2010
Wörtlich von der Sonne wach gekitzelt öffnete Leonie die Augen. Trotz aller Widrigkeiten hatte sie diesen Ort erstaunlicherweise irgendwie ins Herz geschlossen und sie stellte fest, dass sie diese Tatsache entgegen ihrer Erwartung keineswegs ängstigte.
Während sie noch darüber nachdachte, ob dieser Umstand dem seit ihrer Ankunft beinahe durchwegs guten Wetter zu verdanken war oder ob es einen anderen Grund gab, hielt sie die Arme von sich und wollte sich genüsslich strecken, was sie sogleich bereute. In Windeseile zog sie ihre Arme wieder zurück und dachte kurz darüber nach, ihre Meinung über das Dorf doch noch zu revidieren.
Mit gequältem Gesichtsausdruck stand sie vorsichtig auf und schlurfte aus dem Zimmer, wo sie nicht nur von verlockenden Gerüchen nach Kaffee und Rührei empfangen wurde.
„Ah, sieh an, wie geht es denn unserer Patientin?“ Sebastian reichte Leonie eine dampfende Tasse Kaffee und wies sie an, sich zu setzen, während er sich wieder den Eiern zuwandte. Ihn verstohlen musternd schob sie sich mit bedächtigen Bewegungen auf den Hocker an die Theke.
„Nun, irgendwie bin ich wohl noch etwas steif, aber ich muss zugeben, Angelas Gästebett ist himmlisch.“
„Hab’ ich es nicht gesagt? Aber nein, ich musste erst mit Gewaltanwendung drohen, ehe du nachgabst.“
Nachdem Sebastian und Leonie am Abend zuvor ins Dorf zurückgekehrt waren, hatte Leonie darauf bestanden, in ihr Hotelzimmer gebracht zu werden. Sebastian hatte ihrem Wunsch entsprochen, doch keine Sekunde daran gedacht, sie dort alleine zu lassen. Nachdem er dann allerdings erkannte, dass neben dem grossen Doppelbett keinerlei weiche Übernachtungsalternative existierte, informierte er kurzerhand Angela darüber, dass sie vorübergehend einen Gast haben würde, ohne dem Protest des besagten Gastes Beachtung zu schenken.
„Was tust du eigentlich hier?“ Leonie trank einen Schluck, verbrühte sich aber prompt die Zunge.
„Kochen, schätze ich. Ich hoffe, du magst Rührei“, sagte er und setzte bereits einen gefüllten Teller vor Leonies Nase ab. Es war unmöglich, diesem würzig süsslichen Geruch zu widerstehen, also entschied Leonie, keinen Widerstand zu leisten und stopfte sich die erste beladene Gabel in den Mund. „Wo sind denn die anderen?“
„Einkaufen. Ich habe mich freiwillig zum Babysitten gemeldet.“
„Die Kinder sind noch da?“ Sebastians hochgezogene Augenbraue war Antwort genug. „Ach, du meinst mich?“, setzte sie empört nach und stopfte sich eine weitere Portion in den Mund. „Ich brauche keinen Babysitter.“
Aber auch diese Auseinandersetzung verlor sie. Entsprechend verliessen nach dem Frühstück beide gemeinsam das Haus. „Das ist wirklich lächerlich. Es ist helllichter Tag und die Strassen sind bevölkert. Jetzt wird mich kaum jemand angreifen wollen.“
„So wird es wohl sein. Deshalb kann ich dir ja nun auch sagen, dass ich einfach sichergehen wollte, dass du ein vernünftiges Frühstück bekommst und keinerlei aufseherische Absichten verfolgte. Aber für deinen Gesichtsausdruck von vorhin, wie auch für den jetzigen, war es das absolut wert, dir diesen Bären aufzubinden.“
„Das meinst du jetzt nicht im Ernst, oder?“
„Doch. Ich werde jetzt nämlich noch einmal zu meinem Vater fahren. Ich hab’ da noch was zu klären. Aber du könntest mir sicherheitshalber mitteilen, was du heute vorhast, damit ich im Notfall die entsprechenden Rettungsmassnahmen einleiten könnte.“
„Mensch, an dir ist echt ein Clown verloren gegangen. Aber gut, ich werde heute den Gemeindepräsidenten von damals aufsuchen und ihm ein paar Fragen stellen, insofern sich heute jemand an die Tür wagt. Beim letzten Versuch war das nämlich nicht der Fall.“
„Wie jetzt, du warst schon mal dort? Woher weisst du denn, bei wem du klingeln musst?“
„Die Dame im Tourismusbüro. Ein freundliches Wesen.“
„Dann hattest du Eliane. Die andere ist nämlich seine Enkelin.“
Leonie machte grosse Augen. „Du weisst einfach so, wer damals der Gemeindepräsident war?“
„Klar, hättest bloss zu fragen brauchen.“
„Wieso weiss man so etwas?“
„Naivchen, ich bin hier aufgewachsen. Das Dorf ist nicht sehr gross, viele sind miteinander verwandt und man kennt sich, meist schon seit Generationen. Dazu kommt, dass die kleine Schlatter immer eher die Aussenseiterin war, was, so sagt man, auf die unzüchtige und rebellische Mutter zurückzuführen ist. Und als Tochter des Gemeindepräsidenten tut man gut daran, weder das eine noch das andere zu sein.“
