2010
Leonie war sich sicher, dass sie von zwei unbekannten Augen aus dem Innern des Hauses beobachtet wurde. Sie hätte auch schwören können, dass diese Augen demjenigen gehörten, den sie eigentlich gesucht hatte. Um nicht noch mehr Aufsehen zu erregen, stieg sie daher so gleichgültig wie möglich die Stufen wieder hinunter und schlenderte mit den Händen in den Jackentaschen davon. Zumindest bis um die Ecke des nächsten Hauses. Dort sah sie sich nach einem geeigneten Weg um, um geschützt vor den Blicken der Bewohner zu Hans Zumbrunns Haus zurückzukehren. Der Umstand, dass das Haus mit dem Rücken zu unbesiedeltem Waldgebiet stand, kam ihr in mehrerer Hinsicht entgegen. Zum einen zeichnete sich in der Ferne ein Wanderweg ab, der sich zwischen den Bäumen verlor - und wer würde einem Menschen auf einem befestigten Waldweg schon besondere Aufmerksamkeit schenken? - Zum anderen musste sie nicht befürchten, ihr Vorhaben würde durch neugierige Blicke der Nachbarn gestört werden.
Also schlenderte sie in den Wald, als wäre sie ein normaler Spaziergänger. Im Wald angekommen folgte sie eine gewisse Zeit lang dem Pfad, bis sie sich sicher sein konnte, dass man sie ohne Fernglas nicht mehr ausmachen konnte. Dann wandte sie sich nach rechts und bog vom Weg ab und in das dichte Unterholz des Waldes ein. Querfeldein schlug sie sich durch das ausladende Geäst der kahlen Bäume, bis sie an den äussersten Rand des Grundstücks der Zumbrunns stiess. Vor ihr stand eine alte, verwitterte Hütte, deren Bretterwand genügend Blickschutz bot, um unbemerkt bis zum Haupthaus gelangen zu können.
Noch einmal sah sie sich um, doch es war weit und breit keine Menschseele auszumachen. Dann sprang Leonie kurzerhand über den tiefen Holzzaun und näherte sich dem Haus. Nach wie vor schien sie niemand bemerkt zu haben, zumindest regte sich nichts. Vorsichtig wagte sie sich weiter vor. Ohne Zwischenfall schaffte sie es bis zu ihrem Ziel.
Geduckt tastete sie sich, mit dem Rücken zum Haus, unter den Fensterbrettern hindurch die Wand entlang, immer einen Blick nach oben richtend, um sicherzugehen, dass nicht plötzlich jemand den Kopf aus einem der Fenster streckte. Doch diese Seite des Gebäudes barg nicht das Gewünschte.
Also tat sie, was sie eigentlich hatte vermeiden wollen. Sie schob sich um die Hausecke herum und weiter an der alten Steinmauer des Sockels entlang. Fest der Überzeugung, dass es zu riskant war, die Frontmauer auch noch abzusuchen, dachte sie bereits über ihren Rückzug nach, als sie sich plötzlich mit ihrer Befürchtung konfrontiert sah. Auf einmal durchbrach ein knirschendes Geräusch die idyllische Stille. Erschrocken zuckte Leonie zusammen.
Nicht sicher, woher das Knirschen rührte, sah sie sich nach einem möglichen Versteck um. Dabei fiel ihr Blick auf den Erdboden direkt vor ihr, und da wusste sie, was das Geräusch verursachte. Da sie darauf bedacht war, sich an der Hausmauer zu orientieren, war ihr nicht aufgefallen, dass das schmale Rasenstück seitlich des Hauses durch einen Weg geteilt wurde. Und dieser Weg war mit feinem Kies bedeckt.
Als ihr dämmerte, dass die anfänglich leise scharrende Regelmässigkeit des Geräuschs kaum merklich, aber dafür schnell lauter wurde, stieg Panik in ihr auf. Mit unumstösslicher Sicherheit wusste sie auf einmal, was gerade geschah. Sie war nicht mehr alleine in dem Garten. Es kam jemand auf sie zu, und zwar schnell. Wenn sie sich also nicht schleunigst in Bewegung setzte, würde sie entdeckt werden. Nur wohin?
