1986

 

Schlaftrunken reckte sich Heinz unter der Bettdecke, zog widerwillig eine Hand von der runden Hüfte seiner Frau und kratzte sich an der Nase. Langsam zu sich kommend begann er die steifen Gliedmassen zu strecken. Sofort lockerten sich die verkrampften Muskeln und die vernebelte Sicht klärte sich.

Vorsichtig vergewisserte er sich, dass er Helen mit seinen Bewegungen nicht aufgeweckt hatte. Schliesslich schlug er die dicke Daunendecke zurück und schlurfte träge ins Bad. Dort angekommen hob er die Nase in die Luft und schnüffelte. Irgendwas roch hier verbrannt. Irritiert sah er sich um, aber um ihn herum war nichts, das den seltsamen Geruch heraufbeschwören könnte.

Kopfschüttelnd drehte er das Wasser in dem kleinen Waschbecken auf, hielt einen Finger darunter und während er wartete, bis es warm wurde, hob er abwesend den Kopf. Da begegnete der Blick seinem Spiegelbild. Auf einmal war klar, woher der Geruch kam. Interessiert musterte er sein Gesicht. Er legte seine Hand an das Kinn und straffte die Haut um die Wange. Überall war er mit pechschwarzen Russflecken bedeckt. Erst jetzt fiel ihm auf, dass auch seine Finger noch schwarz waren. Um die Nagelhäute waren seine schwieligen Hände durch die tägliche Beanspruchung immer dunkler gewesen, aber jetzt hatte sich der Schmutz in jede Ritze seiner Haut verkrochen.

Ihm dämmerte, dass sein friedlicher Morgen ein jähes Ende finden würde, wenn Helen erst seine Seite des Bettes entdeckte. Ohne einen Blick riskieren zu müssen, wusste er, dass die blütenweissen Bettlaken kaum mehr blütenweiss waren. Da er aber durch die Betrachtung der geschwärzten Haut nicht sauberer wurde, drehte er den beinahe lächerlich dünnen Wasserstrahl wieder ab, schob den Duschvorhang beiseite und stellte sich unter die Brause, ohne den Temperaturanstieg abzuwarten.

Vertieft in die Betrachtung der in die Duschtasse tropfenden Schaumkrönchen, liess er noch einmal kurz den Vorabend Revue passieren. Wenn all die Gefallen, die er den drei Männern für die Verbesserung seiner Haushaltskasse tun musste, von derselben Art waren, wie der gestrige, konnte er damit leben. Was machte es schon, nachts etwas Holz zu verbrennen?

Da begann das Telefon zu klingeln. Abrupt aus seinen Gedanken gerissen, schnellte sein Kopf in die Höhe. Telefon? Um diese Zeit? Wer mochte das sein? Es war noch nicht einmal sechs Uhr! Eilig stürmte Heinz aus der Dusche. Abgesehen davon, dass er nicht wollte, dass Helen aufwachte, trieb ihn eine Ahnung dazu, den Hörer unbedingt selbst abheben zu wollen. Seine Sorge war im ersten Moment unbegründet, Helen schlief friedlich weiter. Aber sobald er die Muschel an sein Ohr hielt, kam die Sorge mit einem Mal zurück, nur in einer viel intensiveren Form. Stumm lauschte er der namenlosen Stimme am anderen Ende der Leitung.

 

Der gute Morgen war im Eimer. Mürrisch zog sich Heinz etwas über und stapfte nach Draussen. Es musste in der Nacht noch stark geschneit haben, denn die weisse Pracht ragte an manchen Stellen mannshoch in die Luft. Doch Gedanken an Lawinen zu verschwenden wäre zwecklos gewesen. Heute hatte er etwas anderes zu tun. Gerade eben war er doch noch so froh darüber gewesen, nur kleine Gefallen erledigen zu müssen, nun ärgerte er sich bereits zum ersten Mal über sich selbst und seine Naivität. Da es eine Weile dauern würde, bis er im Dorf ankam, versuchte er sich so zügig wie möglich einen Weg durch den Schnee zu bahnen.

