2010
Egal, wie sehr sie sich bemühte, Leonie konnte das seltsame Gefühl, welches sie seit dem Sturz plagte, einfach nicht abschütteln. In ihrer Unruhe tat sie das, was sie sonst niemals tun würde. Sie rief ihre Mutter an.
„Leonie?“ Der übertrieben ungläubige Tonfall in Verenas Stimme brachte Leonie bereits wieder auf die Palme, noch bevor sie selbst überhaupt einen Ton gesagt hatte.
„Hallo Verena.“ Hätte die Kälte in Leonies Stimme in die Atmosphäre übergreifen können, wären die Polkappen gerettet gewesen.
„Du weisst doch, dass du mich nicht so nennen sollst. Ich bin deine Mutter, nicht eine x-beliebige Bekannte.“
Da war Leonie anderer Ansicht, aber dieses Thema wollte sie um jeden Preis meiden. „Wie du meinst. Mutter, ich hätte da eine Frage, die mich ganz schön verfolgt und ich hoffe, du kennst die Antwort darauf.“
„Ah, gleich zur Sache, wie? Bleibt denn nicht einmal mehr die Zeit, nach meinem Befinden zu fragen? Gut, vielleicht muss ich froh sein, dass du überhaupt anrufst. Du musst ja ganz schön verzweifelt sein.“
Mit einiger Mühe brachte es Leonie fertig den vorwurfsvollen Tonfall zu ignorieren und den beissenden Ärger hinunterzuschlucken. „Mutter, du bist gerade wieder dabei dir selbst leid zu tun und im Hinterkopf malst du dir bestimmt jetzt schon aus, wie du dich bei deinen Freundinnen über deine schreckliche Tochter beschwerst, also geht es dir gut. Somit hätten wir das geklärt. Mutter, Mama, ich weiss, es klingt seltsam, aber könnte es sein, dass ich schon einmal in Grächen war?“
Auf einmal war es ganz still. Kein Atemzug war mehr zu hören, kein herablassendes Schnauben. Selbst das typische Geräusch, das Verena von sich gab, wenn sie an ihrer Zigarette zog, war verstummt. Zum ersten Mal seit langer Zeit regte sich in Leonie ein Gefühl, das man wohl im Normalfall als einen Hauch von Sorge bezeichnen würde. Das war äusserst ungewöhnlich im Zusammenhang mit ihrer Mutter, daher wusste sie nicht recht, was sie damit anfangen sollte. „Verena, bist du noch da?“
Der gewünschte Effekt liess nicht lange auf sich warten. Ein scharfes Einatmen war zu vernehmen und die altbekannte Stimmung stellte sich wieder her. „Was habe ich dir gesagt, wie du mich nicht nennen sollst? Warum denkst du, schon einmal in Grächen gewesen zu sein?“
„Ich war heute Skifahren. Oder sagen wir, ich hab’s versucht. Jedenfalls hat es mich nach einer Weile hingelegt und ich habe mich über ein ziemlich langes Stück hinweg als Schneeball versucht. Schlussendlich habe ich am Rand der Piste unter einem Felsen gestoppt. Eine Zeitlang habe ich dort dann einfach gelegen. Aber nicht nur, weil ich etwas benommen war und mich erschreckt hatte, sondern auch, weil sich in meinem Kopf so etwas wie ein Film abgespielte. Es fühlte sich irgendwie an wie ein Déjà-vue oder eine Kindheitserinnerung. Es war eine Art Erlebnis, das ich schon längst verdrängt oder auch vergessen habe. Ich habe mir immer wieder gesagt, dass das nicht sein kann. Aber jetzt frage ich dich: Kann es doch?“
„Und du wirfst mir immer vor, ich würde alles dramatisieren!“ Davon, dass Verena all ihre Selbstbeherrschung aufwenden musste, um nicht von der Flut der aufkommenden Gefühle hinweggespült zu werden, merkte Leonie nichts. Dafür war Verena eine zu grosse Meisterin in ihrer Rolle. „Kind, es gibt nichts zu vergessen, denn du warst noch nie an diesem Ort. So, jetzt muss ich auflegen, der Friseur wartet. Tschüss Leonie.“
Ungläubig liess Leonie langsam ihr Mobiltelefon sinken. Alles war normal gewesen, dieselben Allüren wie immer, aber dass sich Verena als erste verabschiedete und dies auch noch zügig, das hatte es noch nie gegeben, ganz egal wie laut der Lockruf nach einer Grau abdeckenden Haartönung ertönte. Damit stand fest, dass sie ihr etwas verheimlichte. Nur was?
