1986

 

Der Lichtkegel der Taschenlampe erklomm in regelmässigem Rhythmus die Steigung, immer den unberührten Schnee vor sich beleuchtend und das durch die Schneeschuhe zerstörte Weiss hinter sich im Dunkeln lassend. Weisse Dampfwölkchen tanzten durch die eisig kalte Luft, in steter Regelmässigkeit mit den Atemzügen des Wanderers. Neben ihm ragten unbeugsam die Tannen in den Nachthimmel, während über ihm die Gondelkabinen in der rauen Bise schaukelten. Neben einem der Masten beendete der Wanderer seinen Aufstieg. Er entledigte sich der Schneeschuhe und machte sich daran, die Leiter vor ihm zu erklimmen, bis er in schwindelerregender Höhe die kleine Plattform erreicht hatte. Geschmeidig wie eine Katze streifte er mit sicheren Bewegungen den Rucksack ab, öffnete den Reissverschluss und förderte sein Werkzeug zutage. Dann machte er sich daran, das massive Stahlseil zu bearbeiten.

 

Hans redete weiter auf ihn ein, nur hatte er diesmal zur Verdeutlichung seiner Worte ein Tablett zu Hilfe genommen, mit dem er auf Ambros’ Kopf eindrosch. In den Kopf einhämmern wollte Hans es, damit Ambros es ja niemals wieder vergass. So hatte er zumindest gesagt. Schlimm war nur, Ambros konnte die Schläge nicht spüren, nur das dumpfe Hämmern des zunehmenden Kopfschmerzes.

Als sich dann auch noch Rufe unter die Schläge mischten, laute, helle Töne - eine Frau vielleicht? - meinte Ambros, der Schädel würde ihm explodieren. Natürlich trugen da auch das Scheppern und das anschliessende Klirren nicht zur Besserung bei. Aber immerhin veränderte sich nun die Umgebung. Im ersten Moment schien das Licht viel zu grell, mit mehrmaligem festem Blinzeln liess sich das aber beheben. Nach und nach nahmen dann auch die verschwommenen Umrisse Gestalt an und offenbarten einen sonnendurchfluteten Raum.

Hans, der eben noch auf ihn eingedroschen hatte, war verschwunden und auch die anderen Menschen waren nicht mehr da. Deren Platz hatten ein Tisch, ein Stuhl und eine umgekippte Stehlampe eingenommen, die, wie auch immer, auf Ambros’ Kopf gelandet war. Er selbst lag auf einer Couch, die vor einem vermutlich wesentlich gemütlicheren Bett stand.

Vor Unbehagen stöhnend erhob sich Ambros, die Hand am Kopf, die Augen nur halb geöffnet. Das einzige, das sich nicht verändert hatte, war das Klopfen, nur pochte es nun nicht mehr nur in seinem Schädel. Irgendwie fand die Information, woher das zweite Klopfen kam, einen arbeitenden Teil in Ambros’ Gehirn, was dazu führte, dass er träge die Beine über die Kante des Sofas schob und die Füsse auf den Boden setzte. Dann liess er den Blick, so gut es durch die zu schmalen Schlitzen verengten Augen ging, durch den Raum schweifen und entdeckte den wahren Grund für das vorangegangene Scheppern und Klirren. Vier leere Weissweinflaschen lagen auf dem Boden, daneben ein zerbrochenes Glas. Er nahm die Unordnung zur Kenntnis, versuchte sich gar nicht erst zu erinnern und schlurfte schliesslich zur Tür, die er vorsichtig einen Spaltbreit öffnete. Beim Anblick des Menschen, der davor stand und sich die Fäuste wund schlug, blieb ihm fast das Herz stehen.

„Lässt du mich rein?“

Immer noch dieselbe süsse Stimme. Es brach ihm das Herz, aber er öffnete. „Was willst du hier?“

„Ich habe gehört, dass du wieder hier bist.“

„Wie hast du mich gefunden?“

„Das war nicht weiter schwer. Du bist in aller Munde, nach deinem kleinen Disput mit Hans.“

Stimmt, es hatte tatsächlich einen Streit gegeben. Die Erinnerung war zwar nur verschwommen, reichte aber aus, um die Geschichte mit dem Tablett als einfachen Traum zu entlarven. „Und was sagt dein lieber Herr Papa dazu, dass du hier bist?“

„Nichts. Er weiss es nicht.“

Alina, ich…“ Unbeholfen fuhr sich Ambros durch das struppige Haar.