Alles spielte sich innert weniger Sekunden ab. Getrieben von ihrem Instinkt löste sich Leonie aus ihrer Deckung und setzte sich in Bewegung. Da erspähte sie, verdeckt von einem kleinen Stapel Brennholz, ein schräg stehendes Fenster im kalten Stein.
Ohne weiter nachzudenken stürzte Leonie darauf zu und hob es mit einigen wenigen Handgriffen soweit aus den Angeln, dass sie es ganz öffnen konnte. Dann liess sie sich in Windeseile durch die schmale Öffnung in den Keller des Hauses gleiten, drehte sich um und verriegelte das Fenster exakt in dem Augenblick, als sich von aussen ein Schatten vor die Öffnung schob. Den Schrei, der ihrer Kehle entweichen wollte, mit aller Macht hinunterkämpfend presste sich Leonie an die Wand unter dem Fenster. Dunkle, schmale Schatten hielten das fahle Licht, das durch das Fenster drang, in Bewegung.
Erst als das Tageslicht wieder regungslos in den Raum schimmerte und die leisen Schritte nicht mehr zu hören waren, wagte es Leonie, sich zu bewegen. Sie löste sich von der Wand, warf noch einmal einen scheuen Blick zurück zum Fenster und konzentrierte sich dann voll und ganz auf das, was vor ihr lag.
Es dauerte eine Weile, bis sich Leonies Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Schliesslich konnte sie aber die Umrisse von allerlei Kram erkennen. Ein alter Waschkessel stand in der einen Ecke, während in der anderen ein Militärfahrrad vor sich hin rostete. Zaumzeug aus längst vergangenen Zeiten hing an der Wand und dazwischen standen drei massive Bauernschränke, bemalt mit wunderschönen Blumenmustern und Vögeln.
Leonie wusste nicht, was sie eigentlich suchte, geschweige denn, was sie erwartet hatte. Also zog sie einfach die erstbeste Schranktür auf. Jeder Regalboden war über und über mit Papieren bedeckt. Zwischen den Papieren standen einige blaue Bundesordner, deren Beschriftungen beinahe bis zur Unleserlichkeit verblichen waren. Doch bei genauerem Hinsehen liess sich feststellen, dass es sich bei den Ordneranschriften um Zahlen handeln musste.
Neugierig trat Leonie näher an die Regale heran und zog zuerst wahllos eines der losen Papiere vom Stapel neben den Ordnern. Auf dem Kopf des Durchschlagpapiers war noch schwach ein Teil eines Logos zu erkennen. Darunter stand in gedruckten Lettern das Wort ‚Quittung’. Leonie zog weitere Papiere von der Ablage und schliesslich öffnete sie auch den Ordner, auf dem schwach die Zahl 84 zu erkennen war.
Je mehr Unterlagen sie durchblätterte, desto mehr kam sie ins Grübeln. Immer weiter blätterte sie die Dokumente durch, ihre Stirn stärker und stärker in Falten gelegt. Sie vertiefte sich sosehr in ihre Lektüre, dass sie beinahe vergass, wo sie sich befand. Bis plötzlich leises Gemurmel an ihr Ohr drang. Beinahe hätte sie vor Schreck den Ordner fallen gelassen.
Konzentriert starrte sie ins Leere und lauschte angestrengt. Anfangs schienen die Stimmen in einiger Entfernung zu sein, doch sie kamen deutlich näher. Die Unterhaltung wurde leise geführt, so dass Leonie die Worte auch dann nicht verstehen konnte, als sie die Personen zu den Stimmen direkt über sich wähnte. Instinktiv blickte sie in die Richtung, aus der sie die Geräusche vermutete und wog mit ängstlich hämmerndem Herzen ab, was zu tun war. Sollte sie die Flucht wagen und Gefahr laufen, dass die Menschen über ihr sie aus dem Fenster klettern sahen, oder war es klüger, auszuharren und zu hoffen, dass sie mitbekam, wie die Leute den Raum wieder verliessen? Wo würden sie allerdings stattdessen hingehen? In ein anderes Zimmer mit wunderbarer Sicht auf ihren Versuch sich davonzustehlen? Oder würden sie gar auf die Idee kommen, das alte Militärfahrrad aus dem Keller zu holen, wobei sie dann wohl auch entdeckt würde?
