1986
„Habe ich es nicht gesagt?“ Verena drehte sich zu schnell zur Seite. Der Sicherheitsgurt blockierte und zwang sie mit nur einem Ruck in der Bewegung inne zu halten, während sich eine blonde Strähne aus ihrer perfekten Dauerwelle stahl. Verena versuchte die Haltung zu wahren und zu ignorieren, dass sie wie ein Crashtest-Dummy im Gurt fest hing. Um jeden Preis suchte sie die frontale Auseinandersetzung mit ihrem Ehemann.
Die Blechlawine schob sich schwerfällig über den nassen Asphalt, während der Regen unaufhörlich auf die Windschutzscheibe des grauen Ford Escort prasselte. Die Scheibenwischer, die mit ihrem regelmässigen Quietschen musikalisch den unermüdlichen Kampf gegen die Rinnsale untermalten, vermochten es nicht annähernd, auch die dicke Luft im Innern des Autos wegzuwischen.
Bereits Anfang der Woche hatte Verena gesagt - nein, gepredigt hatte sie es - dass sie besser freitags in den Urlaub aufbrechen sollten, denn der Beginn der Schulferien trieb nicht nur sie auf die Strasse, sondern auch viele andere Wintersporthungrige. Aber er hatte sie nicht angehört, weshalb sie jetzt genau im diesem prophezeiten Stau festsassen und Unmengen an Freizeit verloren, für die sie andere Pläne hatte.
„Also wenn du damit meinst, dass wir besser gestern schon gefahren wären, dann kann ich dir nach wie vor nicht beipflichten. Die Wohnung war erst ab heute zu haben, und ausserdem wären wir dann in den Stau geraten, den diejenige verursachen, die auf ihre Ehefrauen hören.“
Verena wurde das Gefühl nicht los, dass sie nicht ernst genommen wurde. Ihre Stimmung sank vom Keller in den Maulwurfsbau. Die Arme vor sich verschränkt, liess sie sich demonstrativ in ihren Sitz zurück fallen. „Aber du siehst doch eins zu eins, dass ich Recht hatte!“, murrte sie und verzog ihre rot geschminkten Lippen zu einem Schmollmund.
Von dem Streit bekam das dreijährige rothaarige Mädchen mit den grünen Kulleraugen nur wenig mit. Zu vertieft war sie in ihr eigenes Gespräch mit ihrer Puppe Lilli, deren Gesicht sie von ihrem Platz auf dem Rücksitz ans Fenster hielt, damit auch Lilli nichts entging. In ihrer kindlichen Art erklärte ihr Leonie alles, was ihr vor die Augen kam, obwohl sich der Abwechslungsreichtum in der Betrachtungsweise eines Erwachsenen zurzeit eher in Grenzen hielt.
„Was willst du von mir hören? Es ändert ja doch nichts! Aber gut. Ja, Liebling, wir stehen im Stau, und ja, wir hätten den Verkehr möglicherweise umgehen können, wenn wir gestern schon gefahren wären, denn all die Leute rund um uns herum scheinen Ferien und dasselbe Ziel zu haben, als gäbe es nirgends sonst in der Schweiz Schnee. Zufrieden?“
„Nein. Und dein genervtes Augenrollen habe ich genau gesehen. Das kannst du dir sparen, sonst ist dies das letzte Mal, dass wir zusammen in die Ferien fahren. Hast du das verstanden?“
Marc schob sich seine grosse goldumrandete Brille zurück auf die Nasenwurzel. „Liebes, nicht schon wieder. Solche Drohungen solltest du lassen, vor allem, wenn auch die Kleine dich hören kann.“
Um sich bei ihrer Tochter für ihre Aussage zu entschuldigen, schaute sich Verena zu ihr um. Der Schrei blieb ihr im Hals stecken. Als Marc den entsetzten Ausdruck auf dem Gesicht seiner Frau sah, war die Zankerei vergessen. Hastig riss er den Rückspiegel hin und her, aber alles was er zu sehen bekam, war eine leere Rückbank. In aller Eile löste er den Sicherheitsgurt und sprang aus dem Auto. Weil er einfach den Fuss von der Kupplung nahm, starb der Motor mit einem kleinen Satz ab. Aber er bemerkte es überhaupt nicht. Panisch rief er nach Leonie, aber er erhielt keine Antwort. Innert kürzester Zeit war er vollkommen durchnässt. Das Wasser tropfte ihm unaufhörlich von seinem dunklen, leicht gewellten Haar ins Gesicht. Zwischen den im Schritttempo rollenden Autos schlüpfte er hindurch, stützte sich auf Motorhauben und zuckte nicht zurück, wenn jemand in ihn hineinrollte. Wütende Fahrer kurbelten die Fenster hinunter und brüllten ihm nach. Seinen stehenden Wagen versuchte man mit wilden Hupkonzerten beiseite zu zwingen. Verena war inzwischen ebenfalls ausgestiegen. Sie hätte den Ford wegfahren können, hätte sie nur den dämlichen Führerschein gemacht. So stand sie nur hilflos weinend daneben, während ihre perfekte Dauerwelle dem Regen nach und nach zum Opfer fiel. Bis dann auf einmal ein Ruf aus vermeintlich weiter Ferne an ihr Ohr drang.
„Ich habe sie! Ich hab sie!“
Durch einen dichten Schleier ihrer mit Regen vermengten Tränen nahm sie schemenhaft eine Gestalt war. Wagemutig kam sie durch die unerbittlich hupenden Blechmonster auf Verena zu. In den Armen ein nasses Bündel mit einer Puppe in der Hand.
„Ich wollte Lilli doch nur den Regenbogen aus der Nähe zeigen!“
Verena wischte sich die Augen trocken, und tatsächlich: Über der grünen Wiese am Rande der Autobahn riss die Wolkendecke auf und gab die Sicht auf den sonnendurchfluteten Himmel frei. Sein Leuchten brach sich im nassen Vorhang über der Autobahn in Form eines schillernden Regenbogens. Verena versagte die Stimme, aber das war egal. Worte hätte sie sowieso keine gehabt. Also schloss sie ihre kleine Tochter einfach nur in die Arme und stieg schweigend, aber überglücklich, dass nichts Schlimmeres geschehen war, zurück ins Auto. Doch anstatt den Platz neben ihrem Mann einzunehmen, setzte sie sich auf die Rückbank, von der sie sich bis ans Ziel nicht mehr wegzubewegen gedachte.