Einen Vorteil hatte dieses garstige Wetter. Die Anstrengung raubte ihm bald schon jede Möglichkeit an etwas anderes als an das Vorankommen zu denken. Alles andere hätte zu viel wichtige Energie gekostet. Schliesslich kam er dann aber doch unbeschadet an dem angeordneten Treffpunkt an. Sein Körper war derart erhitzt, dass seine Haut dampfte, als er die Jacke öffnete und die schweren Ärmel ein Stück über den Unterarm nach hinten schob.

„Guten Morgen.“

Missmutig wie immer hob Jan den Kopf. Eine Antwort gab er keine. Mit einem resignierten Schulterzucken trat Heinz auf den Transporter zu, der bereits mit laufendem Motor und offenem Verdeck auf einem kaum sichtbaren Weg stand.

Genauso wortlos wie zuvor warf Jan Heinz eine Schaufel zu. Heinz hatte keine Mühe die Schaufel zu fangen und mit der Arbeit zu beginnen. Schliesslich wusste er, was zu tun war. Nur, wo sollte er anfangen?

Als hätte er die Frage laut gestellt, deutete Jan auf einen ungefähren Ort in der meterhohen Schneedecke. Gleich darauf begann Jan auf der gegenüberliegenden Seite zu graben. Heinz tat es ihm an der ihm zugewiesenen Stelle gleich. Schon bald stiess Heinz auf etwas Hartes. Zuerst glaubte er, auf Fels gestossen zu sein, da er eindeutig an einem Abhang buddelte. Doch bei genauerem Hinsehen musste er zugeben, dass das Material darunter etwas zu glatt war, um Fels zu sein. Neugierig klopfte er auf den harten Gegenstand. Bis plötzlich die Masse nachgab und sich ein Schneebrett mit unerwarteter Wucht löste. Erschrocken wich Heinz dem herabstürzenden Schnee aus, aber Jan hatte es zu spät bemerkt. Er wurde gewaltsam von den Füssen gerissen und prallte gegen den Transporter. Heinz beobachtete die Szene. Dann riskierte er einen vorsichtigen Blick den Berg hinauf. Aber das Brett war der einzige Bruch in der Schneedecke. Der Rest schien zu halten. Fluchend eilte er zu Jan. „Alles okay?“

„Nein, du Arschloch, du musstest ja unbedingt gegen die Mauer hämmern!“

Trotz der abweisenden Wut griff Heinz Jan unter die Arme und half ihm hoch. Dieser schüttelte ihn allerdings ab und zog sich an seiner Schaufel, die er keine Sekunde losgelassen hatte, in eine aufrechte Position.

„Das nächste Mal löse ich gleich eine Lawine aus, grummelte Heinz vor sich hin und drehte sich von Jan ab, um sich wieder an die Arbeit zu machen. Da fiel sein Blick auf das Loch, das der heruntergestürzte Schnee hinterlassen hatte. Ein leiser erstaunter Pfiff entglitt ihm. „Na, was sagst du jetzt? Da hab ich uns aber einiges an Arbeit erspart!“ Das kleine Intermezzo hatte einen ungefähr quadratischen, halb in den Fels eingelassenen Schober ans Tageslicht befördert. Die Wände waren aus massiven Holzlatten zusammengezimmert worden, die ihrer Färbung nach schon einige Jahre auf dem Buckel zu haben schienen. Im Kontrast zu der dunklen Farbe der Wände stand die helle Tür, deren Scharniere sich gegenüber dem Rest frisch glänzend abhoben.

Jan war nicht annähernd so begeistert wie Heinz. Noch verdrossener als zuvor stapfte er auf die Tür zu. Kurz kramte er in seiner Jacke, bis er einen funkelnden Schlüssel zum Vorschein brachte. Er steckte den Schlüssel in das Schloss, drehte ihn und klopfte gleichzeitig mit der freien Hand oben und mit dem Fuss unten gegen die Tür. Ein klackendes Geräusch ertönte und Jan konnte die ächzende Tür aufziehen. Neugierig lugte Heinz um das Türblatt herum, in der Hoffnung einen ersten Blick auf das zu erhaschen, was sich in dem Schober verbarg. Aber Jans Rücken versperrte ihm den Weg.

Woran sich jener in dem Moment zu schaffen machte, konnte Heinz nicht sehen, nur hören. Erst ertönte ein Kreischen, dann ein Scheppern. Anschliessend bedeutete Jan Heinz, ihm zu folgen. Wie geheissen, trat Heinz durch den Eingang. Zu seiner Linken erkannte er den Ursprung des Geräuschs. Vom Aussenlicht schwach beleuchtet, ragte eine zweite Tür aus massivem Stahl in den Raum hinein.