Plötzlich verebbte die Unterhaltung im oberen Stockwerk. Nur noch ein ganz kurzer Wortwechsel war zu vernehmen, dessen Stimmengewalt in keiner Weise dem vorherigen Gespräch glich. Die ganze Aufregung war verflogen. Auf einmal lag eine Ruhe in der Luft, die so erdrückend wirkte, wie ein schwerer Duft.
Die plötzliche Stille holte Leonie genauso effektiv aus ihren Gedanken wie donnernder Lärm. Alarmiert horchte sie auf. Dann plötzlich ein dumpfes Geräusch, gleich darauf ein leises Aufstöhnen. Leonie strengte ihr Gehör noch etwas mehr an, da stürzte etwas so laut polternd auf die Dielen direkt über ihr, dass der Boden zu erzittern schien. Weder auf die Lautstärke gefasst noch auf die Nähe des Lärms, fuhr Leonie derart zusammen, dass sie sich auf dem Boden hockend, den Ordner schützend über ihren Kopf haltend wiederfand. Dann ging alles ganz schnell. Die Angst entdeckt zu werden wich einem ungestümen Drang zu flüchten.
Als wäre ein Startschuss gefallen, preschte Leonie nach vorne, stürzte zum Fenster und riss es mit der einen Hand weit auf, während sie mit der anderen bereits den Ordner auf den Rasen warf und diesem dann auch eiligst folgte. Draussen angekommen nahm sie ihre Beute fest in die Arme und die Beine in die Hand.
Als Leonie in die Nähe des Dorfplatzes kam, zügelte sie ihr Tempo und konzentrierte sich auf ihre Atmung, die sich nach und nach wieder etwas beruhigte. Bemüht, möglichst natürlich zu wirken und nicht so, als käme sie von einem Einbruch, schlenderte sie, den Ordner lässig unter dem Arm, an den letzten Häusern vorbei, bevor sich die Strasse zum hübschen Platz mit Blick auf die Kirche öffnete. Dort war die übliche, gemächliche Geschäftigkeit, ausgelöst durch die an- und wegfahrenden Autos, einer ungewöhnlichen Aufregung gewichen. Erstaunt registrierte Leonie eine beinahe elektrisierende Unruhe. Aussergewöhnlich viele Menschen standen auf dem Platz herum und sprachen aufgeregt, aber dennoch in gedämpfter Tonlage, ja beinahe ehrfürchtig, miteinander.
Suchend schaute sich Leonie um, bis sie am Rand des Menschenauflaufs wie erhofft ein bekanntes Gesicht entdeckte. Etwas erhöht stand Sebastian vor dem Gemeindesaal und blickte ruhig in die Menge. Sie schob sich durch die Leute, bis sie an ihrem Ziel ankam.
„Was ist hier los?“ Angepasst an die Lautstärke der anderen, waren Leonies Worte kaum mehr als ein Flüstern.
„Die Untersuchungen der Toten aus dem Gletscher sind beendet.“
„Ach ja? Weiss man jetzt sicher, wer sie waren?“
„Einer der beiden war tatsächlich Moritz. Der andere war sein Knecht. Die Menschen hier hatten also recht.“
„Oh, wow.“ Von der seltsamen Stimmung angesteckt, trat Leonie noch etwas näher an Sebastian heran. „Und was ist mit den Stichwunden, die in der Zeitung erwähnt waren?“
Sebastian senkte seinen Kopf, bis sein Gesicht ganz nah an Leonies Ohr war. „Es soll tatsächlich die Todesursache sein.“ Sein Atem streifte ihr Haar und sie erschauerte.
„Denkt ihr an Selbstmord?“
Leonie spürte, wie Sebastian langsam bedächtig den Kopf schüttelte.
