2010

 

Nachdem sie einsehen mussten, dass nicht noch mehr Informationen zu holen waren, einigten sie sich darauf, erst einmal alles setzen zu lassen. Jeder sollte für sich selbst entscheiden, was er mit seinem Wissen anfing und was als nächstes zu tun war. Zwar hatte Sören noch einen Versuch unternommen, Leonie in sein Bett zu locken, was ihm eine Abfuhr von Leonie und einen säuerlichen Blick von Sebastian einbrachte, aber das war ihm egal. Denn alleine schlafen musste er trotzdem nicht. Schliesslich hatte er noch ein Ass im Ärmel.

Der Ordner hatte seinen Platz in der Kühltruhe unter den Desperados gefunden. Sicher war sicher.

 

Mit der Kaffeetasse in der Hand lehnte Angela am nächsten Morgen an der Theke und starrte nachdenklich Löcher in Luft. Ihre Kinder waren bereits in der Schule, sie hätte sich also ruhig noch ein wenig mehr ausruhen können, aber sie war zu aufgewühlt, um sich noch einmal hinzulegen. Erst Timos Eintreten riss sie aus ihren Tagträumen.

„Worum geht’s?“

Angela begriff nicht, was ihr Mann von ihr wollte. Fragend blickte sie ihn an. Er warf ihr ein keckes Grinsen zu, liess seinen Blick über ihre kurzen Shorts und das knappe Trägertop wandern und zwinkerte ihr auffordernd zu. Dann hauchte er ihr einen Kuss auf den Mund, schwebte an ihr vorbei und öffnete den Kühlschrank.

„Ich soll mich also um Jahre zurückwühlen, ohne auch nur den blassesten Schimmer, ob es das Zeug noch gibt, darf aber nicht wissen weshalb.“

Erst als Timo seinen Rücken zum Kühlschrank drehte, sah Angela den kleinen silbernen Bluetooth-Empfänger am Ohr. Angela begriff, dass es überhaupt nicht um sie ging. Kopfschüttelnd fragte sie sich, wo bloss die grossen Telefonhörer hingekommen waren. Sie drehte sich weg und lenkte ihre Konzentration auf das, was sie am heutigen Tag vorhatte.

Timo plauderte unbeirrt weiter. „Ja, ich hab die Aufgabe begriffen, aber ich versteh nicht, warum ich das tun soll.“

 

„Stell nicht so viele Fragen, tu es einfach!“ Sebastian wartete die Antwort ab.

„Geht doch. Ich bieg grad auf den Waldweg ein, du fliegst also gleich aus der Leitung.“ Wieder lauschte er. „Okay, alles klar. Ach, und Timo? Da wäre noch eine Bitte.“ Sebastian zögerte, denn es ging ihm eigentlich selbst gegen den Strich, aber er entschied, dass es zum jetzigen Zeitpunkt das Beste war. „Sag Angela noch nichts. Okay?“ Am anderen Ende wurde es still. Sebastian fürchtete schon, Timo würde auflegen. Aber dann kam ein Räuspern, worauf zögerlich die erhoffte Bestätigung folgte. „Danke, Mann. Bis dann.“

Sebastian klappte sein Telefon zu und bog auf den Weg zum Haus seines Vaters ein. Er kannte den Pfad wie seine Westentasche, egal, welche Wetterverhältnisse herrschten. Sein Jeep glitt über den unberührten Neuschnee der gestrigen Nacht. Heinz war also zu Hause.

Eigentlich hatte Sebastian vorher anrufen wollen, aber wie so oft stimmte etwas mit den Leitungen zu Heinz’ Haus nicht, denn er bekam keine Verbindung. Ungewöhnlich war das nicht. Ein Haus im Wald war traumhaft in seiner Abgeschiedenheit, aber genau das machte es auch etwas aufwendiger, wenn man die Vorzüge der Zivilisation geniessen wollte. Selbst die Seilbahnen und die Bergrestaurants verfügten über bessere Infrastruktur als Vaters Haus.

Als Sebastian den Jeep um die letzte Kurve steuerte, sah er seine Vermutung bestätigt. Neben dem Eingang stand, am Dach angelehnt, eine lange Leiter. Heinz war nirgends zu sehen, doch ahnte Sebastian bereits, wo er ihn zu suchen hatte. Er brachte den Jeep vor dem Haus zum Stehen, stieg aus und begab sich zielstrebig zur Rückseite des Gebäudes. Dort befand sich ein kleiner Schuppen, dessen Tür nur angelehnt war. Aus dem Spalt drang schwaches Licht und ein ohrenbetäubendes Geräusch. Vorsichtig schubste Sebastian die Tür auf.

„Die Telefonleitungen?“ Sebastian musste fast schreien um das Rattern des Generators übertönen zu können.

