1986

 

Händeringend marschierte Verena unaufhörlich den Korridor hinauf und hinunter. Die Operation dauerte nun bereits zwei Stunden und niemand konnte ihr etwas über Marcs Zustand sagen. Leonie lag eingerollt auf einem der Stühle. Sie summte sich selbst ein Lied und starrte ins Leere. Lilli hatte sie nicht holen dürfen, darüber war sie traurig, aber noch viel trauriger war sie darüber, dass ihre Mutter immerzu weinte und Leonies Frage nach ihrem Vater mit einer Handbewegung abtat. Und immer sagte sie: „Nicht jetzt!“

Einer der Polizisten, die sie gerufen hatte, brachte Verena einen Kaffee und bedeutete ihr, sich hinzusetzen. Der zweite Polizist holte einen Notizblock hervor und setzte sich daneben. Als er Leonie erblickte, nickte er seinem Partner zu, erhob sich wieder und setzte sich neben sie. „Hi. Ich bin Peter. Wie heisst du?“

„Leonie.“ Sie bewegte sich keinen Zentimeter, gab aber höflich Antwort.

„Hallo Leonie. Sag mal, möchtest du mir erzählen, was du heute Nachmittag alles erlebt hast?“

Verena, die in Hörweite war, wollte aufspringen, doch der andere Polizist, dessen Nachname gemäss seinem Schild an der Jacke Thommen lautete, hielt sie zurück. „Was tut er da mit meinem Kind?“, fauchte sie ihn an.

„Er spricht mit ihr. Sie soll zuerst erzählen, was sie gesehen hat, dann kommen Sie an die Reihe. Aber die Kleine muss unserer Meinung nach das Erlebte rauslassen, bevor sie sich ganz verschliesst und zurückzieht. Machen Sie sich keine Sorgen. Niemand macht Ihnen Vorwürfe. Ihre Kleine ist bei meinem Partner in guten Händen. Er hat selbst drei Töchter.“

Obwohl sie nicht einverstanden war, liess Verena den Polizisten gewähren.

Anfangs antwortete Leonie nicht. Peter wartete geduldig ab. Dann, gerade als er nachhaken wollte, setzte sie sich auf. „Peter?“

„Ja?“

„Was ist mit meinem Papa?“

Ein Blick in die flehenden, grossen, grünen Augen, und ihm brach beinahe das Herz. „Er hat sich sehr wehgetan und die Ärzte versuchen ihn jetzt wieder heil zu machen. Mehr weiss ich auch noch nicht. Kannst du mir sagen, wie er sich wehgetan hat?“

„Hm.“ Wie ihre Mutter es immer tat, legte Leonie die Stirn in Falten und dachte nach. „Papa hat mit dem Schnee getanzt. Er war ganz schnell und dann kam plötzlich ein anderer Mann und dann hat der Schnee Papa aufgefressen.“

Der Polizist zog eine Augenbraue hoch. „Es kam ein anderer Mann? Kannst du mir mehr darüber sagen?“

„Er ist ganz furchtbar schnell gefahren und dann kam er bei Papa an, es gab ganz viel Schnee in der Luft und ich konnte nichts mehr sehen. Als ich wieder sehen konnte, lag Papa am Boden und der Mann war weg.“

Wie hat dieser Mann denn ausgesehen?“

„Ich weiss nicht genau. Er hatte eine Kappe an, eine grosse Brille und einen grauen Skianzug. Mehr kann ich nicht sagen.“ Als hätte sie durch das Fehlen weiterer Informationen eine Prüfung nicht bestanden, schaute sie reumütig zu Peter hoch. Dieser legte den Arm um sie und drückte sie fest an sich.

„Ist schon gut Kleines, du hast alles richtig und sehr gut gemacht. Ich werde dich jetzt kurz alleine lassen, um noch mit deiner Mama zu sprechen. Hast du Lust auf eine heisse Schokolade?“

Hin- und hergerissen, ob sie nein sagen sollte, weil er ein Fremder war, oder ob sie ja sagen durfte, da er zwar fremd, aber immerhin ein Polizist war und ihre Mutter ausserdem gegenüber sass, brachte Leonie schliesslich ein Nicken zustande.

„Das habe ich mir doch gedacht. Hier.“ Peter drückte ihr eine Münze in die Hände. „Ich hole jetzt nur noch kurz eine Krankenschwester, die dich begleiten wird, damit du dich in diesem grossen Krankenhaus nicht verläufst.“

 

Nachdem Leonie und die Krankenschwester Hand in Hand in Richtung heisse Schokolode aufgebrochen waren, setzte sich Peter wieder zu seinem Partner. „Und nun zu Ihnen. Wie haben Sie den Vorfall erlebt?“

Verena starrte auf ihre ineinanderverschlungenen Hände und rang nach Worten. „Da kam ein Mann, er ist sehr schnell gefahren. Wir waren beinahe alleine auf der Piste und er tauchte plötzlich wie aus dem Nichts auf.“

„Woher kam er?“

„Ich weiss nicht, er war auf einmal da. Irgendwie habe ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung neben der Piste wahrgenommen, aber nicht weiter darauf geachtet, bis eben dieser Mensch meinen Mann umgefahren hat.

Es wurden zwar andere Worte gebraucht, aber am Ende erzählte Verena das Gleiche, das Leonie dem Polizisten zuvor schon geschildert hatte. Die beiden Beamten erhoben sich, und bevor sie gingen, sicherten sie Verena zu, alles zu tun, was in ihrer Macht lag, um den Schuldigen zu finden. Allerdings liessen sie auch keine Zweifel darüber aufkommen, dass sich dieses Unterfangen äusserst schwierig gestalten würde.

 

Kaum hatten die Polizisten das Krankenhaus verlassen und Leonie ihren Platz mit einer heissen Schokolade in den Händen wieder eingenommen, trat ein Arzt auf Verena zu.

„Frau Ebner?“

Aufgeschreckt dadurch erneut angesprochen zu werden, schoss Verenas Kopf in die Höhe. Mit der Erkenntnis, wer vor ihr stand, erhob sie sich. Ängstlich sah sie den Mann in dem weissen Kittel an. „Ja?“

„Ihrem Mann geht es gut. Er hatte innere Blutungen, die wir stoppen konnten. Dazu kommen zwei gequetschte Rippen und ein gebrochenes Bein. Bis er wieder auf der Höhe ist, braucht er eine ganze Weile Ruhe, aber ich schätze, er wird wieder. Zurzeit schläft er noch, die Narkose wird aber bald nachlassen. Möchten Sie zu ihm?“

„Und ob!“ Leonie war so schnell aufgesprungen, dass ihre Schokolade über den Becherrand direkt auf ihre Kleidung schwappte. Nun stand sie, den Becher mit beiden Händen fest umklammert und einem grossen braunen Fleck auf ihrem Pulli, vor dem Arzt und starrte zu ihm hoch, während er sich von Verena abwandte und gutmütig zu ihr hinunterlächelte. „Na dann, junge Dame, nichts wie los!“

 

 

Wenn die Wahrheit nicht ruht
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