Um den Gruselfaktor abzuschütteln, musste Leonie mehrmals schlucken, doch ihr wurde die Stimme rau, als sie dem Worte verlieh, was allgegenwärtig in der Luft zu hängen schien. „Das bedeutet, es war Mord.“
Als Sebastian sich nicht regte, sah sie zu ihm auf. Sein Blick sagte alles.
„Was meinst du, was passiert ist?“
„Wenn ich das wüsste. Die Menschen hier hätten nur zu gerne, dass sich die Toten aus einem einfachen Streit heraus gegenseitig erdolcht hätten. Für das Dorf und seine Vergangenheit wäre es das Einfachste. Aber es scheint niemand wirklich daran zu glauben. Einige, vor allem ältere, geben sich der Theorie hin, dass damals zuviel Sünde geschehen ist. Dieser Umstand hat nach Meinung der Älteren den Geist der alten Sagen wieder erweckt, der sich sogleich daran gemacht hat, die Gottlosen dahinzuraffen. Er da“, Sebastian zeigte auf ein gedrungenes, dünnes Männlein mit schütterem Haar, schlechten Zähnen und schwieligen Händen, „ist der Ansicht, er hätte damals ein schleifendes Geräusch vor seinem Haus gehört. Aus Neugierde ging er ans Fenster und entdeckte draussen in der Kälte einen Mann in einem schwarzen Umhang, der etwas Schweres zog. Der alte Mann glaubte, das wäre einer der Bettler, die im Tod Speisen auf den Berg trugen.“
Ein Lächeln huschte über Sebastians Gesicht, als er Leonies verständnislosen Ausdruck sah. „Man erzählt sich, dass viele Bettler mehr zusammenschnorrten, als sie eigentlich brauchten. Also wurden sie etwas zu wählerisch dafür, dass sie Bettler waren, was sich im Tod rächte. Zur Strafe mussten sie dann nach ihrem Ableben jedes weggeworfene und vergammelte Stückchen aufsammeln und den Berg hinauftragen. Aber immer, wenn sie kurz davor waren, an der Bergspitze anzukommen, rollte der Ballast den Berg wieder hinunter, denn jedes Stückchen wog so schwer wie ein grosser Stein. Das ist übrigens auch die Erklärung für Steinschlag oder Wuhrgänge. Immer, wenn sich am Berg ein Fels löst, sagt man, die Bettler würden wieder Speisen rollen.“
„Das ist ja eine tolle Geschichte. Aber er glaubt das doch nicht im Ernst?“
„Doch, ich denke, genau das tut er. Der dort drüben ist der Ansicht, dass er in derselben Nacht auch etwas vor seinem Fenster gehört hat. Er wagte aber nicht hinzugehen und nachzusehen, da er fürchtete, es wäre eine Totenprozession.“
„Davon habe ich, glaube ich, schon gelesen. Hörten die Menschen draussen Wimmern, Weinen oder sonstige ungewöhnliche Geräusche, glaubten sie, die Toten gingen vor dem Haus durch. Die meisten wagten nicht nachzusehen, wohl auch, weil sie nicht die nächsten sein wollten, die der Tod mit sich nahm.“
„So ist es. Deshalb hat sich auch der alte Georg unter dem Esstisch versteckt, bis das schleifende Geräusch abgeebbt war.“
Es gefiel ihr, dass Sebastian sich während den Erzählungen in einem ausgeprägten Walliser Dialekt zu verlieren schien. Dabei störte es Leonie keineswegs, dass sie manche Worte und Ausdrücke nicht auf Anhieb, sondern erst im Kontext, verstand. Gerne hätte sie ihm noch weiter zugehört, doch einer plötzlichen Eingebung folgend, legte sie eine Hand auf Sebastians Arm. „Warte. Glaubt man nun denjenigen, die nahrungsmittelrollende Bettler und Totenprozessionen gesehen haben wollen, dann haben sie, genaugenommen, wahrscheinlich den Mörder mit seinen Opfern gesehen!“
Sebastian liess sich die Möglichkeit kurz durch den Kopf gehen und kam zum selben Schluss. Allerdings hatte Leonie inzwischen seinen Ärmel losgelassen, nur um sich an den nächsten zu hängen. Nämlich den des Männchens, das den toten Bettler gesehen haben wollte.