Um neugierige Blicke auszusperren waren die Fensterläden geschlossen. Nur durch die Lamellen drang streifenweise Tageslicht, welches Verenas versteinerte Gesichtszüge etwas weicher wirken liessen. Konzentriert auf den Gefühlsaufruhr hielt sie ihren Blick noch eine Weile auf das Fenster gerichtet, bevor sie sich umdrehte. Der Raum lag im Halbdunkel vor ihr, lediglich eine brennende Zigarette schien die düsteren Schatten vertreiben zu wollen. Indem sie bei jedem Zug etwas stärker aufglomm, nur um dann wieder schwächer zu werden, schien es, als würde sie einen Kampf auf verlorenem Posten ausfechten. Langsam wich das emotionale Chaos einer angenehmen Vorfreude auf die kommenden Ereignisse und die Versteinerung wandelte sich zu einem Ausdruck kühler Gelassenheit. Mit wenigen Schritten war sie bei dem breiten, beigen Sofa, das den Raum dominierte und damit auch bei dem Mann, der für den glühenden Kampf der Zigarette verantwortlich war. Behutsam nahm sie seinen Kopf zwischen ihre Hände und gab ihm einen leidenschaftlichen Kuss. Nachdem sie sich wieder von ihm gelöst hatte, war ihre Stimme ganz ruhig und das Funkeln in ihren Augen wirkte beinahe bedrohlich. „Die Zeit ist gekommen, dem langen Warten endlich ein Ende zu setzen.“
„Oh, hallo!“ Das Erstaunen stand Angela förmlich ins Gesicht geschrieben, dennoch zögerte sie keine Sekunde, ihrem Überraschungsgast Einlass zu gewähren.
„Entschuldige, ich will eigentlich nicht stören, aber ich muss mit jemanden reden und da ich dieses Bedürfnis bisher noch nie hatte, kenne ich eigentlich auch niemanden, der dafür geeignet wäre. Und…“
Mit einem Lächeln auf den Lippen, das normalerweise eine Mutter ihrem schusseligen Sprössling schenkte, beendete Angela die hilflosen Erklärungsversuche, indem sie die Ausführungen schlicht unterbrach. „Komm herein, zieh die Schuhe aus und setz dich. Ich bin gerade dabei für die Mannschaft zu kochen. Hast du schon gegessen?“
„Nun, nein.“ Überrumpelt und ziemlich verunsichert wünschte sich Leonie sogleich wieder den Rückzug antreten zu können. Alles in diesem Haus erinnerte an eine funktionierende, liebende Familie. Das war ein bisschen zuviel für eine Frau, die sich seit dem Zeitpunkt, als ihre Mutter sich nur noch um sich selbst kümmerte, weil sich der Vater aus dem Staub gemacht hatte, emotional auf nichts mehr einliess.
„Wenn das so ist, bist du eingeladen. Es ist genug für alle da. Ich hoffe, du magst Sauerbraten?“
Statt einer Ausrede, die ihr gestattet hätte, schnell wieder zu verschwinden, hörte sie sich sagen: „Sehr sogar. Ich will euch aber wirklich nicht stören!“
„Papperlapapp! Du bist jetzt unser Gast und damit basta.“
„Na gut. Aber kann ich dir wenigstens etwas helfen?“ Leonie sass bereits tief in dieser Familienkiste fest, und sie hatte es noch nicht einmal bemerkt.
