2010
Ein Glas Rotwein in der Hand sass Leonie im Restaurant des Hotels und starrte aus dem Fenster. Das erlangte Wissen lastete mit erdrückender Schwere auf ihr. Sie wollte es einfach nicht glauben, doch sie musste. Denn auf ihrem Weg zurück in ihre eigene Unterkunft hatte ihr Gedächtnis aus unergründlicher Tiefe Buchstabe für Buchstabe einen Namen zusammengesetzt. Peter. Peter, der Polizist. Leonie fasste sich ein Herz und erhob sich mit ihrem Telefon in der Hand. Obwohl sie sie im Speicher hatte, wählte sie Ziffer für Ziffer der Telefonnummer. Es dauerte eine Weile, bis die Zielperson zu hören war. Dies allerdings wie aus weiter Ferne.
„Hallo, Mama.“
„Leonie? Schon wieder?“
Leonie rang um Beherrschung. „Allerdings. Du bist im Nagelstudio, richtig?“
„In der Tat. Also, worum geht’s?“
Da Verenas Missmut daher gründete, dass sie nur ungern während ihrem Plausch im Nagelstudio gestört wurde, beschloss Leonie die Holzhammermethode zu wählen. „Du hast mich angelogen.“
Schweigen.
„Wir waren schon einmal hier und wag es nicht, dies noch einmal zu bestreiten. Ich habe genug Informationen, die dich Lügen strafen.“
„Leonie, ich verstehe kein Wort. Worum geht es eigentlich?“
„Hör auf“, fauchte Leonie, „hör einfach auf. Es bringt nichts mehr. Neben dem, was ich mir anhören musste, kamen auch einige Erinnerungen zurück. Ich war schon einmal hier, es ist lange Zeit her und auch wenn ich es nicht mehr genau weiss, glaube ich, oder besser fühle ich, dass es kein schönes Ende genommen hat. Also erzählst du mir nun wohl besser die Wahrheit. Ich kann auch hier nach weiteren Informationen suchen und sie dir dann alle brühwarm vorsetzen. Aber eigentlich wäre es mir lieber, die Wahrheit von dir, meiner Mutter, zu hören.“ Leonie war sich nicht sicher, wie sie das Seufzen am anderen Ende der Leitung interpretieren sollte. Hätte sie es nicht besser gewusst, hätte sie es als ein Schluchzen gedeutet. „Na gut. Aber lass mir etwas Zeit, um mich zu sammeln.“ In Verenas Sprache hiess dies, vor einem Friseurbesuch, einer Pedicure, einer Enthaarungskur und einer Reflexzonenmassage war nichts zu wollen. Also akzeptierte Leonie den Kompromiss, verabschiedete sich und legte auf. Sich auf ihren Atem konzentrierend versuchte sie sich soweit zu beruhigen, um mit dem Gefühl, für den Augenblick alles derzeit Mögliche getan zu haben, in die Gaststube zurückkehren und den Rest ihres Weines trinken zu können. Doch kaum hatte sie sich gesetzt, legte sich ein Schatten über ihr Haupt.
„Hi.“
Leonie sah auf.
„Du siehst irgendwie aufgewühlt aus.“
Diese etwas zu harmlos ausgedrückte, nüchterne Feststellung brachte Leonie zum Schmunzeln, was sich irgendwie gut anfühlte, weshalb sie sich ein wenig entspannte. „Und du scheinst mir etwas unsicher. Möchtest du dich nicht setzen? Du stehst hier rum wie bestellt und nicht abgeholt.“
Dankbar zog sich Angela den Schal vom Hals und schob sich auf den freien Stuhl gegenüber von Leonie. „Danke. Ich war tatsächlich etwas angespannt, weil ich nicht wusste, ob du vielleicht sauer bist. Schliesslich habe ich dir versprochen unser etwas unglücklich beendetes Gespräch weiterzuführen, aber das ist nun auch wieder eine Weile her und ich habe keinerlei Anstalten gemacht, darauf zurückzukommen.“
Jetzt war Leonie platt. Im Glauben, es würde Angela nicht weiter interessieren, hatte Leonie die Sache abgehakt. Dass Angela unter einem schlechten Gewissen leiden könnte, daran hätte Leonie nicht einmal im Traum gedacht. „Nun, also, ich muss zugeben, ich bin etwas überrascht. Eigentlich war ich diejenige, die dich mit meinen Problemen überfallen hat. Dass du nicht mehr weiter darauf eingegangen bist, war für mich okay. Im Endeffekt ist es ja auch meine Sache, du bist nun wirklich beschäftigt genug mit deinen eigenen Angelegenheiten. Das habe ich ja live erleben dürfen.“ Ganz von alleine breitete sich ein Lächeln auf Leonies Gesicht aus.
„Tja, mein alltägliches Chaos. Aber was soll ich sagen, ich liebe es. Dennoch, für Freundinnen muss immer Zeit sein. Vor allem, wenn sie von seltsamen Erlebnissen eingeholt werden.“
Freundinnen? Leonie kam sich vor wie im Anfängerkurs ‚Verhaltensregeln in einer Freundschaft’, Stufe eins: Ab wann ist man eigentlich befreundet?