„Entschuldigen Sie bitte, Sie kennen mich nicht, aber ich habe gehört, dass Sie in der Nacht, in der das alles geschah, einen Mann in einem schwarzen Umhang mit einer schweren Last an ihrem Fenster vorbeigehen sahen. Konnten Sie erkennen, wer das war?“
Verwirrt starrte der Alte Leonie an. Es dauerte eine Weile, bis er den Mund aufbrachte. „Grüne Augen. Das sind grüne Augen und rotes Haar. Dass es dich noch gibt! Ich dachte, man hätte dich verbrannt. Und jetzt stehst du hier und fragst nach dem Bettler aus jener Nacht. Willst du ihn dir holen?“
Leonie brauchte einen Augenblick um zu verstehen. Sebastian war da schneller. „Nein, mein Guter, sie will niemanden holen.“ Unauffällig schob Sebastian Leonie hinter seinen Rücken, aus dem Blickfeld des Alten. „Aber kannst du mir sagen, ob du damals das Gesicht des Bettlers erkanntest?“
„Er musste büssen.“
„Ja, das musste er und muss er immer noch. Wenn du mir nur sagen könntest, wie er ausgesehen hat, könnten wir ihn für seine Sünden auf ewig strafen.“
„Das hätte er verdient, dieser Ungläubige.“ Sebastian schien den richtigen Nerv getroffen zu haben. Die leeren Augen des Alten klärten sich und in seinem wässrigen Blick stand auf einmal so etwas wie Leidenschaft.
„Oh, wie wahr! Nur hat der Sündige seine Busse nicht mit erhobenem Kopf getan. Wie sich’s gehört, hielt er den Blick in Reue und Demut gegen Mutter Erde gerichtet.“
Nur mit Mühe konnte Sebastian seine Enttäuschung verbergen. „Das heisst, du hast ihn nicht erkannt.“
„Nein.“ Der Alte schien zu bemerken, dass aufgrund seiner Unwissenheit ein Sünder möglicherweise der gerechten Strafe entkam. Enttäuscht liess er den Kopf hängen.
Sebastian begriff, weshalb er dem Alten beschwichtigend die Hand auf die Schulter legte. „Ist schon gut, wir werden ihn trotzdem finden. Bestimmt.“ Damit wandte sich Sebastian ab und wollte ganz nebenbei Leonie mit sich mitziehen. Er erwischte aber nicht ihre Hand, sondern den Ordner darin. Stutzend hielt er inne.
„Was ist das denn?“
Unschuldig blinzelte Leonie Sebastian an. „Ein Ordner. Aber sag mir lieber, was das vorhin eben sollte. Was hat der Mann damit gemeint, als er sagte, er dachte, man hätte mich verbrannt?“
„Ach nichts, er hat dich einfach nur richtig eingeschätzt.“
Den freien Arm in die Seite gestützt, stand Leonie mit hochgezogener Augenbraue vor Sebastian. „Hilf mir bitte, ich kapier’s nicht.“
„Er hat dich für eine Hexe gehalten. Grüne Augen, rotes Haar.“ Sebastian war machtlos gegen das schelmische Grinsen, das sich auf seinem ganzen Gesicht ausbreitete. Dann wurde er wieder ernst. „Nenn es klischeebehafteter Aberglaube, aber für ihn hat all das nie an Wahrheit verloren. Du musst aber nicht meinen, damit ablenken zu können. Wo genau hast du gesagt, bist du gewesen?“
Leonie räusperte sich. „Bei Hans Zumbrunn.“
„Okay. Und was genau hast du dort gemacht? Hast du etwa etwas herausgefunden?“
„Nicht direkt. Also, ich bin mir noch nicht sicher.“
„Ist der Ordner von ihm?“
„Wie kommst du darauf?“
„Er war der Gemeindepräsident und unten auf der Ordneranschrift prangt das Wappen der Gemeinde.“