Angela überlegte kurz. „Ehm, wenn du möchtest, schnapp’ dir ein Glas aus dem oberen Schrank, schenk dir Wein ein - der steht dort, neben der Spüle - greif dir das Schneidebrett und die Gurken. Wenn sie unbedingt Salat essen müssen, dann bevorzugen die Herren Gurke und zwar gewürfelt. Ich bin mir nicht sicher, ob sie mich damit einfach schikanieren wollen oder sie wirklich nur diese Form mögen, aber ich habe es aufgegeben zu fragen.“
Trotz der aufsteigenden Panik entschloss Leonie den Versuch zu wagen. Sie tat wie geheissen, prostete Angela zu und begann die Gemüsegurken in Würfel zu zerlegen. „Gut so?“
„Perfekt. Wenn du fertig bist, kommen sie in die Schüssel neben dir. So, und wenn du magst, kannst du mir jetzt erzählen, was dich hierher geführt hat.“
Beinahe hätte Leonie den eigentlichen Grund für ihren Besuch vergessen. „Ach ja. Nun, ich war heute wieder in der Skischule.“
„Bei Sebastian?“
„Genau. Und er hat mich auf die, ehm, auf das Seetalhorn gehetzt. Das ging auch alles ziemlich gut, bis es mich so richtig auf die Nase gehauen hat. Ich bin so ziemlich auf jedem Körperteil die Piste runter gerutscht, nur nicht auf den Füssen.“
„Echt? Aber es geht dir gut? Soll dich Timo untersuchen?“
Leonie musste äusserst verstört aus der Wäsche gekuckt haben, denn Angela setzte lachend nach. „Keine Sorge, er ist Rettungssanitäter.“
„Ach so, nein. Ich habe mir nichts getan. Aber ich hatte das Gefühl mich an einen ähnlichen Vorfall an genau derselben Stelle zu erinnern. Nur ist das überhaupt nicht möglich, denn ich war noch nie dort.“
„Kannst du die Erinnerungen beschreiben?“ Angela schien ehrlich interessiert und aufmerksam zuzuhören, weshalb Leonie sich langsam entspannte.
„Nun, es war so, als würde ich am Rand der Piste stehen. Aber nicht als erwachsene Frau, sondern als kleines Mädchen. Und ich war nicht das Opfer, sondern die Zuschauerin. Irgendwie habe ich gesehen, wie jemand anderes den Berg hinunter schlitterte und am Pistenrand neben dem Felsen zu liegen kam. Am selben Ort wie ich heute. Selbst als Sebastian sich über mich beugte, glaubte ich die Szene schon einmal gesehen zu haben, nur, dass es in meinem Kopf eine Frau war, die sich über einen Mann beugte.“ Leonie liess das Messer sinken. „Es tut mir leid, das klingt verrückt.“
„Ja, irgendwie schon. Aber das heisst noch nicht, dass es das auch ist. Gibt es die Möglichkeit jemanden zu fragen? Deine Mutter, deinen Vater?“
„Ich habe meine Mutter angerufen. Wohlbemerkt, wir verstehen uns nicht sehr gut. Sie ist ziemlich speziell. Sie hat gesagt, ich sei noch nie hier gewesen. Aber ich glaube, sie verheimlicht mir was. Dass sie nicht danach gefragt hat, was mir durch den Kopf gegangen war, ist nicht ungewöhnlich, aber die Art und Weise, wie sie das Telefonat beendet hatte, hat mich stutzig gemacht.“
„Hallo, meine Schöne!“ Leonie zuckte zusammen und kam sich sogleich auch dumm vor. Sie hatte gewusst, dass Angelas Familie zu Hause war, also hatte sie damit rechnen müssen, dass früher oder später auch jemand in die Küche kam. „Oha, ich muss mich wohl korrigieren. Guten Abend, meine Schönen.“ Timo schenkte Leonie ein breites, offenes Lächeln, das sie in Verlegenheit brachte. Sie wischte sich die Hände an dem Geschirrtuch ab und nahm die dargebotene Hand entgegen. „Leonie.“
„Ah! Tatsächlich, keinesfalls Pippi Langstrumpf! Das ist Rost!“ Während Leonie ihn verständnislos anstarrte, versetzte Angela ihrem Mann einen Seitenhieb.
„Ich glaube, du verschwindest jetzt besser wieder aus der Küche. Ich rufe euch, wenn das Essen fertig ist.“ Timo kniff Angela in den Hintern, tat aber wie geheissen. Als er weg war, zuckte Angela entschuldigend mit den Schultern. „Deine Haarfarbe. Wir waren uns nicht einig, wie man sie nennen kann.“
Jetzt konnte Leonie nicht mehr an sich halten und prustete laut los.