Noch bevor Heinz genauer darüber nachdenken konnte, wurde er von vollkommener Dunkelheit umfangen. Obwohl er wusste, dass es zwecklos war, sah er sich argwöhnisch um. Um etwas zu erkennen war es aber einfach zu finster. Was zum Teufel sollte das? Erneut vernahm er ein Knacken. Heinz zuckte unweigerlich zusammen. Die Tür war zu. Das wusste er mit Sicherheit. Aber wo war Jan? Drinnen oder draussen? Hatte er ihn eingeschlossen? War er überhaupt an ihm vorbeigegangen? Obwohl er sich selten aus der Fassung bringen liess, musste er jetzt feststellen, dass er schweissnasse Hände bekam. Ungeduldig wischte er sie an seiner Hose ab.

Heinz hatte das Gefühl, schon ewig in der Finsternis zu stehen, dabei waren erst ein paar Sekunden verstrichen. Auf einmal ertönte irgendwo hinter ihm ein leises Surren. Instinktiv drehte sich Heinz um und im selben Augenblick glomm ein Licht auf, das nach und nach heller wurde. Es war nur eine einzige Glühbirne, umgeben von dem schwarzen Lampenschirm einer einfachen Stehlampe.

Verblüfft schaute Heinz sich um. Der Raum war so klein, dass er nur die Hand hätte ausstrecken müssen und er hätte die hintere Wand, bestehend aus dem schroffen Fels, berühren können. Die holzige Aussenverkleidung der Seitenwände war innen einer stabilen, wetterfesten Verkleidung gewichen.

Grosse, bis auf den letzten Platz mit feuchtigkeitsresistenten Kisten gefüllte Regale säumten die Wände, und in der Mitte, direkt neben der Lampe, stand ein einfacher einzelner Holzstuhl. Trotz der Regale und der Kisten wirkte der Stuhl in den kleinen Raum ohne einen Tisch irgendwie fehl am Platz.

Aber Heinz machte noch eine andere eigenartige Entdeckung. Auf dem Boden unweit von dem Stuhl entfernt lagen einige zerdrückte Zigarettenstummel auf einer Länge von ungefähr einem Meter. Beinahe so, als wäre jemand unter einer gewissen Anspannung umhergetigert, soweit der Raum es zuliess.

Plötzlich stand ein Bild vor Heinz innerem Auge, wie jemand auf dem Stuhl sass, geblendet von der Lampe daneben und eingeschüchtert von der Person, die rauchend vor ihm auf und ab ging. Stumm folgte Jan Heinz Blick. Er wanderte ebenso von der Lampe zum Stuhl über die Zigaretten und dann zurück zu Heinz.

Die Luft in dem kleinen Raum schien sich zu verändern. Sie lud sich mit einer schier greifbaren Spannung, während sich die beiden Männer schweigend anstarrten. Es bedurfte auch keiner Worte. Heinz verstand auch so. Er konnte in Jans Augen deutlich die Widerspieglung der Szenerie erkennen, die ihm selbst durch den Kopf schwirrte. Nur war es bei Jan keine Vorstellung, es war eine Erinnerung. Heinz hatte genug gesehen. Ein nervöses Kribbeln breitete sich in seiner Magengegend aus und er wandte den Blick ab. So gleichgültig wie möglich, sah er sich weiter um.

„Und was jetzt?“ Es hätte locker klingen sollen, aber selbst in Heinz’ Ohren klang die Frage gekünstelt und falsch. Aber Jan spielte mit. Das erste Mal seit dem kleinen Zwischenfall beim Transporter begann er zu sprechen. „Die Kisten müssen zuerst zur Eingangstür, dann in den Transporter. Nachher kannst du verschwinden. Den Rest erledige ich.“

Heinz nickte nur und schnappte sich die erste Kiste. Doch er war unruhiger als er gedacht hatte. Beinahe wäre ihm die Kiste aus der Hand gerutscht. Nur mit etwas Glück konnte er sie mit einem Knie vor dem Sturz auf den Boden retten. Jans angestrengt beherrschten Blick ignorierte er. Nach und nach stapelten die Männer die Kisten hinter dem Eingang. Als alle dort waren, löschte Jan das Licht und tastete sich in der Finsternis zur Tür. Wieder ertönte das Knarren, bevor die Tür aufschwang und dem Tageslicht bis knapp über die Schwelle Einlass gewährte. Vorsichtig spähte Jan hinaus, bevor er sich eine der Kisten schnappte und zum Transporter trug. Heinz ging davon aus, Jans Beispiel folgen zu müssen. Also nahm auch er sich eine Kiste.

