2010

 

„Musstest du ihr gleich unsere gesamte Lebensgeschichte auftischen?“

Die Bar war schon lange abgeschlossen und die nötigen Stunden Schlaf eingeholt. Wie fast jeden Morgen war Sebastian mit seinem Schlüssel in Angelas Haus spaziert, hatte sich einen Kaffee gemacht und sich an die glänzende Granitplatte ihrer Küchentheke gesetzt, wo er ihr nun beim Kochen zusah. Schon als Sebastian noch ein kleiner Junge war, hielten Angelas Eltern immer eine Tür für ihn offen. Obwohl inzwischen beide erwachsen geworden und Angelas Eltern gestorben waren, wurde diese Tradition beibehalten. Es störte Angela nicht, manchmal noch ein Maul mehr zu stopfen. Im Gegenteil, sie genoss es. Denn ihrer Meinung nach half diese Geste, nebst der Tatsache, dass sie im Haus ihrer Eltern lebte, das Andenken an sie aufrecht zu erhalten. Ausserdem gehörte Sebastian auch ohne Blutsverwandtschaft zur Familie, weshalb sie ihm auch einen Schlüssel gegeben hatte.

„Ich mag sie.“

„Du kennst sie gerade einmal seit einer Schicht in einem lauten Barbetrieb, der kaum Zeit lässt, sich zu unterhalten und kannst bereits behaupten sie zu mögen? Und ich dachte, du hättest damals Timo übereilt geheiratet.“

„Hey, wir waren immerhin ein halbes Jahr zusammen bevor er mir den Antrag gemacht hat.“ Die eine Hand hatte Angela in die Seite gestemmt, in der anderen hielt sie einen Kochlöffel, mit dem sie nun vor Sebastians Nase herumfuchtelte. „Und wenn du dich erinnerst, sind wir inzwischen seit fünf Jahren verheiratet und ich behaupte immer noch, diesen Kerl nie wieder herzugeben. Was sagt uns das?“

„Dass du komplett übergeschnappt bist.“

„Nein! Dass ich damals mit meiner Entscheidung richtig lag und deshalb auch heute richtig liege, wenn ich sage, dass ich diese Leonie mag.“

„Verschenk dein Herz nicht zu sehr an sie. Glaube mir, sie ist genauso oberflächlich wie alle anderen, die Sascha angeschleppt hat. Sobald sie mit ihm im Bett war, verschwindet sie Ende Saison und lässt sich nie wieder blicken.“

„Ist das nicht ein wenig voreingenommen? Ich weiss nicht, aber irgendwie scheint sie mir interessierter, natürlicher und offener zu sein.“

„Interessierter? Sie hat nicht gefragt, du hast einfach erzählt!“

„Quatsch. Genau genommen sind deine Reaktion und deine Unwilligkeit ihr gegenüber ein wenig offener zu sein, auch äusserst oberflächlich. Du willst sie überhaupt nicht anders sehen. Dabei glaube ich, würdest du ihr eine Chance geben, könnte sie dich überraschen. Und jetzt halt dich zurück, sonst bekommst du nichts von den Spaghetti.“

„Du weisst ganz genau, weshalb ich bei dieser Art Frau keine Lust habe, mich zu öffnen.“

„Sag das nicht so abschätzig.“ Angela schüttete den Inhalt des grossen Spaghettitopfes in das Sieb im Ausguss. In Sekundenschnelle beschlugen die Gläser ihrer schwarz umrandeten Brille. Sebastian konnte sich das Grinsen nicht verkneifen, als sie sich ihm wieder zuwandte. „Nur weil Julia dich sitzen liess, um dann doch in Saschas Laken zu landen, kannst du doch nicht von Anfang an alle Frauen verurteilen, die irgendwie mit Sascha zu tun haben!“

„Es waren nicht die Laken, sondern der Rücksitz meines Autos. Und sie hatte nicht irgendwie mit Sascha zu tun, sie arbeitete hinter der Bar. Ich wusste, dass ich mich auf diese Mädels nicht einlassen durfte und habe es in einem unaufmerksamen Moment trotzdem getan. Die Quittung kam prompt. Und das weisst du so gut wie ich, denn du hast mich anschliessend monatelang trösten müssen.“

„Ja, ja, schon gut. Ich halte dir in dieser Geschichte aber immer noch zugute, dass es deine Freundschaft mit Sascha nicht zerstört hat.“

„Hätte ich das zugelassen, hätte ich mir wohl ins eigene Fleisch geschnitten. Weisst du, wie schwer es ist, einen neuen verlässlichen Geschäftsführer zu finden?“

Angela lächelte Mitleidig. „Nein, weiss ich nicht, aber ich kann’s mir vorstellen. Im Übrigen, das habe ich ihr nicht erzählt.“

„Was?“

„Na, dass die Bar dir gehört. Wenn ich Sascha richtig verstanden habe, läuft auch bei ihr alles, wie du es gerne hättest. Sie hält dich für einen Arbeitskollegen und Sascha für den Chef.“

„Aber genauso ist es doch auch. Nur, dass eben ich die Rechnungen bezahlen muss und nicht Sascha.“

Inzwischen hatte Sebastian den Tisch gedeckt und Angela stellte den Topf auf den Untersetzer. „Leute, essen!“ Sebastians Ruf schallte durch das ganze Haus und es dauerte keine zehn Sekunden, bis aus dem oberen Stockwerk Geräusche dröhnten, die eher an eine durchgehende Rinderherde erinnerten, als an einen erwachsenen Mann und zwei Jungs.

