1986

 

Auch nachdem draussen die Dunkelheit über das Dorf hereingebrochen war und die Kirchenglocke die zehnte Stunde schlug, war Jan noch nicht wieder zurück. Alina fragte sich, woran das liegen mochte. Womöglich war er im Wirtshaus und debattierte mit Hans, wie mit der ungehorsamen Tochter und der treulosen Ehefrau weiter zu verfahren war.

Oder aber es war ihm etwas zugestossen.

Die grösste Sorge bereitete ihr die dritte Möglichkeit. Was, wenn er Ambros gefunden hatte? Was würde Jan ihm antun? Diese Ungewissheit raubte ihr beinahe den Atem.

Sie lehnte sich an die Küchenzeile und liess verzweifelt den Kopf in die Hände sinken, als plötzlich etwas gegen die Fensterscheibe flog. Aus ihren Gedanken gerissen fuhr sie erschrocken herum. Doch in der Finsternis konnte sie nichts erkennen. Sie trat vorsichtig einige Schritte näher und schaute angestrengt in die Nacht. Da, schon wieder! Ein leises ‚Klack’ an der Scheibe.

Eine Mischung aus Angst und Neugierde liess ihr Herz schneller schlagen. Ihren inneren Kampf gewann schliesslich die Neugierde. Alina trat ans Fenster und öffnete es vorsichtig. Sie meinte, hinter dem Busch auf der anderen Seite ihres Gartens eine kleine Bewegung wahrgenommen zu haben, war sich aber nicht sicher. Erst, als ein leises ‚Pssst’ folgte, war ihr klar, dass sich dort drüben ein Mensch versteckt hielt. Alina schluckte einmal schwer, bevor sie den Mut aufbrachte, leise flüsternd die Worte an die Gestalt zu richten, die ihr am meisten auf der Zunge brannten.

„Wer ist da?“ Ihre Kehle war derart trocken, dass ihre Stimme der einer Krähe glich. Eine Weile lang blieb es still. Sie war sich nicht sicher, ob der Unbekannte verstanden hatte. Doch noch bevor sie ihre Frage wiederholen konnte, erhielt sie eine Antwort.

„Bist du alleine?“

„Wie bitte?“ Erstaunt über die Gegenfrage, wäre ihr der leicht raue Einschlag der Stimme aus dem Dunkeln beinahe entgangen.

„Ist er schon zurück?“ Er klang ungeduldig und seltsam eindringlich. Als würde ihre Antwort über Leben und Tod entscheiden. Wie sehr sie das tatsächlich tat, konnte Alina noch nicht annährend erahnen.

Aber die Antwort wartete er gar nicht erst ab. Es raschelte und die Gestalt trat in den schwachen Schein, den das Licht aus der Küche auf den Rasen warf.

Mein Gott…“ Eine Welle der verschiedensten Gefühle drohte Alina zu überrollen. Gleichermassen erschrocken wie verwirrt und wütend schlug sie sich die Hand vor den Mund.

„Bist du alleine? Ich habe nicht lange Zeit, aber ich kann nicht gehen, ohne noch einmal mit dir gesprochen zu haben.“

Mit einiger Mühe fand Alina ihre Sprache wieder. „Jan könnte jeden Augenblick zurückkommen.“

„Bevor ich herkam, war er noch im Wirtshaus.“

„Ambros, ich, wie…“ Tausende Fragen schossen Alina durch den Kopf, die sie alle gleichzeitig stellen wollte. Aber wenn sie ernsthaft Antworten wollte, musste sie ihre Gedanken ordnen. „Wie bist du ihm entwischt?“

„Sagen wir, er ist noch dämlicher, als ich dachte. Es war leicht, ihn im Wald abzuhängen.“

„Warum warst du überhaupt noch in dem Hotel?“

„Ich habe auf eine Nachricht gewartet.“

„Nachricht wovon?“ Doch im selben Augenblick stand Alina die Antwort so klar vor Augen, dass sie sie gleich selbst gab. „Du hast die Seile manipuliert und um deine Rache perfekt zu machen, wolltest du die Nachricht über den Absturz der Gondeln hören. Du wollest noch einige Unschuldige mitnehmen, bevor du gehst.“