„Was ist denn hier los?“
Angela, die in das Gelächter mit eingestimmt hatte, war das Eintreten des neuen Besuchers in die Küche genauso wenig aufgefallen wie Leonie, weshalb beide Frauen erschrocken zusammenzuckten, als sie angesprochen wurden. „Sebastian! Du hast mich zu Tode erschreckt!“
Sebastians Blick ruhte auf Leonie. Seine Miene wirkte verschlossen und liess keine Rückschlüsse auf seine Gedanken zu, dennoch begannen Leonies Handflächen zu kribbeln. Wie lange sie seinem Blick noch hätte standhalten können, wusste sie nicht, daher war sie froh, wandte er sich als erster von ihr ab und seiner Gastgeberin zu. „Und du hast mir offenbar vergessen zu sagen, dass wir Gäste haben.“
„Nein, nicht vergessen. Das ist spontan so entstanden. Hol dir ein Bier und unterhalte dich ein wenig mit Timo. Der hat nämlich Küchenverbot gekriegt.“
„Timo ist mir über den Weg gelaufen, ich werde mich hüten, zu ihm zu gehen.“ Ein verschwörerisches Lächeln breitete sich auf Sebastians Gesicht aus. Angela beobachtete ihn skeptisch, während sie ihm ein Bier aus dem Kühlschrank holte und auf die Theke stellte.
„Will ich es wissen?“
„Nein.“ Als wäre dies das Codewort gewesen, stürmten auf einmal mit lautem Geschrei drei wild gewordene Piraten die Küche. Mit Plastikschwertern nahmen sie ihre Gefangenen, darunter auch Leonie, und zwangen sie, sich zu ergeben. Da Leonie aber das echte Messer nach wie vor in den Händen hielt, liess ihr Kidnapper schnell von ihr ab und flüchtete, aber nicht ohne Kriegsgeschrei. Als die anderen sahen, weshalb ihr Partner die Flucht ergriffen hatte, stellte sich der jüngere der beiden wagemutig vor Leonie hin. „Leg das Messer weg oder du wirst bluten.“
„Um Himmels willen! Tu mir nichts!“ Gehorsam und mit weit aufgerissenen Augen legte Leonie langsam das Messer auf die Theke. Sebastian sah sich das Schauspiel amüsiert an, während Angela bereits unter dem Stockholm-Syndrom zu leiden schien, denn sie wehrte sich mit einem wilden Knutschangriff.
„Nun, ich glaube, ich muss mich wohl opfern, denn meine Leidensgenossin ist irgendwie keine grosse Hilfe.“
„Das kann ich nicht zulassen! Ich rette dich, oh holde Maid!“ Überrascht sah Leonie zu, wie Sebastian um die Theke herum kam, schnurstracks den Jungen schnappte, über die Schulter legte, um ihn auf dem Teppich im Esszimmer auf den Rücken zu legen und wild auszukitzeln. Der Junge kreischte vor Freude und versuchte sich vergeblich mit der gleichen Kitzelattacke zur Wehr zu setzen.
„So, Schluss jetzt. An den Tisch mit euch allen!“ Schweren Herzens hatte sich Angela von Timo getrennt. Leonie hatte sich seit ihrer Befreiung nicht mehr gerührt, sie stand einfach lächelnd gegen die Küchenkombination gelehnt da und schaute dem Treiben zu.
Genauso wie alle anderen zuckte sie bei Angelas Machtwort zusammen und setzte sich gehorsam in Richtung des Esstischs in Bewegung. Nicht aber, ohne den Gurkensalat unter den Arm zu klemmen. Als dann endlich alle Platz genommen hatten und Angela den Startschuss zum Essenfassen gab, ging der Radau von Neuem los, bis es dann so still wurde, dass man nur noch das Klimpern des Bestecks auf den Tellern und dann und wann ein schmerzhaft kratzendes Geräusch bei der Berührung des Metalls mit dem Porzellan hören konnte. Nachdem dann der erste Hunger gestillt war, schien wieder Platz für ein Gespräch zu sein. Die Kinder erzählten, was sie erlebt hatten, Timo gab den einen oder anderen Fall zum Besten, zu Leonies Erstaunen berichtete selbst Sebastian lebhaft von einigen Skischülern, aber Leonies Sturz erwähnte er mit keiner Silbe. Ganz Alltägliches wurde auf einmal unheimlich wichtig, alles was gesagt wurde, bedachte man mit einem ernsten Kopfnicken oder ehrlichem Gelächter.