Wie ein Kind, das beim Äpfelstehlen erwischt wurde, errötete Leonie. Das war Antwort genug. „Er hat dir den Ordner nicht freiwillig gegeben, nicht wahr?“ Doch Sebastian wartete die Antwort gar nicht erst ab. „Was hast du mit Hans gemacht?“
In diesem Augenblick schrie irgendwo am anderen Ende des Platzes eine Frau entsetzt auf. Dann wurde es einen kurzen Augenblick ganz still, bevor eine neue Woge der Aufregung die Menschen aufschreckte. Wie ein Buschfeuer trieb die Nachricht in Richtung Kirche, wo sie Leonie und Sebastian erreichte. Doch keiner der beiden traute seinen Ohren. Reflexartig schaute Leonie mit vor Schreck geweiteten Augen zu Sebastian hoch. Mit flehendem Blick schüttelte sie den Kopf. Sebastian hingegen war irritiert. Für einen kurzen Moment hatte sein Gehirn die Geräusche um ihn herum vollständig ausgeblendet. Er fühlte sich wie in einem schalldichten Raum. Aber noch bevor er das Gehörte begriffen hatte, durchbrach ein fröhliches Pfeifen die unwirkliche Situation und holte ihn zurück in die Gegenwart.
„Was zum…“
„Hallo, ihr zwei! Was ist denn hier los?“
Auch Leonie schien schlagartig aus ihrer Starre zu erwachen. „Der ehemalige…, ich meine, einer der Bürger…, also genau genommen Hans Zumbrunn… er ist tot.“ Verzweifelt blickte Leonie erneut zu Sebastian, dessen Miene undurchschaubar war.
Sören beobachtete die Szene einen kurzen Augenblick, musste aber feststellen, dass er nicht durchblickte. „Und das ist unglaublich schlimm, weil…?“
Leonie dämmerte, dass sie nicht auf Sebastian zählen konnte. Gut, dass sie ihre Fassung langsam wieder zurück gewann. Kurz fragte sie sich, weshalb er sich immer so seltsam aufführte, sobald Sören auftauchte, schob den Gedanken aber zugunsten einer Antwort für Sören beiseite. „Er war unter anderem im Jahr 1986 der Gemeindepräsident. Ich war gerade eben noch bei ihm. Und jetzt ist er tot.“
„Na, das wird ja immer interessanter. Was hat er dir denn erzählt?“
„Nun, erzählt hat er eigentlich nicht wirklich etwas. Um ehrlich zu sein, war ich nicht direkt bei ihm.“ Leonie packte Sören am Arm und zog ihn weg von der Menge in den Schatten der Kirche.
In kaum hörbarem Flüsterton sprach sie weiter. „Nachdem eine Frau mich an der Tür zum zweiten Mal abblitzen liess, bin ich kurzerhand in seinen Keller eingestiegen.“ Sebastian, der ihnen auf dem Fuss gefolgt war, sog bei diesen Worten scharf die Luft ein. Aber Leonie sprach ungerührt weiter. „Ich habe dort diesen Ordner gefunden. Ob das, was sich darin befindet, von Interesse ist, weiss ich aber noch nicht genau.“
„Du kleine Draufgängerin!“ Während Sebastian mit seinem Sinn für Gerechtigkeit kämpfte, schien Sören von Leonies Aktion ganz angetan. „Wann bist du denn dort gewesen?“
„Vor einer knappen halben Stunde hab’ ich mich verzogen, weil ich seltsame Geräusche gehört habe.“ Schwer musste Leonie schlucken, als ihr klar wurde, dass diese Geräusche möglicherweise von dem sterbenden Hans gekommen waren. Und sie war einfach weggerannt. Ohne ihm zu helfen.