„Vor allem wollte ich deinem Vater und allen, die mein Leben zerstörten, ihren ach so hervorragenden Plan, Grächen mit dem Tourismus in einen Goldesel zu verwandeln, ruinieren. Aber sie haben es zu früh bemerkt. Du hasst mich jetzt bestimmt. Das ist verständlich. Aber eines muss ich noch wissen.“ Ambros zögerte. „Hast du sie zu mir geführt? Und wenn ja, warum hast du dann so einen Aufstand gemacht, als ich aus dem Hotel kam?“

Alina versuchte das Geständnis zu verarbeiten. Mit Schrecken musste sie feststellen, dass es sie kalt liess, ihren ehemaligen Liebhaber als blutigen Rächer zu sehen. Es erschreckte sie nicht, dass er viele unschuldige Opfer in Kauf nahm, um ihrem Vater eins auszuwischen. Im Gegenteil, sie empfand ein wenig Reue, war der Plan nicht aufgegangen. Von einem derartigen Tiefschlag hätte sich das Dorf nicht so schnell erholt. Das wäre nur verdient gewesen, nach allem, was ihr Vater ihr und Ambros angetan hatte.

„Ich wollte sie nach St. Niklaus lotsen. Aber das Timing war denkbar schlecht. Und als ich dich aus dem Hotel kommen sah, wollte ich sie ablenken, damit sie dich nicht auch sehen.“

Erstaunt hob Ambros eine Augenbraue. „Aber warum? Du müsstest mich hassen, für alles, was ich dir und dem Dorf angetan habe!“ Ein Kampf zwischen Verzweiflung, Ungläubigkeit und überwältigender Zuneigung spiegelte sich auf Ambros Gesicht wider.

Ohne nachzudenken trat er noch einen Schritt weiter auf das Fenster zu. Auf einmal hatte er das starke Bedürfnis Alina noch einmal fest in die Arme zu schliessen. Nur einmal noch wollte er ihr Haar riechen und ihre Haut schmecken. Für einen kurzen Moment senkte er den Kopf und schloss die Augen. Als er wieder aufsah, war das Fenster leer. Es schmerzte ihn, aber er verstand. Die leere Öffnung sehnsüchtig anschauend, flüsterte er „Es tut mir leid.“ Dann wandte er sich ab, als er plötzlich einen Lichtstrahl wahrnahm, der heller schien als der sanfte Schimmer aus der Küche. Noch einmal drehte er sich um und sah, dass die Tür einen Spalt geöffnet worden war. Unsicher, ob dies eine Einladung für ihn sein sollte, blieb er stehen. Bis er erstaunt feststellte, dass Alina sich durch den Spalt schob und die Tür hinter sich zuzog. Dann gab es kein Halten mehr. Ambros stürzte auf Alina zu. Kurz vor ihr blieb er stehen und sah sie einen langen Moment einfach nur an. Er strich ihr sanft eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht. „Es tut mir alles so leid. Ich…“

„Nein, bitte nicht.“ Alina legte Ambros den Zeigefinger auf die Lippen. Dann nahm sie ihn an der Hand und zog ihn in Richtung des Schuppens. Hinter dem Schuppen befand sich ein kleiner Unterstand, der einen ansehnlichen Stapel Feuerholz beherbergte. Daneben wuchs ein grosser Busch mit ausladenden Ästen. Alina führte Ambros entlang des Holzstapels zwischen den Ästen hindurch, bis sie im Schatten des Unterstandes auf einem kleinen Fleckchen Erde zu stehen kam.

Dort stellte sich Alina Ambros gegenüber und versenkte ihren Blick in seine rehbraunen Augen. Sie liess seine Hand los und strich sich mit den Fingern über den Kragen ihrer Jacke. Dann liess sie die Jacke über ihre Schultern gleiten. Achtlos fiel sie auf die feuchte Erde.

