2010
Nachdem Leonie am Sonntag von Sebastian aus der Skistunde entlassen worden war und ihren freien Abend nach einem ausgiebigen Sonnenbad in der Schneebar bei der Talstation begonnen und schliesslich in aller Ruhe auf dem Balkon ihres Zimmers ausklingen lassen hatte, stand sie nun wieder in aller Frische hinter dem Tresen. Heute sollte sie als erstes die Letzte im Bunde kennen lernen. Dass sie Angela hiess, hatte sie bereits am Samstag aufgeschnappt, mehr wusste sie allerdings nicht. Das war allgemein ein Problem, wie Leonie feststellen musste. Sie wusste über keinen ihrer Mitarbeiter mehr, als nur den Vornamen. Selbst von Sebastian hatte sie nicht mehr in Erfahrung bringen können, ausser, dass er auch Skilehrer war. Und auch diese Information hatte sie nur zufällig dadurch erhalten, dass sie seine Schülerin war. Über ihre eigenen Gedanken den Kopf schüttelnd, mahnte sie sich selbst zur Geduld. „Mensch Leo, du lässt diesen Leuten aber auch keine Zeit!“
„Wie bitte?“
Erschrocken darüber, auf ihr Gemurmel Antwort zu erhalten, obwohl sie dachte, sie wäre alleine, schoss ihr Kopf in die Höhe. „Was?“
„Aha, du hast wohl mit dir selbst gesprochen.“
Leicht errötend über die Tatsache ertappt worden zu sein, drehte sich Leonie um. Beim Anblick der ihr gegenüberstehenden Person musste sie zuerst einmal leer schlucken. Es fiel ihr nur ein Wort ein: Bildhübsch. Hätte sie es nicht besser gewusst, hätte sie Angela für die Reinkarnation von Kelly aus Charlies Angels gehalten. Lange, braune Haare fielen ihr in weichen Wellen über die schmalen Schultern. Die weisse Bluse war soweit aufgeknöpft, dass ein neckischer Einblick auf den Ansatz der Brüste gewährt wurde. Der Ausschnitt wurde eingerahmt von einer langen, silbernen Halskette, die in Form eines dreieckigen Anhängers auslief. Die Jeans war nur hüfthoch, was das 80er Jahre-Bild ein wenig zerstörte. Darüber hinaus liessen sie einen wünschenswert knackigen Hintern erahnen, der seine Fortsetzung in zwei ewig langen Beinen fand. Dass Angela ähnlich intensiv Leonies Vorzüge registrierte, blieb nicht geheim. „Mensch Mädel, da hat sich Sascha wieder ein Prachtexemplar geholt!“
Nicht sicher, ob sie richtig verstanden hatte, wollte Leonie nachhaken, aber Angela kam ihr zuvor. „Entschuldige. Das muss mich ja wieder in ein Licht stellen…“ Angela streckte Leonie die Hand hin. „Wie du wahrscheinlich schon herausgefunden hast, ich bin Angela. Die Dritte im Bunde. Du musst Leonie sein.“
Leonie nahm Angelas Hand entgegen, dankbar, aber auch etwas skeptisch. Zu Wort kam sie dennoch nicht.
„Dir steht die Skepsis ins Gesicht geschrieben, also lass mich kurz erklären. Ich bin glücklich verheiratet, Mutter von zwei wundervollen Kindern und begeisterte Barkeeperin. Mein kleiner Ausruf von vorhin tut mir leid, aber obwohl ich auch eine Frau bin, kann ich durchaus neidlos anerkennen, wenn jemand von meinem Geschlecht optisch etwas hergibt. Von der Persönlichkeit weiss ich schliesslich noch nichts, das wird sich aber bestimmt bald ändern.“
Alleine die Tatsache, dass Angela innert fünf Minuten mehr von sich preisgegeben hatte, als Sebastian an einem ganzen Tag, machte sie in Leonies Augen sofort unheimlich sympathisch. „Sieh an! Da kann ich wohl offen zugeben, dass mich dein Anblick an einen TV-Star aus den 80er Jahren erinnert. Aber was mich jetzt natürlich brennend interessiert: Zwei Kinder und noch eine solche Figur? Wie hast du das gemacht?“
„Oh, danke! Veranlagung, schätze ich. Und dafür bin ich dankbar.“ Ein breites Lächeln zeigte zwei perfekte Zahnreihen. „Bist du gestern gut klar gekommen?“
„Ich denke schon.“
In diesem Moment flog die Tür auf und eine ganze Gruppe feierwütiger Gäste betrat das Lokal. Die Köpfe der beiden Frauen drehten sich synchron in Richtung Tür, bevor sich ihre Blicke wieder trafen. Als hätten sie es vorher geübt, begannen beide gleichzeitig zu sprechen. „Na dann los!“
Es stellte sich heraus, dass Angela und Leonie das perfekte Team waren. Reibungslos meisterten sie den Abend und machten ganz nebenbei ein ziemlich ansehnliches Trinkgeld. Als es dann ans Aufräumen ging, kümmerte sich Leonie um die passende Musik, bevor sie sich den Wischmopp schnappte und ihn als putzenden Tanzpartner missbrauchte. Sebastian trat in dem Moment ein, als Roxette zum Refrain von Must have been love ansetzte, was Leonie dazu animierte wie ein Hurrikan herumzuwirbeln. Der Mopp verfehlte Sebastian nur um Haaresbreite. „Hoppla! Entschuldige!“ Lachend tauchte sie das Wischwerkzeug in den Kessel, zog es wieder heraus und wollte ihren Tanz fortführen. Doch ein Blick auf Sebastian, wie er in voller Grösse vor ihr stand, brachte sie spontan auf einen anderen Gedanken. Sie streckte ihm auffordernd die Hand entgegen. Sebastian hatte für diese Geste nur einen entgeisterten Gesichtsaudruck übrig. „Danke, aber nein danke.“ Und ohne ein weiteres Wort setzte er seinen Weg fort. Leonie sah ihm nach, zuckte mit den Schultern und schnappte sich wieder ihren Mopp. „Ein steifes Kerlchen, dieser Sebastian. Gutaussehend, aber steif. So ganz anders als Sascha.“
„Hm?“ Angela hob den Kopf und schob sich mit dem Handgelenk eine Strähne aus der Stirn.