„Augenblick mal. Ich habe also mit der Enkelin des ehemaligen Gemeindepräsidenten gesprochen? Warum hat sie dann so getan, als müsste sie alles erst heraussuchen? Sie weiss doch bestimmt, wo ihr Grossvater wohnt.“
„Das tut sie in der Tat. Vielleicht fährt sie im Büro gerne die professionelle Schiene und möchte während der Arbeit nicht mit den persönlichen Beziehungen zu den Menschen hier in Verbindung gebracht werden.“
„Ja, vielleicht. Vor allem, wenn ihre Mutter offenbar Grächens schwarzes Schaf ist. Wie heisst sie eigentlich? Möglicherweise habe ich ja auch schon was über sie gehört?“
„Glaube ich kaum. Man spricht nicht mehr wirklich darüber. Ich glaube, viele wissen nicht einmal mehr, weshalb man ihr aus dem Weg geht. Wie dem auch sei, sie heisst, glaube ich zumindest, Alina oder so was. Galt allgemein als Schönheit, bis sie sich eben durch ihre Liebelei in Verruf brachte. Man erzählt sich, dass eine Hochzeit arrangiert wurde, um das Gerede zu stoppen. Hat aber augenscheinlich nicht geklappt.“
„Na, wenigstens durfte sie ihren Liebsten heiraten. Ich schätze, es gibt Schlimmeres, oder?“
„Stimmt. So zum Beispiel die Vermählung mit einem anderen. Denn ihr Liebster war ein unwürdiger Verbrecher, sass wegen Diebstahl im Knast, als die Hochzeit stattfand.“
„Wow. Es scheint, als wäre Grächen ein echt gefährliches Pflaster gewesen.“
„Ja, nicht wahr?“
Leonie nahm die Veränderung in Sebastians Stimme wahr und sah zu ihm auf. Doch in seinem Gesicht war nicht das Geringste zu erkennen. Nach wie vor umspielte ein munteres Lächeln seine Lippen. Vielleicht hatte sie sich ja getäuscht. „Nun, ich werde mich dann mal meiner Mission stellen.“
„Okay. Wir sehen uns heute Abend. Ich habe nämlich vor, mich bei Angela zum Essen einzuladen. Also dann.“ Einem Impuls folgend beugte sich Sebastian vor und hauchte Leonie einen Kuss auf die Wange. Die weiche Haut und der Duft ihres Haars, der ihm dabei in die Nase stieg, durchzuckten ihn wie einen Blitz. Um sich wieder zurückziehen zu können, musste er seine gesamte Beherrschung aufbringen, denn es schien, als würde sich jede Faser seines Körpers gegen die zunehmende körperliche Distanz wehren.
Zu sehr mit sich selbst beschäftigt, bemerkte er nicht, dass es Leonie kein bisschen anders erging. Am liebsten hätte sie Sebastian am Kragen seiner Jacke gepackt, sich in seine Arme geworfen und diesen Hauch in einen alles vergessenden Kuss verwandelt. Aber sie tat nichts dergleichen. Im Gegenteil, sie schenkte ihm noch ein kurzes Lächeln und ging davon in Richtung ‚Abendsonne’.
Erneut erklomm sie die Treppe, die zu der Haustür empor führte und klopfte an. Wieder hatte sie das Gefühl, im Augenwinkel die Bewegung eines Vorhangs wahrgenommen zu haben, doch als sie sich dem Fenster zuwandte, war da abermals nichts. Stattdessen öffnete sich die Tür. Aber nur soweit, dass die knochige Gestalt einer grossen, brünetten Frau sichtbar wurde, die jeden weiteren Blick in das Hausinnere mit ihrem hageren Körper versperrte.
Leonie musterte die Frau und sofort schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass sie sich anstelle von Haarfärbungsmittel eine bessere Ernährung leisten sollte.
„Guten Tag. Wäre vielleicht Herr Hans Zumbrunn zu sprechen?“ Leonie hatte ihr gewinnendstes Lächeln aufgesetzt, aber die Frau in der Tür schien immun oder ihrer Lachmuskeln beraubt. Schlaff und regungslos hingen die Wangen am Gesicht und eilten der Schwerkraft folgend in Richtung der Erde. Die Frage, ob zuerst die Wangen dort ankommen würden, oder ob die Mundwinkel das Rennen doch noch gewannen, schwirrte in Leonies Kopf herum.
„Ich weiss nicht, wen Sie meinen.“
Im ersten Augenblick war Leonie irritiert, aber weniger darüber, dass die Frau den genannten Namen nicht zu kennen behauptete, sondern mehr über die Tatsache, dass das Gesicht der Frau sich, obwohl sie sprach, keinen Millimeter bewegte.
„Oh. Nun, das ist seltsam. Ich bin auf der Suche nach dem ehemaligen Gemeindepräsidenten Hans Zumbrunn. Gemäss Information des Tourismusbüros soll er hier wohnen.“
„Tut er nicht.“
„Mhm. Sie wissen nicht zufällig, wo sich der Mann, der in den Jahren 1983 bis sicherlich 1986 hier der Gemeindepräsident war, jetzt aufhält?“
„Nein.“
Wieder der Vorhang. Diesmal sah Leonie nicht hin. Das war auch nicht nötig. Sie war sich sicher, dass er sich bewegt hatte. Genauso sicher wie sie sich war, dass sie an dieser Stelle nicht weiterkam. „Ja, also, wenn das so ist, dann entschuldigen Sie bitte die Störung. Einen schönen Tag wünsche ich Ihnen noch.“
Die Tür fiel direkt vor Leonies Nase ins Schloss.