Eigentlich wollte Heinz auf keinen Fall mehr wissen, als nötig war. Jedem war klar, dass die drei federführenden Männer des Dorfes so Manches anstellten, das nicht mit rechten Dingen zuging. Aber alle sahen geflissentlich darüber hinweg. Einerseits, weil das Handeln der Männer genau genommen niemals lebensbedrohliche Ausmasse angenommen hatte und andererseits, weil niemand zu Rechenschaft gezogen werden konnte, der nichts wusste.

Dennoch drängte sich immer deutlicher die Frage auf, weshalb so ein Aufhebens um diese paar Kisten, deren Lagerung und nun deren Abtransport gemacht wurde.

Bemüht, die Frage durch Arbeit wieder in den Teil des Bewusstseins zurückzuschieben, aus dem sie kam, schnappte sich Heinz eine weitere Kiste. Doch er schien in seinem Tatendrang etwas zu überschwänglich zu sein. Er erwischte die Kiste nur am Deckel. Der untere Teil löste sich und gab die Sicht auf den Inhalt frei.

Leise fluchend wollte Heinz die Kiste sofort wieder schliessen. Da streiften seine Augen schon über das Papier und blieben an dem Aufdruck hängen. Ein seltsamer Ort, um Buchhaltungsunterlagen aufzubewahren. Da gab es doch weit Naheliegenderes. Zum Beispiel das Archiv der Treuhandgesellschaft.

Und da begriff er. Der gefürchtete Zeitpunkt war gekommen. Nun wusste er zuviel. In Windeseile setzte sein Gehirn die Puzzleteile zusammen. Wenn er hier war, um die mühsam unter Verschluss gehaltene, von Moritz erstellte Buchhaltung der Grächner Bergbahnen abzutransportieren, konnte das nur eines bedeuten. Auf keinen Fall mussten diese Dokumente nur an einen neuen Bestimmungsort gebracht werden. Nein, das waren Beweise, die weggeschafft werden mussten. Die Herren hatten sich an ein Vorhaben herangewagt, das zu gross für sie war. Sie verloren die Kontrolle. Und jemand Aussenstehendes hatte Wind davon bekommen. Jemand, der nicht darüber hinwegsah.

Noch bevor er ihn sah, spürte er ihn. Zurück vom Transporter stand Jan nun neben ihm. Das Bild, das sich Jan bot, sprach Bände. Heinz stand noch immer mit dem Deckel in der Hand über die Kiste gebeugt. Erst das Knattern des Funkgeräts riss die beiden aus ihrer Starre.

Jan wandte sich ab und zog es aus der Lasche an seinem Gürtel. Zwischen einigen Störgeräuschen konnte Heinz eine vertraute Stimme vernehmen. Jan hörte nur zu, dann bestätigte er und beendete den Funkspruch. Schliesslich trat er wieder auf Heinz zu. Inzwischen hatte jener die Kiste wieder verschlossen und so gelassen wie möglich in dem Transporter verstaut. Gespannt wartete er nun, was als nächstes kam.

Jans Miene blieb undurchschaubar. „Du wirst am Seetalhorn gebraucht. Es gibt ein paar Steine aus dem Weg zu räumen.

Lag da etwas Bedrohliches in Jans Stimme? Heinz beschlich ein ungutes Gefühl. „Steinschlag? Gab es Verletzte?“

Für den Bruchteil einer Sekunde bröckelte Jans Pokerface und wich einem Ausdruck von Fassungslosigkeit, dann spöttischer Herablassung. Ohne zu antworten wandte sich Jan kopfschüttelnd zu der Führerkabine des Transporters und stieg ein, während er leise vor sich hin murmelte. „Noch nicht, du naiver Anfänger, noch nicht.“

 

 

Wenn die Wahrheit nicht ruht
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