1986
Nur noch einen kurzen Blick in die Küche. Wenn sie dort nicht war, würde sie wohl bereits oben auf ihn warten. Der Gedanke gefiel ihm. Er war zwar müde, aber seine Helen würde die Lebensgeister in ihm wieder erwecken. Seine Mundwinkel zuckten voller Vorfreude, doch das Lächeln erstarb, als er sah, wie Licht aus der Küche drang und einen goldenen Streifen auf dem Dielenboden hinterliess.
„Es ist hoffnungslos.“ Helen liess das Papier in ihren Händen sinken, schob sich die Lesebrille auf den Kopf und rieb sich die müden Augen. Sie zuckte erschrocken zusammen, als sie auf einmal zwei kräftige Hände auf ihren Schultern spürte, die mit leichtem Druck die Last wegzuwischen suchten. Sie hatte ihn nicht kommen gehört.
„Komm ins Bett, Liebes. Sonst schläfst du mir noch am Tisch ein.“
Langsam hob Helen ihre Hand und legte sie schweigend auf diejenige auf ihrer Schulter. Sie verharrte einen Moment in dieser Stellung, dann wandte sie sich halb um und sah zu ihm auf. „Was sollen wir bloss tun?“
Heinz sah die Sorge in den Augen seiner Frau. Sie sah so müde und erschöpft aus. Schlaf brachte schon lange nichts mehr. Es war die Situation die ihr aufs Gemüt schlug. Er musste etwas unternehmen, aber er hatte keine Ahnung, was. „Liebling, ich werde eine Lösung finden. Versprochen. Aber bitte, lass die Rechnungen jetzt sein und komm ins Bett.“
Helen sah ein, dass sich nichts änderte, wenn sie die unzähligen unbezahlten Rechnungen weiter anstarrte. Also liess sie sich bereitwillig wegführen. Während sie gemeinsam den Gang entlang gingen, flüsterte Helen: „Du weisst, dass wir den Hof verlieren, nicht wahr? Er wirft einfach zu wenig ab!“
Beruhigend tätschelte Heinz ihre Hand. „Noch haben wir ihn nicht verloren.“
Helen wusste nicht, woher Heinz seine Selbstsicherheit nahm. War er einfach so blind? Wollte er die Wahrheit nicht sehen? Oder wusste er etwas, von dem sie keine Ahnung hatte? Was es auch sein mochte, heute wollte sie darüber nicht mehr nachdenken. Im Obergeschoss blieben die beiden vor einer hübschen mit Schnitzereien verzierten Tür stehe und drückten sachte die Türfalle hinunter. Der Mond leuchtete durch das kleine Fenster an der gegenüberliegenden Wand und legte sich in sanftem Schimmer auf das Gesicht eines friedlich schlafenden Jungen. Bei diesem Anblick waren alle Sorgen vergessen. Egal, was noch kommen mochte, solange es nur dem Jungen gut ging. Behutsam schlossen sie die Tür wieder und legten sich selbst schlafen.
Der neue Tag begann früh. Die Kühe wollten gemolken sein, die Hühner hatten ihre Eier schon lange gelegt und die Ziegen brauchten frisches Stroh. Viel Aufwand war diese Arbeit mit den wenigen Tieren, die noch geblieben waren, nicht mehr. Früher war das mal anders gewesen. Im Stall hatten zehn gesunde Kühe gestanden, ganz zu schweigen von den Hühnern und die Ziegen erst! Selbst Schweine hatte er gehabt. Dieser Stall diente inzwischen aber nur noch als Rumpelkammer. Aber was nutzte es, den alten Zeiten nachzutrauern?
Heinz wischte sich die Hände ab und trat aus dem Stall. Er marschierte direkt auf den Brunnen hinter dem Haupthaus zu, wo er sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzte. Während er sich mit dem erfrischenden Nass durch das braune, dichte Haar fuhr, fiel sein Blick auf seinen Jungen. Er sass auf einem Teil eines Baumstammes und ahmte die Geräusche eines Traktors nach.
Erst musste Heinz noch schmunzeln ob der Kreativität seines Sohnes, doch dann wurde ihm das Herz schwer. So gerne hätte er ihm einen richtigen Spielzeugtraktor geschenkt. Zwar hatte Heinz ihm einen aus Holz geschnitzt und auch Räder daran montiert. Aber er wusste, dass sein Sohn ein Gekaufter unheimlich freuen würde. Einfach, weil es mal etwas Gekauftes war. Und dann fasste Heinz einen Entschluss. „Helen?“ Seine Frau kam gerade aus dem Hühnerstall. „Ja?“
„Ich gehe ins Dorf. Ich habe noch etwas zu erledigen. Bin bald wieder zurück.“ Damit zog er los. Seiner verdutzten Ehefrau hauchte er einen Kuss auf die Wange und seinem Sohn wuschelte er beim Vorbeigehen durch den dunkelblonden Haarschopf.
„Hans? Hast du kurz Zeit? Ich brauche deine Hilfe.“ Heinz stiess die Tür des Wirtshauses auf, sah sich um und als er fand, was er suchte, legte er ohne Umschweife los. Hans sass wie immer am Stammtisch. Nur, wer bei ihm sass, passte Heinz nicht. Denn die beiden trugen die Schuld an seiner Misere. Dennoch nickte er ihnen anstandshalber zur Begrüssung zu. „Josef. So früh schon hier? Zählst du mein Geld?“
„Nein, mein Guter, mein Geld. Da wir schon dabei sind, du bist im Verzug. Oder bist du hier, um mir die Miete zu geben?“
„Du weisst, dass ich das nicht kann. Und du, grins’ nicht so hämisch.“ Heinz zeigte auf Moritz. „Dank deinen kleinen Tricks kam es überhaupt so weit, dass er die Pacht derart erhöhen konnte.“
„Mein lieber Heinz, meine Tricks, wie du sie zu nennen pflegst, sind alle ganz legal.“ Ein selbstzufriedenes Grinsen breitete sich auf Moritz‘ Gesicht aus.
„Eines Tages wird dich der Teufel holen, so, wie du mit den Menschen hier umgehst. Aber es wird euch freuen zu hören, dass ihr gewonnen habt. Alle drei.“ Heinz‘ Blick wanderte zu Hans. „Ihr wolltet uns von euch abhängig machen, indem ihr uns das Geld aus der Tasche zieht und das habt ihr geschafft. Eure kleine Marionettenarmee hat ein neues Mitglied. Ich brauche Geld. Der Hof gehört euch sowieso schon fast, der wirft also nichts mehr ab. Also, was muss ich tun?“
Nachdenklich musterte Hans sein Gegenüber. Dann sah er seinen Tischpartnern in die Augen, einem nach dem anderen. Heinz verstand nicht, was zwischen den Männern vor sich ging, sie schienen sich wortlos zu verständigen. Dann wandte Hans sich wieder dem Bittsteller zu. „Also gut. Ich hätte da tatsächlich eine kleine Aufgabe für dich.“