Heinz schien ihn aber gehört zu haben, denn er drehte sich wenig erstaunt von seiner Werkzeugauslage weg. „Hallo, Junge! Ich dachte mir schon, dass du bald hier antraben wirst. So, wie das gestern getobt hat, musste es mir ja die Leitungen kappen.“ Heinz nickte in Richtung des Generators. „Diesmal hats auch gleich noch die Stromversorgung erwischt. Ausserdem klaute mir der Wind einige Ziegel vom Dach. Die müssen wieder rauf, bevor sich Wasser einschleichen kann.“

Sebastian verstand. Eigentlich war er zwar nicht hergekommen, um seinem Vater bei den Reparaturen zu helfen, doch es kam ihm nicht ungelegen. Denn vor seinem eigentlichen Vorhaben graute ihm. Seit er mit Leonie bei Heinz gewesen war, hatte sich ein ungutes Gefühl in Sebastians Magen eingenistet, das so schwer wog, als hätte er Steine gegessen. Einen Verdacht, woher dieses Gefühl kam, hatte er. Und obwohl er wusste, dass nur Klarheit helfen konnte, war er sich nicht sicher, ob er es genauer wissen wollte. Einerseits könnte es darauf hinaus laufen, dass er sich anschliessend fühlte, als lasteten nicht mehr nur Steine, sondern das ganze Matterhorn schwer auf ihm. Andererseits wäre es auch möglich, dass sich alles in Wohlgefallen auflöste. Inständig hoffte er auf die zweite Variante, vermutete jedoch, dass eher die erste zutraf. Also beschloss Sebastian die Angelegenheit noch etwas aufzuschieben. Er schnappte sich den Werkzeuggürtel vom Haken an der Wand und schnallte ihn um. „Alles klar. Ich kümmere mich um die Ziegel. Wir sehn uns auf dem Dach.“

Die Arbeiten dauerten länger, als geahnt. Aber keinem der beiden schien dieser Umstand etwas auszumachen. Es herrschte wunderbare Stille, nur das Klopfen und Hämmern hallte durch den Wald. Erst jetzt, da Sebastian nach und nach ruhiger wurde, bemerkte er, wie aufgewühlt er eigentlich gewesen war.

Kurz hielt er inne und liess den Blick über das Dach schweifen. Der Sturm hatte mehr Schaden angerichtet als vermutet. Sebastian fragte sich, wie er das Unwetter hatte verpassen können. Offensichtlich war er gestern so tief in das Studium des Ordners vertieft gewesen, dass er von den Vorkommnissen draussen nichts mitbekommen hatte. Ob es den anderen wohl genauso ergangen war?

Ohne den Klang der Werkzeuge war es so still, dass man meinen könnte, die schlafenden Tiere atmen zu hören. Doch in dem Moment, als er sich wieder an die Arbeit machen wollte, sah er im Augenwinkel eine Bewegung. Instinktiv umfasste er sein Werkzeug fester.

Dann plötzlich, ein Rascheln im Unterholz. Was es auch war, es war ganz nahe.

Verunsichert sah Sebastian zu seinem Vater auf. Er hatte es auch gehört, denn er blickte in dieselbe Richtung.

Beide schwiegen und lauschten. Aber alles blieb ruhig. Heinz wandte sich zu Sebastian um. Er wirkte irgendwie angespannt. Seine Mundwinkel deuteten ein nervöses Lächeln an.

„Man müsste meinen, nach so vielen Jahren hier draussen erschreckt mich nichts mehr! Das war bestimmt nur ein Kaninchen. Komm, Junge, wir gehen rein. Wir sehen sowieso kaum mehr was, seit die Sonne hinter den Bergen verschwunden ist. Den Rest schaff ich morgen auch alleine.“ Ohne ein Antwort abzuwarten, machte sich Heinz an den Abstieg. Sebastian folgte ihm wortlos. Da war es wieder, dieses ungute Gefühl.

 

„Hast du Hunger?“ Heinz streifte sich seine Schuhe ab und ging schnurstracks in die Küche. Dort öffnete er den Kühlschrank und zog eine grosse Schüssel heraus. Den Inhalt schüttete er in einen Kochtopf und machte den Herd darunter an. Sebastian legte seine Schuhe und seine Jacke ebenfalls ab, blieb aber im Wohnzimmer. Aus reiner Gewohnheit nahm er einige Holzscheite und heizte den Kamin neu ein. Irgendwann begann er zu schnuppern. „Paps? Was kochst du da?“

„Gerstensuppe!“, hallte es aus der Küche.

„Mit Würstchen?“

„Dumme Frage. Ich kenn dich doch! Natürlich mit Würstchen!“

Sebastian musste unwillkürlich lächeln. Stimmt, sein Vater hatte die Würstchen noch nie vergessen. Genauso wenig wie er die Tonne an geriebenem Käse auf den Spaghetti niemals vergass, wenn sein Sohn in der Nähe war. Obwohl die Erinnerungen eine innere Wärme auslösten, versetzten sie Sebastian auch einen Stich. Er konnte nicht länger warten, er musste es einfach wissen. Entschlossen stand er auf. Sein Blick fiel dabei auf das Foto auf dem Sideboard. Der lachende Junge mit dem Traktor. Einer Eingebung folgend nahm er es an sich und ging in die Küche. Behutsam setzte er das Foto neben dem Herd ab, direkt ins Blickfeld von Heinz. Dieser hielt sofort in der Bewegung inne und starrte auf das Bild. Der konzentrierte Blick wich einem traurigen Ausdruck.

„Papa?“

Heinz reduzierte die Hitze am Herd, weniger um der Suppe Willen, mehr um etwas Zeit zu gewinnen, sich zu sammeln. Ihm war klar, dass es nun keine Ausflüchte mehr gab. Sein Sohn wusste Bescheid. Also konnte er es ihm genausogut sagen. Aber was würde geschehen, wenn er es aussprach? Was würde Sebastian dann tun? Würde er denselben Weg wählen, wie seine Mutter damals? Die Zeit war gekommen, genau das herauszufinden.

Wenn die Wahrheit nicht ruht
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