Als hätte Sören ihre Gedanken lesen können, packte er sie an den Schultern. „Mach dir jetzt bloss keine Vorwürfe. Egal, was du gehört hast, du hättest nichts tun können. Okay? Ausserdem sagst du, war noch eine Frau da, also hätte auch die reagieren können. Woran soll er denn gestorben sein?“
„Die sagen, er ist schwer gestürzt und hat sich den Kopf am Tisch aufgeschlagen. Sie brachten ihn ins Krankenhaus, aber man konnte nichts mehr für ihn tun.“
Absurderweise fiel Leonie exakt in diesem Moment erneut auf, wie angenehm Sebastians Stimme war. Um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können, fuhr sie sich ungeduldig durchs Haar. „Gestürzt. Wann, haben sie gesagt, hat die Frau ihn entdeckt?“
Sebastian sah auf seine Uhr. „Inzwischen vor knapp dreissig Minuten.“
„Ich bin also tatsächlich noch dort gewesen. Aber“, Leonie stockte, bevor sie mit in Falten gelegter Stirn weiter sprach, „wohnen noch mehr Leute in dem Haus?“
Sebastian dachte kurz nach, bevor er antwortete. „Nein, nur seine Schwägerin und er.“
„Seine Schwägerin? Und was ist mit seiner Frau?“ Sören machte grosse Augen.
„Sie ist vor längerer Zeit gestorben. Dann zog ihre Schwester bei ihm ein, um sich um den Haushalt zu kümmern.“
„Den Haushalt, natürlich. Worum kümmert sie sich sonst noch?“
„Sören!“ Empört unterbrach Leonie seine Gedankengänge. „Das tut jetzt überhaupt nichts zu Sache! Wichtiger ist, dass unter diesen Umständen ziemlich sicher er im Raum über mir war. Aber er war nicht allein.“
Leonies Tonfall liess beide Männer aufhorchen. Sören klappte bereits den Mund auf, doch Sebastian war schneller. „Wie meinst du das?“
„Es waren sicher zwei Menschen da. Ich habe sie sprechen gehört.“
„Echt? Was haben sie gesagt?“ Vor Aufregung überschlug sich Sörens Stimme beinahe.
„Es könnte auch der Fernseher gewesen sein.“
Leonie bedachte Sebastian mit einem wütenden Blick. „Ich werde doch den Unterschied zwischen einem Fernseher und den Geräuschen zweier Menschen erkennen! Erst recht, wenn sie sich direkt über mir bewegen. Es sei denn, der gute Herr Zumbrunn war so breit, dass er den gesamten Raum einnahm.“ Wieder an Sören gewandt sagte sie dann: „Die Worte habe ich nicht verstanden. Aber ich hörte auf einmal ein dumpfes Geräusch und dann ein Stöhnen. Dann bin ich abgehauen.“
„Willst du damit etwa andeuten, dass ihn die Schwester seiner Frau um die Ecke brachte?“ Sörens Grinsen wurde immer breiter. Er genoss sichtlich die Vorstellung in einem waschechten Krimi mitzuspielen.
„Das, oder es war noch jemand anderes im Haus, von dem wir bisher nichts wissen. Aber fest steht, zum Zeitpunkt seines Todes, war noch jemand bei ihm.“
Sebastian glaubte seinen Ohren nicht mehr trauen zu können. „Leonie, wenn das, was du hier sagst, wahr ist, dann müssen wir das melden!“
„Ja, aber klar.“ Leonie zauberte den ironischsten Tonfall aus ihrem Repertoire hervor, um zu unterstreichen, dass sie nichts von dem Vorschlag hielt. „Stell dir das doch bitte vor. Eine wildfremde Saisonarbeiterin spaziert bei der Polizei rein, erzählt denen eine abenteuerliche Geschichte über eine Verschwörung, die bereits vor über 20 Jahren ihren Anfang genommen haben soll und jetzt, nach etlichen Jahren Pause, fortgesetzt wird. Bisher traurigster Höhepunkt dieser Fortsetzung: Der Tod von Hans Zumbrunn, einem bedeutenden, ehrenwerten, allseits geachteten Mitglied der Gemeinde. Nehme ich zumindest an, so betroffen, wie alle über die Nachricht seines Todes sind. Habe ich Beweise? Nein. Woher ich das wissen will? Nun, ich bin gerade eben mal kurz in sein Haus eingestiegen. Bin ich durchgeknallt? Wahrscheinlich.“
„Aber was willst du sonst tun?“ Eigentlich ahnte Sebastian die Antwort bereits. Der Blick in Leonies grüne Augen bestätigte seine Vermutung. Es kostete ihn einiges an Selbstbeherrschung ruhig zu bleiben. Entsprechend presste er die Worte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Das kann unmöglich dein Ernst sein.“
„Egal, wie sich sein Ableben gestaltet hat, jetzt ist der beste Zeitpunkt, sich den Ort des Geschehens anzusehen, denn je mehr Zeit verstreicht, desto mehr wird er verändert und verfälscht.“
„Irgendwie habe ich etwas verpasst. Worum genau geht es gerade?“ Fragend schaute Sören vom einen zur anderen. Aber Sebastian und Leonie schienen derart vertieft, dass sie Sörens Einwand nicht weiter beachteten.