Mit ihrer Jacke fiel auch Ambros’ unsicheres Zögern von ihm ab. Ohne Alina aus den Augen zu lassen, trat er an sie heran. Er legte seine schwieligen Hände an ihre Wangen. Alina durchfuhr eine Woge der Zärtlichkeit, wie sie sie schon lange nicht mehr gespürt hatte. Vertrauensvoll legte sie ihren Kopf in seine Hände. Die Haut war so rau wie seine Stimme, aber das störte sie nicht. Im Gegenteil, auf einmal konnte sie es kaum erwarten, dass ihr ganzer Körper durch die Berührung dieser kratzigen Finger wund wurde.

Als hätte er ihr heimliches Begehren erraten, hob er ihren Kopf leicht an und senkte seinen eigenen über sie. Hauchzart legte er seine Lippen auf die Ihren. Plötzlich mit der Erfüllung seines innigsten Wunsches konfrontiert, wurde ein Feuer in ihm entzündet, das die winterliche Kälte vergessen liess. Er musste sich beherrschen, sie nicht einfach zu nehmen. Er wollte sie geniessen, jede Sekunde auskosten, jede Stelle ihres Körpers erforschen und alle Empfindungen und Eindrücke in ein kleines Kästchen in seinem Herzen verschliessen, wo er bis zu seinem Ende davon zehren würde.

Der weiche Mund machte ihn wahnsinnig, doch liess er sich die Zeit, seine Lippen erst über die Ihren gleiten zu lassen.

Es war Alina, die dem Kribbeln, das diese Berührung auslöste, nicht mehr standhalten konnte. Fest schlang sie die Arme um seinen Hals und wandelte die scheue Annäherung in einen zügellosen, alles fordernden Kuss. Die Selbstbeherrschung in Stücke gerissen, drückte Ambros Alinas zierlichen Körper an den Holzstapel. Als sie antwortete, indem sie sich begierig an seiner Hose zu schaffen machte, brachte er sein eigenes wildes Begehren wieder unter Kontrolle und reduzierte das Tempo, indem er Alinas Hände nahm, mit einer Hand beide Handgelenke und mit der anderen ihre Taille umfasste und sie in die Knie zwang.

Ihr Atem ging stossweise, was ihn beinahe um den Verstand brachte. Aber sie gehorchte. Nach wie vor hielt er die Hände über ihrem Kopf fest und machte sich mit der anderen Hand daran, quälend langsam ihre Bluse aufzuknöpfen.

Um sie bei Laune zu halten, bemühte er sich, sie immer wieder wie beiläufig an den empfindlichen Stellen zu berühren. Prickelnd trafen die eisigen Temperaturen auf ihre kochende Haut. Aber statt Linderung zu bringen, schürte die beinahe schmerzende Kälte das Verlangen nur noch mehr. Denn Verlangen bedeutete Feuer und Feuer war gefährlich glühende Hitze.

Um den Rock zu lösen, liess er ihre Handgelenke schliesslich los. Diese Chance nutzte sie, um auch ihn aus seinen Kleidern zu befreien. Währenddessen begann sie mit ihm dasselbe Spiel, durch das er sie soeben noch geführt hatte. Langsam wanderte sie in einem Wechselspiel zwischen Lippen und Zunge über seinen Körper. Sie brachte jede Stelle zum Glühen, bis sie beide nicht mehr an sich halten konnten. In einer fliessenden Bewegung drückte er sie auf die Erde und schob sich auf sie. Langsam trieb er sie dann schliesslich zu einem letzten gemeinsamen Moment des absoluten Glücks.

 

Als sich die Atmung wieder beruhigt hatte und die Kleidung geordnet war, stellte Alina schliesslich die Forderung in den Raum, von der Ambros nichts hören wollte.

„Nimm mich mit.“

Ambros hielt einen Augenblick inne, bevor er den Reissverschluss seiner dicken Jacke ganz hochzog. Dann sah er Alina ernst an. „Das geht nicht, und das weisst du auch.