„So schlimm ist er nicht. Im Gegenteil. Wie viel Ehrlichkeit erträgst du?“
„Einiges. Warum?“
„Sebastian hat einige Vorurteile. Er ist ein ziemlich fleissiges, attraktives Kerlchen und gehört zu den begehrtesten Junggesellen des Dorfes, das entgeht auch den Touristinnen nicht. Nur hält er eben nicht sehr viel von oberflächlichem Getue.“ Angela stellte das polierte Weinglas beiseite und nahm das nächste zur Hand, bevor sie fortfuhr. „Alle deine Vorgängerinnen waren schlank, schön und meist auch ziemlich von sich selbst überzeugt. Da Sebastian diese Allüren an einer Frau nicht ausstehen kann, ist er ihnen meist aus dem Weg gegangen. Dummerweise wirken die gutaussehenden zurückhaltenden Typen auf die meisten Mädels äusserst anziehend. Bei jeder einzelnen löste diese Zurückhaltung den Drang aus, unseren Sebastian zu erobern. Jede glaubte wohl, sie wäre die Eine. Diejenige, mit dem besonderen Etwas, das ihn knackte. Aber jedes Mal rannten sie gegen eine Mauer. Und keine einzige brachte die nötige Ausdauer auf, die Voraussetzung für echtes Interesse wäre, denn nach kürzester Zeit warfen sie sich allesamt Sascha an den Hals, was wiederum Sebastian in seiner Ansicht bestätigte. Aber dieser Ablauf ist genau nach Saschas Geschmack.
Er weiss um Sebastians Abneigung und um die Reaktion der Frauen darauf. Er weiss auch, dass für die Mädchen das Abenteuer Sebastian dann erledigt ist, wenn sie ihn knacken können oder er sie lange genug links liegen lässt.
Sascha, auch ein Junge, bei dem Gott nicht geknausert hat, kennt seine Wirkung auf Frauen. Er könnte genauso umgarnt werden wie Sebastian. Sich rar zu machen, ist ihm aber zu anstrengend. Er will mit Frauen möglichst ohne Umschweife ins Bett und das bekommt er, indem er einfach wartet, bis sie mit Sebastian fertig sind. Dann springt er ein, um die angekratzten Egos der Frauen wieder aufzubauen, indem er ihnen zeigt, dass sie durchaus begehrt werden. Dank dieser Taktik musste Sascha bisher kaum Aufwand betreiben, trotzdem wurden sie alle seine Gespielinnen. Sascha hat sie nie verarscht, es war auf beiden Seiten immer klar, dass nur guter Sex das Ziel war und nicht mehr. Aber das wirkte sich natürlich nicht unbedingt positiv auf Sebastians Meinung über die Frauen aus, die Sascha einstellt. Also hat er auch über deine Persönlichkeit bereits entschieden, als er dich gesehen hat.“
„Tatsächlich? Passe ich derart in das Beuteschema?“
„Perfekt sogar. Lange, gerade, rote Haare, ein hübsches schmales Gesicht mit einem vollen Mund und riesigen Smaragdaugen, ein süsses Stupsnäschen, umgeben von Sommersprossen. Dazu sitzt dein schlanker Körper auf ebenso schlanken Beinen. Vollbusig bist zu zwar nicht, aber das war dafür die Letzte, daher ist jetzt wieder eine angenehme Handvoll angesagt.“ Von den deutlichen Worten überrumpelt stand Leonie mit heruntergeklappter Kinnlade da.
„Wow, das ist richtig ehrlich. Und ich dachte, Sebastian könne einfach nicht tanzen.“
Als plötzlich der Mopp durch eine Hand ersetzt wurde, blieb Leonie die nächste Frage im Hals stecken. Sie wurde einmal herumgewirbelt, doch bevor sie unkontrolliert an den Körper vor sich prallte, wurde sie von zwei kräftigen Armen mit leichtem Druck in perfekter Position zum Stehen gebracht. „Oh hoppla…“ Leonie war sich nicht sicher, ob sie selbst das sagte oder ob es Angela war, denn sie wirbelte bereits wieder durch den Raum. Während Sempre, Sempre aus den Lautsprechern dröhnte, legte Sebastian einen formvollendeten Discofox aufs Parkett. Auf die letzten Töne des Liedes bedeutete er Leonie noch einmal eine Drehung zu machen, zog sie dann aber in halber Bewegung zu sich, bog sie über seinen Arm nach Hinten und ging selbst mit seinem Oberkörper mit. Exakt zum Ende des Songs stand er so nah über sie gebeugt, dass sie seinen Atem in ihrem Gesicht spüren konnte. Er sah ihr direkt in die Augen, was in Leonie ein unerklärliches Prickeln auslöste, das sie mit einem schweren Schlucken zu beseitigen versuchte. So schnell wie alles gekommen war, so schnell stellte Sebastian sie auch wieder auf die Beine, drückte ihr den Mopp in die Hände und ging, ohne auch nur einen Ton von sich gegeben zu haben.