„Ambros, bitte...“ Die unschuldigen grauen Augen blickten traurig, während die zierlichen Hände sich ineinander knoteten, weil die zerbrechlich wirkende Frau nicht wusste, wohin damit. Betretenes Schweigen erfüllte den Raum. „Es tut mir alles so leid.“

Erst jetzt entdeckte Ambros den filigranen Goldring an der Hand seines Gegenübers. Ergriffen von einer Mischung aus Verbitterung, Trauer und Wut, richtete er sich zu seiner vollen Grösse auf. Jeder Schatten der letzten Nacht wich aus seinen Augen. Sein Blick war nun klar, nüchtern und vor allem kalt, genauso kalt, wie seine Stimme klang. „Warum bist du hier?“

Eingeschüchtert von dieser Veränderung schreckte Alina zurück. Aber nur kurz. „Ich möchte dich bitten zu gehen.“

Das brachte Ambros wiederum aus der Fassung. „Du willst was?“

„Ich will, dass du gehst. Du hättest überhaupt nicht mehr zurückkehren sollen. Mein Vater hatte Recht, solange du weg warst, geschah nichts Aussergewöhnliches. Doch kurz nachdem du aus dem Gefängnis entlassen wurdest, kam wieder jemand ums Leben. Es liegt doch auf der Hand, dass die Leute diese Geschehnisse dann offen oder auch insgeheim dir in die Schuhe schieben. Alina war nicht in der Lage zu verbergen, wie sehr ihr ihre nächsten Worte zusetzten. „Ambros, du wirst hier nicht den gewünschten Frieden finden und das Dorf kann es auch nicht, solange du hier bist.“

„Was ist mit dir?“

Nicht sicher, worauf er mit dieser Frage hinauswollte, hakte Alina noch einmal nach, in der Hoffnung, ihr Herz würde die Zerreissprobe überstehen. „Was meinst du?“

„Glaubst du auch, dass ich etwas damit zu tun habe?“

Um ihre Enttäuschung darüber zu verbergen, dass er nicht nach ihren wahren Gefühlen, sondern nach ihrer Ansicht fragte, senkte sie den Blick. „Ja. Ja, ich glaube, dass du etwas damit zu tun hast, wenn es dir so leichter fällt, diesem Ort für immer den Rücken zu kehren.“ Sie wusste, dass ihre Gefühle und diese Äusserung weder Ambros gegenüber, noch ihrem Ehemann gegenüber fair waren, aber sie musste es einfach wissen. Sie musste wissen, ob ein Rest der verbotenen Gefühle von damals in ihm übrig geblieben war. Sie brauchte das, um weitermachen zu können.

Mit seiner Reaktion übertraf er ihre Vorstellungen dann aber bei weitem. Wie ein Tier in die Enge getrieben, kochte die Wut in ihm hoch. Bevor sein Verstand begriff, hatte er bereits gehandelt. Er gab seinem drängenden Bedürfnis nach, überwand die letzte Distanz und packte Alina an den Schultern. Doch anstatt sie zu küssen, wie er es so gerne getan hätte, schüttelte er sie heftig. Alina, warum tust du das?“

Entsetzt riss sie die Augen auf. „Hör auf! Du tust mir weh!“

„Ich tu dir weh? Und was ist mit mir? Nur drei Monate lang sitze ich im Gefängnis und versuche in dieser Zeit einen Weg zu finden, deinen Vater zu umgehen, um mit dir zusammen sein zu können. Doch dann muss ich feststellen, dass du dich anstatt zu kämpfen, einfach einem anderen hingegeben hast, mich wegschickst, aber trotzdem herausfinden willst, ob mir noch etwas an dir liegt. Und dann wagst du zu behaupten, ich würde dir weh tun? Wahrscheinlich ist es Hans, der mir in seinem Wahn, mich von dir fernzuhalten, all das anhängen will!

„Hör auf! Bitte, hör auf!“ Ihre Stimme klang schrill, beinahe panisch. Und als hätte dieser Umstand einen Schalter umgelegt, liess er derart unvermittelt von ihr ab, dass sie taumelte und fast stürzte. Genauso entsetzt wie sie ihn anstarrte, schaute er auf seine Hände. Eine tiefe Abscheu über sich selbst kroch wie Ungeziefer in ihm hoch und krallte sich kalt und eklig an seiner Seele fest. „Alina, ich… bitte, es tut mir leid, ich weiss nicht was über mich gekommen ist.“

Er stolperte auf Alina zu, wollte sie halten, sich entschuldigen, doch sie wich vor ihm zurück. In ihren Augen standen weder Angst noch Schrecken, sondern reines Mitleid und Bedauern. Und dann begriff er. Sie wäre mit ihm gegangen. Sie war hier um ihn zum Gehen zu bewegen und um herauszufinden, ob er sie mitnehmen würde. Das einzige, was ihn wirklich zurückgebracht hatte und ihn hier hielt, hatte er nun selbst zerstört.

Auf einmal fühlte er sich einfach nur noch hohl und leer. Alina stand bereits in der offenen Tür und wagte noch einmal einen betrübten Blick zu Ambros.

In einer Stunde bin ich weg.“

„Wie hat es nur soweit kommen können?“

So gern er es ihr auch erklärt hätte, er wusste es selbst nicht, also schüttelte er nur den Kopf. Als sich die Tür hinter ihr schloss, liess sich Ambros schwer auf das Bett sinken, bevor er sich daran machte, sein Versprechen einzulösen und dem Dorf für immer den Rücken zu kehren.

 

 

Wenn die Wahrheit nicht ruht
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