„Sebastian, du warst nicht dort. Die Frau hat um jeden Preis versucht, Hans’ Anwesenheit vor mir zu verbergen. Aber warum?“
„Weil sie etwas verheimlicht. Nur was?“
„Aber jetzt ist er doch tot, weshalb noch ein Geheimnis hüten?“, unterbrach Sören die beiden erneut. Diesmal hörten sie hin.
„Genau das gilt es herauszufinden.“
„Du willst nochmal in das Haus?“ Leonies entschlossener Blick reichte Sören als Antwort. „Und wenn noch jemand dort ist? Zum Beispiel um die Schwägerin zu trösten?“
Dieser Einwand zerstörte Sebastian, wenn auch widerwillig. „Die Polizei ist im Haus fertig. Die beiden diensthabenden Polizisten haben sich vorhin an der Menge vorbei geschlichen, um keine lästigen Fragen beantworten zu müssen. Ansonsten vertraut sich die Schwägerin seit jeher nur dem Pfarrer an.“
Sören blickte automatisch auf die Kirche, in deren Schatten sie standen. „Ein Pfarrer und eine gottesfürchtige Frau. Na dann, nichts wie los!“ Ohne weiter zu zögern wandte sich Sören zum Gehen, was Leonie erst verdutzt, dann erfreut zur Kenntnis nahm. Bevor sie sich allerdings in Bewegung setzte, schaute sie Sebastian flehend an.
Er sah sie einen Moment lang an. Dann antwortete er: „Ich werde jetzt zur Arbeit gehen. Was du vor hast weiss ich nicht.“
Erleichtert nickte Leonie kurz, dann packte sie Sören an der Hand. Er konnte gerade noch das Handy in der Innentasche der Jacke verschwinden lassne, als sie mit ihm in die Richtung davoneilte, aus der sie gekommen war.
Während der Dorfplatz sich langsam wieder leerte und die Menschen ihrer eigentlichen Beschäftigung nachgingen, surrte auf einem hübschen, mit Schnitzereien verzierten Nachttisch ein kleines, graues Mobiltelefon. Begleitet von einem verschlafenen Aufstöhnen tastete sich eine schlanke Hand unter der Bettdecke hervor und griff danach. In dem sonst dunklen Zimmer schimmerte der goldene Ring sanft im Schein des leuchtenden Displays. Schnell umschlossen die Finger das erneut surrende Telefon, zogen es unter die Bettdecke und öffneten flink die Ursache des Lärms. Auf dem Bildschirm erschienen nur wenige Worte:
S. im Auge behalten, könnte zur Bedrohung werden.
In Windeseile stoben die Fingerkuppen über die virtuellen Tasten des Touchscreens, während die fein säuberlich manikürten Fingernägel bei jeder Berührung ein leises Klacken von sich gaben.
Mache mich sofort an die Arbeit.
Ein kleiner Seufzer liess sich vernehmen, bevor dann zwei Beine über die Bettkante geschoben wurden und die genauso perfekt manikürten Füsse auf dem Boden aufsetzten.