1986
„Wie geht es jetzt weiter?“ Helen hatte keine Kraft, verärgert zu sein. Abgesehen davon hätte Wut auch nichts verändert. Einlenken war alles, was sie noch tun konnten.
„Die Tiere wird er bei uns belassen. Aber sie gehören jetzt allesamt ihm. Wir kümmern uns um sie, als Gegenleistung verlangt er nichts mehr für die Stallungen und den Boden, auf denen sie stehen.“ Heinz legte eine Pause ein. Das erste Mal seit Beginn des Gesprächs, wagte er, seine Frau anzusehen. Ihr Blick führte ins Leere und ihr Nicken wirkte hölzern, wie das einer Marionette.
„Und weiter?“
„Für den Anfang werde ich den Sessellift am Seetalhorn bedienen, um das Haus halten zu können.“
„Warum ausgerechnet den Sessellift?“
„Das ist der einzige Ort, an dem er noch keinen Verbündeten abgestellt hat.“
Kurz dachte Helen nach. „Stimmt. Und sonst?“
Heinz zögerte. Er schien die Worte genau abzuwägen. „Manchmal muss ich noch einige Zusatzaufgaben erledigen.“
Die Augenlieder schlossen sich und Helen atmete konzentriert aus. „Zusatzaufgaben?“ Die Worte kamen gepresst zwischen ihren schmal gewordenen Lippen hervor.
Heinz schluckte. „Das werde ich erfahren, wenn es soweit ist.“
Anfangs war alles in Ordnung. Heinz musste sogar zugeben, dass ihm die Arbeit am Skilift Spass machte. Mit der Zeit begann er sich zu fragen, weshalb er nicht schon früher auf die Idee gekommen war, einen solchen Job anzunehmen. Die Antwort war schnell gefunden: Weil der Verdienst eindeutig zu gering war, um den Traum seiner Frau von einem eigenen Hof aufrecht zu erhalten. Und jetzt hatte er irgendwie doch beides, den Hof und den Job, der zuwenig einbrachte. Welche Ironie.
Mit der Sonne im Gesicht erhob sich Heinz, als er hörte, wie einige Skifahrer begleitet von lautem Gelächter und prahlerischen Sprüchen um die Ecke gerauscht kamen. Geduldig wartete Heinz, bis sich die Gäste paarweise eingefunden hatten. Mit geübtem Griff hielt er den Sessel zurück, so dass sich die Wintersportler setzen konnten. Kurz achtete er darauf, dass sie den Bügel schlossen, während er bereits den nächsten Skifahrern auf den Skilift half. Diese Tätigkeit hatte etwas äusserst Entspannendes. Wäre da nicht immer diese ekelhaft aufdringliche Ungewissheit. Jederzeit konnte ihm eine dieser mysteriösen Zusatzaufgaben gestellt werden. Immer, wenn er daran dachte, wurde ihm unwohl. Aber die Männer liessen auf sich warten. So lange, dass diese kleine Klausel in ihrer Abmachung drohte, in Vergessenheit zu geraten. Zumindest bei Heinz. Doch als er nach einem weiteren ereignislosen, angenehm sonnigen Arbeitstag auf seine Skier stand, die Skischuhe in die Bindung drückte, bis sie einrasteten und den Weg ins Tal antrat, wehte ihm eine seltsame Stimmung entgegen, beinahe so, als würde ein schweres Gewitter kurz bevorstehen. Instinktiv schaute Heinz in Richtung des Himmels. Kein Wölkchen war zu sehen. Ein wenig irritiert nahm Heinz den restlichen Weg bis nach Hause in Angriff. Dort angekommen trat er gerade durch die Haustür, als das Telefon klingelte. Heinz beobachtete, wie Helen mürrisch an den Apparat ging.
„Hallo?“
„Gib mir Heinz.“
Kommentarlos, mit vorwurfsvollem Blick, streckte Helen Heinz den Hörer entgegen. Heinz kannte diesen Gesichtsausdruck. Jemand, den Helen nicht mochte, war in der Leitung. Entsprechend fragte er gar nicht erst nach, sondern griff direkt nach dem Hörer.
„Ja?“
„Heinz? Du machst dich jetzt auf den Weg zur Bergji. Einige Bäume sind umgestürzt. Die müssen weggeräumt werden. Jan wird dir helfen.“
„Macht das nicht die Försterei?“ Eine Antwort erhielt er keine mehr. Die Leitung war tot. Hier war sie nun also. Diese vermaledeite Zusatzaufgabe. Eigentlich wollte Heinz nicht darüber nachdenken, weshalb er, zusammen mit Jan, ausgerechnet heute noch diese Bäume wegräumen musste.
Bei Helen konnte er heute nichts mehr gut machen. Ohne eine Erklärung ging er zu ihr, hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn und verliess das Haus wieder.
Die Dunkelheit der Nacht brach über das Tal herein, kurz nachdem Heinz sein wohlig warmes Zuhause gegen die erbarmungslos eisige Bise eingetauscht hatte. Mit eingezogenem Kopf klappte er den Kragen seiner Jacke hoch.