„Bist du noch da?“ Angela fuchtelte mit ihrer Hand vor Leonies Gesicht herum.
„Ja. Ja! Natürlich, entschuldige.“ Blinzelnd kehrte Leonie wieder in die Realität zurück. „Das klingt vielleicht dämlich, aber du hast mich mit der Bezeichnung Freundinnen etwas aus dem Konzept gebracht. Versteh mich nicht falsch, aber bisher führte ich absolut freiwillig ein Leben als Einsiedlerin. Bloss niemanden zu nahe ran lassen, denn das würde nur Schmerz bedeuten, wenn ich weiterziehe. Das hat bisher gut geklappt und ich habe es in all seinen Facetten genossen. Aber ihr hier oben verdreht meine ganze gut funktionierende Welt. Das ist echt anstrengend.“
„Wir hier oben? Wen genau meinst du?“ Ein verschwörerisches Zwinkern Angelas liess Leonie sofort derart erröten, dass sie der Serviette auf dem Tisch Konkurrenz hätte machen können. Belustigt registrierte Angela diesen Umstand, verschob die Vertiefung in diese Materie aber auf später. Auch das gehörte zu einer Freundschaft. „Mal im Ernst, für wen hätte das Schmerz bedeutet? Für dich oder für den anderen?“
„Zugegebenermassen wahrscheinlich für beide.“
„Du scheinst dir wenigstens keine Illusionen zu machen. Das finde ich gut. Nun aber eins nach dem anderen. Du hast mir bei mir zu Hause etwas über dein ausserirdisches Erlebnis erzählt. Wie ging’s da weiter? Meinst du, das war eine Art verdrängte Erinnerung?“
„Das war es mit grosser Wahrscheinlichkeit. Du kennst Sören? Der blonde Typ, mit dem ich letztens in der Bar gesprochen habe?“
„Oh, der mit diesen unglaublich blauen Augen? Woher kennst du den eigentlich?“ Angela begann förmlich zu leuchten. Verheiratet, aber nicht blind, dachte Leonie bei sich und musste wieder lächeln.
„Genau der. In der Lenzerheide war er mein Mitbewohner.“ Leonie zeichnete mit ihren Fingern zwei Anführungsstriche in die Luft.
„Aha, Mitbewohner. Schon klar.“
Der Kellner kam an den Tisch und die beiden Frauen hoben ihm ihre Köpfe entgegen, womit die vertraute Plauderei kurz unterbrochen wurde. Ein Blick auf Leonies Glas reichte aus und im gegenseitigen Einverständnis bestellten sie gleich eine ganze Flasche Rotwein und etwas Kleines zu Essen. Sobald der Kellner sich wieder entfernt hatte, steckten sie auch die Köpfe erneut zusammen. „Wo waren wir? Ah, bei deinem Mitbewohner. Das vertiefen wir dann noch, genauso wie das andere. Nun aber zurück zu deinem Erlebnis.“
„Das andere?“ Angela winkte ab und Leonie fuhr achselzuckend fort. „Also, ich habe ihm ebenfalls erzählt, was auf dem Berg passiert ist und dann hat er sich für Nachforschungen angeboten. Ich fand das ziemlich lächerlich, denn wo sollte man anfangen? War es ein Hirngespinst - wovon ich ausging - würde man nichts erfahren und abgesehen davon, gibt es niemanden, der sich jeden einzelnen Unfall merkt, der sich vielleicht auf dem Seetalhorn einmal ereignet hat.“
„Klingt tatsächlich etwas unwahrscheinlich. Aber verlieren kannst du wiederum auch nichts.“
„Genau das habe ich auch gesagt. Und Sören meinte, er hätte eh nichts Besseres zu tun. Also liess ich ihn machen.“
„Und? Hat er etwas herausgefunden?“ Als Leonie nickte, riss Angela überrascht die Augen auf. „Ist nicht dein Ernst! Was? Was ist es?“
Die Flasche Wein wurde gebracht und nach der gutgeheissenen Kostprobe und dem Befüllen der Gläser erzählte Leonie nicht nur, was Sören ihr zuvor mitgeteilt hatte, sondern auch, wie das Telefonat mit ihrer Mutter verlaufen war. Als sie geendet hatte, liess sich Angela in den Stuhl zurückfallen und atmete erst einmal schwer aus. Ihr wurde ein wenig schwindelig, was aber auch am Wein liegen konnte. „Wow. Das nenne ich eine Geschichte! Und wie geht’s nun weiter?“
„Wenn ich das wüsste. Zurzeit bleibt mir wohl nichts anderes, als darauf zu warten, bis sich meine Mutter in der Lage sieht, mich aufzuklären.“
„Wahrscheinlich hast du Recht. In der Zwischenzeit“, Angela beugte sich wieder vor, setzte beide Ellbogen auf den Tisch, stützte ihr Kinn auf die verschränkten Hände und grinste Leonie an, „kannst du mir bestimmt etwas über Sebastians neusten Gemütszustand erzählen.“