2010

 

Mit einem leichten Kribbeln der Aufregung im Magen stiess Leonie die Tür zu der Bar auf. „Hallo?“ Keine Antwort. „Ist hier jemand?“ Noch immer keine Antwort. Etwas zögerlich wagte sie sich einige Schritte in den dunklen Korridor, während sie sich überlegte, ob sie nicht besser zuerst hinter dem Haus nach der passenden Ansprechperson suchen sollte. Schliesslich war es Nachmittag und im Normalfall waren die Barbetreiber zu dieser Tageszeit hinter dem Haus und trafen die nötigen Vorbereitungen für den Abend.

Dennoch drang sie weiter in das Gebäudeinnere vor, bis sie zu ihrer Linken sowie zu ihrer Rechten je eine grosse Tür entdeckte. Die Rechte stand einen Spaltbreit offen, weshalb sie sich für diese entschied. Vorsichtig schob sie die Tür weiter auf und trat in einen grossen, ansprechend dekorierten und eingerichteten Raum, dessen Blickfang eine lange Theke bildete. Die Annahme drängte sich auf, dass es sich hierbei um ihren zukünftigen Arbeitsplatz handelte. Neugierig schlüpfte sie hinter den Tresen und musste bald feststellen, dass es weit Schlimmeres gab. Die Bar war gut ausgerüstet, mit Getränken wie auch mit Geräten. Die Zapfhähne schienen neueren Datums und gepflegt, die Kühlschränke waren sauber und hervorragend positioniert. Überhaupt war für den Angestellten alles gut sichtbar und bestens griffbereit aufgestellt, jedoch für den Gast raffiniert verborgen. „Könnte mir gefallen.“ Gedankenverloren über das Barblatt streichend, merkte Leonie nicht, wie sich die Tür erneut öffnete.

Mit zwei Harrassen in den Armen manövrierte sich Sascha rückwärts in den Raum. Den Kopf gesenkt holte er Schwung, um die schweren Kisten auf die Theke zu stellen. Doch als er den Kopf hob, zuckte er derart zusammen, dass ihm die Kisten, gefüllt mit ungeöffneten Cola-Flaschen, aus der Hand rutschten und krachend zum Teil auf dem Boden, zum Teil auf seinem Fuss landeten. Laut aufschreiend machte Sascha gleichermassen seinem Schmerz wie auch seinem Schrecken Luft. „Was zum…“

Leonie sprang quiekend zurück, stiess dabei mit dem Ellbogen gegen eine Wodkaflasche und musste prompt zusehen, wie sie am Boden zerschellte. Entsetzt starrte sie auf die Scherben. Dann hob sie langsam ihren Kopf. „Es tut mir leid, Sie haben mich völlig überrascht! Ich… Es tut mir leid.“

Sie waren überrascht? Irgendwie sind Sie bis hierhin gekommen, also mussten Sie doch damit rechnen, jemanden anzutreffen!“

„Ein guter Einwand.“ Leonie hatte sich wieder einigermassen gefangen, weshalb sie nun über die Scherben stieg und um die Bar herum zu Sascha trat. „Lassen Sie mal sehen.“ Sie drückte ihn kurzerhand auf den nächstbesten Barhocker und kniete sich nieder. Sascha glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als diese fremde Frau ihm flink den Sneaker öffnete, die Socke auszog und den darunterliegenden Fuss in Augenschein nahm. „Scheint nichts gebrochen. Höchstens geprellt. Aber einige blaue Flecken wird’s auf jeden Fall geben.“

„Sagen Sie, sind Sie Krankenschwester?“

„Nein, die neue Bardame.“

Das wurde ja immer besser. „Aha. Leonie, nehme ich an?“

„Ganz recht.“

„Möchtest du mir nur den Fuss schütteln oder ginge auch die Hand?“

Verdutzt sah Leonie zu Sascha hoch. „Ehm, nein, die Hand ist auch okay.“ Da er, nachdem er ihre eigentliche Funktion vernommen hatte, die Anrede von Sie auf Du änderte, zog Leonie ihre eigenen Schlüsse. Leicht errötend stand sie auf und streckte ihm ihre Hand entgegen. „Hallo. Ich bin Leonie. Die Neue. Ich soll mich heute bei einem Sascha melden. Könnte es sein, dass du das bist?“

„Wir fangen noch einmal an, nachdem du bereits die halbe Bar auseinandergenommen, mich verletzt und anschliessend meinen nackten Fuss begutachtet hast?“ Forschend betrachtete Sascha Leonies Gesicht. Erst jetzt bemerkte er ihre smaragdgrünen Augen. Wieder eine von denen. Sebastian wird’s freuen, dachte er bei sich, liess sich aber nichts anmerken.

„Man zieht in den Bergen mitten im Winter auch keine Sneakers an, sondern festes Schuhwerk.“ Eine bessere Verteidigung fiel Leonie nicht ein, und die Retourkutsche kam prompt.

Sascha liess seinen Blick an Leonie hinuntergleiten und betrachtete die in elegante wildlederne Winterstiefel eingepackten Füsse. „Und so was gilt als festes Schuhwerk, ja?“ Er wartete die Antwort gar nicht erst ab. „Komm, ich zeig dir alles. Normalerweise schicke ich die Frischlinge nicht direkt in einen Samstagabend, aber heute fehlt mir Angela, also musst du ran.“ Während er sprach, schlüpfte er in seinen Schuh und stand auf. Dass er beim Auftreten die Zähne fest zusammenbeissen musste um nicht laut aufzuschreien, wollte er natürlich um jeden Preis vor der hübschen Neuen verheimlichen.

 

 

Wenn die Wahrheit nicht ruht
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