Seine Augen gewöhnten sich nach und nach an das Zwielicht, dennoch tastete er sich fast blind den unbeleuchteten Weg entlang. Irgendwo im Wald neben ihm knackte etwas und er zuckte leicht zusammen. Ihm war ganz und gar nicht wohl in seiner Haut.
Plötzlich tauchte vor ihm ein grosser Gegenstand auf, der sich schwarz von dem nachtblauen Himmel abhob. Unsicher blieb Heinz stehen. Etwas lag auf dem Weg, nur was? Argwöhnisch spähte er in die Dunkelheit. Die Umrisse konnte er ausmachen, aber er konnte sie nicht zuordnen. Vorsichtig trat er etwas näher. Da hörte er, wie ein anfangs leises Rascheln aus der Richtung dieses Etwas immer lauter wurde.
Erst versuchte Heinz das Geräusch zuzuordnen, bis er begriff. Es wurde lauter, weil es sich bewegte. Und zwar direkt auf ihn zu. Jede Faser von Heinz’ Körper riet ihm zur Flucht.
Da löste sich eine Gestalt aus dem Schatten der Umgebung. Sie schien die Arme zu heben, aber ein Arm war unnatürlich lang. Gerade rechtzeitig entschied sich Heinz, dem Drängen seines Körpers nachzugeben, denn die Gestalt kam weiter auf ihn zu. Inzwischen war sie bedrohlich nahe. Sie führte den viel zu langen Arm zu dem kürzeren. Dann klickte etwas. Heinz schluckte schwer, bevor, keinen halben Meter von ihm entfernt, eine Fackel aufflackerte.
„Wird auch langsam Zeit, dass du kommst. Es ist scheisskalt hier.“
Heinz’ Knie wurden weich und die Beine drohten nachzugeben, als der Adrenalinspiegel in sich zusammensackte. Jetzt erkannte er auch, was mit Bäume wegräumen gemeint war. Im Schein der Fackel konnte Heinz erkennen, dass der seltsame Schatten zu einem jungen, umgestürzten Bäumchen gehörte. Es hatte sich denkbar schlecht positioniert, denn es lag direkt über dem Weg in Richtung Bergji. „Jan! Du hättest dich wohl etwas früher ankündigen können!“
Jans typischer Leck-mich-am-Arsch-Gesichtsausdruck zeigte keine Anzeichen von Reue. „Hier.“ Jan drückte Heinz die Fackel in die Hand. Er selbst startete eine Motorsäge. Dann begann er das Bäumchen zu zerkleinern. Die Stücke trug er anschliessend mit Heinz‘ Hilfe zu einem bereits beachtlichen Haufen Holz.
Nachdem die Einzelteile deponiert waren, griff Jan nach einem Kanister Benzin und schüttete den gesamten Inhalt über die Holzscheite. Heinz beobachtete das Treiben, stellte aber keine Fragen. Jan war schon immer etwas seltsam gewesen.
Als Jan fertig war, deutete er Heinz mit einem Kopfnicken an, die Fackel auf den Haufen zu werfen. In Windeseile fing das Holz Feuer. Alles brannte innert Sekundenschnelle lichterloh. Fasziniert beobachtete Heinz das Spiel des Feuers. Unerbittlich leckten die Flammen an dem wehrlosen Holz. Er sah zu, wie sich die Stücke in der gierigen Hitze veränderten, bevor sie sich vollends ergaben. Ein Stück wirkte wie eine menschliche Hand, die ihre knorrigen Finger in der Hoffnung auf Rettung in die Richtung der kühlen Luft austreckte. Von einem anderen schien sich die Rinde zu lösen, bevor sie Opfer der Zerstörungswut wurde. Wahrscheinlich war das Holz darunter zu nass, um richtig zu verbrennen.
Ein Schlag auf die Schulter holte Heinz aus seinen Betrachtungen. Offenbar war der Auftrag ausgeführt, denn Jan ging zu seinem alten Motorrad und brachte es mit einem Kick zum Laufen. Er wies Heinz an, hinter ihm Platz zu nehmen. Einigermassen erstaunt über diese ungewöhnlich freundliche Geste tat jener wie geheissen.
Der Hof lag bereits im Dunkeln, als Heinz von dem ratternden Motorrad stieg. Er wollte sich bei Jan bedanken, doch dieser wartete kaum ab, bis Heinz beide Füsse am Boden hatte, da legte er auch schon den Gang ein und brauste wortlos davon. So leise wie irgend möglich ging Heinz ins Haus und auf direktem Weg ins Schlafzimmer. Er zündete kein Licht an, um niemanden zu stören. Nachdem er sich ausgezogen hatte, kroch er unter die Decke und kuschelte sich an den warmen weichen Körper von Helen.
„Du riechst nach Rauch. Was hast du gemacht?“ Verschlafen rückte Helen noch etwas weiter an Heinz heran. Der Groll schien vergessen. Froh darüber gab Heinz seiner Frau einen Kuss auf die Wange, bevor er, ohne sie loszulassen, den Kopf auf das dicke Daunenkissen bettete. „Ach, nur einen Holzhaufen angezündet“, murmelte er. Dann war er auch schon eingeschlafen.
Am nächsten Morgen wurde bekannt, dass Josef Gasser spurlos verschwunden war. Die Suchaktion dauerte über eine Woche, aber Josef sollte unauffindbar bleiben.