Was die Freundschaft zu Sascha anbelangt, kennst du meinen Standpunkt. Sascha hätte es nicht so weit kommen lassen sollen, aber im Endeffekt war Julia offenbar nicht genug an mir interessiert, um die Sache zu unterbinden.“

Wie dem auch sei. Du bist ein unglaublicher Mann. Ich wünsche dir wirklich, dass dir eine Frau begegnet, die es verdient, den Weg durch diese dicke Selbstverteidigungsmauer zu finden.“ Zärtlich lächelte sie ihn an, als die Tür zum Esszimmer aufflog.

„Muss ich eifersüchtig werden?“ Timo, ein grosser Blondschopf, der gut in Form war, stürmte noch vor seinen Kindern herein, direkt an seiner Frau vorbei und auf seinen angestammten Platz. „Gewonnen!“

Dicht hinter ihm folgten zwei sich gegenseitig wegschupsende Jungs im Alter von drei und vier Jahren, beide mit hochroten Gesichtern, denn jeder wollte aus diesem Wettstreit wenigstens als zweiter hervorgehen. Um nicht umgeworfen oder rücksichtslos angerempelt zu werden, konnten Sebastian und Angela nur vor sich hin schmunzelnd still stehen bleiben, bis das Spektakel zu Ende war.

Als dann endlich alle Platz genommen hatten, die Stühle zurechtgerückt waren und nach einem knappen „Guten Appetit“ bereits die ersten beladenen Gabeln in den gierigen Mäulern verschwanden, gab Timo seiner Neugierde nach. „Worüber habt ihr eigentlich gesprochen?“

Sebastian hob abwehrend die freie Hand, aber er war nicht schnell genug. Angela kam ihm mit der Antwort zuvor. „Leonie.“

„Ah, ja, die Neue. Richtig?“ Er wartete die Bestätigung gar nicht erst ab. „Und? Fährt sie schon auf unseren Mister Unerreichbar ab?“ Timos graue Augen blitzten schelmisch auf, als sich sein Mund zu einem Lächeln verzog.

„Sie hält ihn für steif.“

„Ach was! Das ist aber neu!“

„Ja, ja, tut nur so, als wäre ich überhaupt nicht hier!“ Mürrisch schaufelte Sebastian weiter Spaghetti in seinen Mund, bevor er an Timo gewandt anfügte: „Deine Frau findet sie übrigens nett.“

„Nun, das ist allerdings weniger neu.“ Schulterzuckend erwiderte Timo den strafenden Blick von Angela. „Ist doch wahr! Du findest schnell mal jemanden nett. Da fällt mir ein, wie rot sind ihre Haare jetzt eigentlich? So wie die Spaghetti?“

„Himmel, nein! Sie sind kupfern.“

„Quatsch. Sie sind zu dunkel für Kupfer. Es ist Bronze.“

Angela tauschte einen erstaunten Blick mit ihrem Mann. „Soso, Bronze. Bronze ist aber eher ein Braunton.“

„Warte mal…“ Timo dachte nach. „Ich habe dich doch gestern gesehen! Auf dem Skilift! Und da sass eine Frau neben dir, sie hatte Haare, heller als Bronze, zu dunkel um Kupfer zu sein. War sie das etwa?“

Angela bekam grosse Augen und Sebastian ergab sich. „Ja, das war sie. Danke, Mann.“

„Ups…“ Timo zog den Kopf ein.

„Sebastian!“ Die beiden Jungs am Tisch verstanden zwar nicht, worum es ging, aber dem Tonfall nach zu urteilen, den ihre Mutter nun anschlug, hatte Sebastian etwas angestellt.

„Angela, bevor du eine Schimpftirade loslässt, lass mich erklären. Ja, ich war gestern mit ihr auf der Skipiste, aber dein Mann hat vergessen zu erwähnen, dass ich in Arbeitsklamotten dort oben war. Sie wurde mir als Skischülerin zugewiesen. Ich wusste nicht, dass meine neue Schülerin gleichzeitig meine neue Angestellte ist. Das war alles reiner Zufall. Sebastian schob den Stuhl zurück. So, jetzt muss ich auch schon wieder los, denn, Trommelwirbel, Pippi Langstrumpf erwartet mich.“

Sebastian gab Angela einen Kuss auf die Wange, zerzauste jedem der Jungs die Haare und verschwand. Angela traute sich erst zu sprechen, als sie die Tür ins Schloss fallen hörte. „Nein, also so rot wie diejenigen von Pippi Langstrumpf sind sie nun wirklich nicht.“

 

 

Wenn die Wahrheit nicht ruht
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