Klatsch gab, den sie offenbar selbst nur zu gerne in sich aufsog und dann wie ein unter Druck stehender Gartenschlauch weiterverbreitete, war ihm klar. Es war auch gut so, dass sie nicht wusste, wie viel wertvolle Wahrheit zwischen den Zeilen dieses Geredes herausgelesen werden konnte. Die Hauptsache war, dass er es wusste.