1986
Sich immer wieder umsehend, um sich zu versichern, dass ihm niemand folgte, humpelte Ambros in der Dunkelheit den Hügel hinauf, das kleine Licht hinter den Bäumen immer im Auge behaltend. Der Atem ging stossweise, Schweisstropfen zeichneten sich auf seiner Stirn ab und suchten sich ihren Weg über das Gesicht. Der Kopf hämmerte immerzu im Rhythmus seines Herzschlages, die Beine waren schwer und die Arme taub. Dennoch, aufgeben kam nicht in Frage. Sein Spiegelbild im Schaufenster der Bäckerei liess ihn spontan an den Glöckner von Notre Dame denken. Er schauderte, redete sich aber immer wieder selbst gut zu, bis er sein Ziel schliesslich erreicht hatte.
Heftig polterte er gegen die dunkle Holztür des anmutigen alten Chalets, solange, bis sich die Tür schliesslich öffnete.
„Sag mal, spinnst du? Du weckst das ganze Dorf!“ Wütend funkelten zwei verschlafene Augen durch den Türspalt.
„Wir haben Probleme! Lass mich rein!“
„Was ist denn hier los?“ Eine beinahe schmerzhaft hohe Frauenstimme liess sich aus dem Hintergrund vernehmen. Gleich darauf wurde die Tür ganz geöffnet und gab den Blick auf eine Dame mit Lockenwicklern und einem langen rosaroten Bademantel, verziert mit gelben Blumen, frei. „Herrgott! Ambros! Was ist denn mit dir passiert?“ Die Frau stürzte zur Tür und holte den verletzten Mann ohne Umschweife herein. Wohl wissend, dass er nichts dagegen tun konnte, trat Josef zur Seite und sah zu, wie seine eigenwillige Frau dem Verletzten Einlass gewährte. Vor seinem inneren Auge sah er nicht seine Holztür, die mit einem Klacken ins Schloss fiel, sondern eine massive Stahltür, die durch einen Polizisten klirrend verriegelt wurde.
Josef ging nicht direkt in die Küche. Um sich seiner wild gewordenen Gedanken wieder habhaft zu werden, schlurfte er über den grünen Teppich in das warme Wohnzimmer. Dort schnappte er sich den Rotwein, den er vor dem zu Bett gehen nachlässig auf dem Tischchen stehen gelassen hatte, liess sich in den grossen braunen Sessel neben dem Kachelofen fallen, griff am Glas vorbei, setzte direkt die Flasche an und leerte sie in einem Zug. Dann blieb er noch einige Minuten einfach sitzen. Er liess den Blick durch den Raum schweifen, sah sich jedes Bild an der getäferten Wand an, prägte sich die Details eines jeden Möbelstückes genau ein, bevor er sich schwerfällig erhob und in die Küche begab. Seiner Meinung nach hatte er seiner Frau genügend Zeit eingeräumt, den ungebetenen Gast zu verarzten.
„Genug jetzt. Lass uns allein.“
„Aber…“
„Raus.“ Die Entschlossenheit in Josefs Stimme bewegte Marlene, ihre Widerworte hinunterzuschlucken und sich aus dem Staub zu machen. Nicht aber, ohne ihren Mann durch ihre Körperhaltung spüren zu lassen, wie wütend sie war.
Josef verharrte noch kurz in Schweigen, bis er Geräusche aus dem oberen Stockwerk vernahm. Dann wandte er sich seinem Besucher zu. „Was denkst du dir dabei, hier einfach mitten in der Nacht aufzutauchen? Was glaubst du, wird Marlene für Fragen stellen? Sie wird im Dorf erzählen, dass du hier aufgetaucht bist und ausgesehen hast, als hätte dich ein Bus gestreift!“
In sich zusammengesunken sass Ambros da. Anstatt es auf sein geschwollenes Auge zu drücken, drehte er das Tuch mit dem Eis abwesend in seinen Händen herum. „Ich weiss nicht. Nachdem ich da wieder draussen war, war mein erster Gedanke, schnellst möglich zu dir zu kommen.“
„Wo draussen?“
„Keine Ahnung! Die Lampe hat mich so geblendet! Und das Nächste, das ich weiss, ist, dass ich in der Gondelstation wieder zu mir kam.“
„Eine Lampe hat dich geblendet? Könnten das Autoscheinwerfer gewesen sein? Hast du dich wieder einmal in Richtung Besinnungslosigkeit gesoffen und bist vor ein Auto gelatscht?“
„Nein. Keine Scheinwerfer, kein Schluck Alkohol. Ich war nicht draussen. Ich glaube, es war ein Keller oder etwas Ähnliches. Zwei Menschen waren da. Einer hat mich immer geschlagen und einer hat Fragen gestellt.“
„Wie bitte? Du hast doch zuviel gesoffen! Jetzt gib mir die Einnahmen und verschwinde wieder!“ Aber Josef befürchtete bereits, dass es nicht so einfach sein würde. Denn Ambros roch nach vielem, aber nicht nach Alkohol.
„Genau das ist das Problem. Man hat mich abgepasst, nachdem ich die Tageseinnahmen frisiert hatte und den Überschuss mitgehen lassen wollte.“ Er drückte das Eis an seine Schläfe, um dem stärker werdenden Kopfschmerz etwas entgegenzuhalten. „Dann war ich wohl eine Weile weggetreten und im nächsten Moment sass ich gefesselt auf einem Stuhl und musste Fragen beantworten.“
Jetzt wurde Josef langsam unruhig. „Was für Fragen?“
„Wie lange ich schon Geld aus der Kasse klauen würde, wo das Geld jetzt sei und solches Zeug.“
„Was hast du gesagt?“
Ambros hob den Kopf und sah Josef ernst aus ruhigen Augen direkt an. „Absolut alles.“
Josef dachte nicht mehr, er zeigte einfach die Reaktion, nach der sein Körper verlangte. Die Faust traf Ambros sauber auf sein Kinn. Ambros konnte etwas knacken hören, aber er ignorierte es. Den stechenden Schmerz niederkämpfend, hob er langsam seine Hand an den Kiefer. Dabei schaute er Josef unverwandt an. Jede Silbe deutlich betonend wiederholte er das Gesagte. „Absolut alles.“