Nein, tue ich nicht. Mein Gott, alles läuft ganz falsch!“ Verzweifelt schlug sie die Hände vor ihr Gesicht. Dann sah sie wieder auf. „Nimm mich mit. Mich hält hier nichts.“

„Als du heute vor meiner Tür gestanden hast, war ich drauf und dran, dich genau darum zu bitten. Aber das wäre zu egoistisch. Du hast recht, es läuft so gar nichts, wie wir es geplant haben. Deshalb müssen wir uns neu organisieren. So wie es jetzt ist, ist es einfach zu gefährlich, die Zukunft zu unsicher. Ich bin auf der Flucht! Ich kann dir kein Leben bieten. Ich weiss nicht, wie es jetzt mit mir weitergeht, was ich tun oder wohin ich gehen soll. In diese Situation darf ich dich nicht mit hineinziehen.“

„Zusammen könnten wir es schaffen.“

Alina, ich kann diese Verantwortung nicht übernehmen.“

„Ich übernehme die Verantwortung für mich selbst. Hier erwartet mich ein unglückliches Leben mit einem Mann, der mich nicht liebt, einem Vater, der mich verachtet. Und ich weiss noch nicht einmal, was nach meiner heutigen Aktion mit mir geschehen wird.“

„Dir wird nichts geschehen. Dein Vater ist ein angesehener Mann und nicht dumm. Er wird trotz seinen Gefühlen für dich immer darum besorgt sein, dass es dir gut geht. Das ist mehr, als ich tun kann.“

„Was macht dich da so sicher?“

„Bevor ich herkam, habe ich die Unterhaltung von Jan und Hans belauscht.“

„Du hast was?“ Alinas Stimme klang selbst in ihren Ohren schrill.

Schscht! Sie haben mich nicht gesehen. Und das, was ich herausfand, war das Risiko wert. Jan hat gefragt, was er mit dir tun soll. Dein Vater hat ihm aufgetragen die Finger von dir zu lassen. Um die Pläne weiter verfolgen zu können und das Vertrauen der Bewohner zu halten, kann er keinen selbst ausgelösten Skandal gebrauchen. Er geht davon aus, dass die Leute dich nun sowieso für verrückt halten. Also wirst du auch vor denen deine Ruhe haben.“

Alina war wenig überzeugt. „Das ist doch kein Leben!“

„Nein, vielleicht nicht. Aber ich kann dir noch weniger bieten. Hier hast du ein Dach über dem Kopf und deine Ruhe.“

Irgendetwas in Alina zerbrach in diesem Augenblick. Es klang schwer nach der Chance auf das Glück der grossen Liebe. Aber als würde aus einem verbrannten Flecken Erde ein Keim spriessen, trat etwas anderes an die zerborstene Stelle. Sie konnte noch nicht ganz zuordnen, was es war. Aber es reichte aus, um ihr ein Fünkchen Hoffnung zu geben, dass eine andere Art der bedingungslosen Liebe auf sie wartete.

Langsam nickte sie. Sie spürte, wie der Entschluss ihr die Tränen in die Augen trieb. Verschämt senkte sie den Kopf. „Also gut. Aber du musst jetzt gehen. Je länger du bleibst, desto gefährlicher wird es. Um den Rest werde ich mich schon kümmern.

Ambros trat auf sie zu, setzte ihr den Finger unters Kinn und hob ihren Kopf an, so, dass sie ihm in die Augen sehen musste. „Du bist eine unglaubliche Frau. Ich werde dich niemals vergessen. Wenn ich kann, komme ich zu dir zurück.“ Eine Träne rann Alina über die Wange. Ambros wischte sie weg. Mit dem feuchten Finger strich er ihr über die Lippen, bevor er den Kopf senkte und sie liebevoll küsste. Der Kuss schmeckte süss und salzig zugleich. Er schmeckte nach Abschied.

Wenn die Wahrheit nicht ruht
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