Leonie kam sich vor, als würde sie sich im Fernseher einen Heimatfilm ansehen. Ein nie gekanntes Gefühl, das sie weder definieren, geschweige denn benennen konnte, beschlich sie. Einerseits machte es ihr Angst, andererseits genoss sie die Situation wie schon lange nichts mehr. Sie spürte Augen auf sich ruhen, doch als sie aufsah, um zu eruieren, wer sie beobachtete, stellte sie zu ihrem Erstaunen fest, dass es nicht wie erwartet Angela war, sondern Sebastian. Selbst als sie ihn direkt ansah, wandte er seinen Blick nur langsam von ihr ab. Zu gerne hätte sie gewusst, was er in diesem Augenblick dachte.
Nachdem auf das köstliche Essen am Tisch dann noch Kaffee und Kuchen am Kamin im gemütlichen Wohnzimmer folgten, hatte sich Leonie von der friedlichen Stimmung beinahe vollständig einlullen lassen. Das grosse, breite Sofa in hellbraun und weiss beherrschte von der Mitte aus den gesamten Raum und lud mit den weichen Kissen geradezu zum Verweilen ein. Der holzige Geruch und das sanfte Knistern aus dem roten Natursteinkamin taten das Ihre zur absoluten Wohlfühlatmosphäre. Dazu noch die Brettspiele, die sich über den tiefen, aber dafür umso breiteren Wohnzimmertisch, ergossen und das Katalogbild war perfekt. Im Eile mit Weile hatte sie zwar kläglich gegen den vierjährigen Thommi verloren, aber sie freute sich beinahe mehr über seinen Sieg, als dass sie sich über ihr Verlieren ärgerte.
Die Zeit kam, da die Kinder ins Bett mussten und Leonie beschloss, diesen Aufbruch zu nutzen, um ebenfalls zu gehen, was sich allerdings als etwas schwierig entpuppte. Die Verabschiedung dauerte noch eine ganze Stunde, denn zu Leonies Rührung wollten die Jungs sie nicht gehen lassen, bevor sie nicht bei beiden unter dem Bett die obligate Kontrolle nach der Anwesenheit von Monstern durchgeführt und ihnen einen Gutenachtkuss gegeben hatte. Schlussendlich schaffte sie es dann doch durch die offene Haustür. Aber bevor jene ganz ins Schloss gefallen war, riss Angela sie noch einmal weit auf. „Herrgott, Leonie! Bitte entschuldige, wir konnten uns überhaupt nicht zu Ende unterhalten!“
Leonie wäre beinahe das Herz in die Hose gerutscht. Erschrocken legte sie die Hand auf ihre Brust, um den Herzschlag wieder zu beruhigen. „Angela, Herrgott! Tu das nie wieder! Mir wäre fast das Herz stehengeblieben! Glaube mir, du hast mir heute weit mehr gegeben, als nötig war. Mach dir also keinen Kopf. Geh schlafen! Ich kann doch hören, wie Timo bereits hinter der Tür scharrt!“
Ein kurzes Japsen hinter der Tür bescheinigte allen Anwesenden, dass Leonie mit ihrer Aussage richtig lag, was schallendes Gelächter zum Resultat hatte. „Okay, aber dann reden wir morgen weiter, versprochen!“
„Ist gut. Geh jetzt schlafen! Tschüss!“
Von aussen konnte man nicht erkennen, wer die Tür schloss, Leonie war aber überzeugt, dass es Timo war. Erschöpft, aber durchaus zufrieden und gut gelaunt lehnte sie sich gegen ihr Auto.
„Anstrengend, nicht wahr?“ Sebastian hatte ebenfalls beschlossen, den Nachhauseweg anzutreten und stand nun mit den Händen tief in der Jackentasche vergraben vor Leonie.
„Beinahe anstrengender als eine volle Bar zu bewirtschaften.“ Sie brachte ein schiefes Lächeln zustande.
„Ich weiss, es geht mich ja eigentlich nichts an, aber…“
„Du würdest gerne wissen, was mich in dieses Haus und indirekt an deinen Tisch geführt hat, stimmt’s?“ Sebastian zuckte nur ungeduldig mit den Schultern, etwas verärgert darüber, seine Neugierde nicht einfach weggesteckt, sich verabschiedet und Leonie ihrer Wege gehen gelassen zu haben. „Nun, indirekt hast eigentlich du Schuld, daher werde ich meine scharfe Zunge hüten. Es scheint dir auch so schon unangenehm genug zu sein, mich überhaupt gefragt zu haben.“
„Ich habe Schuld?“ Mit einem Ruck war die Zurückhaltung verschwunden und machte einem leichten Anflug von Verärgerung Platz. Für ihn war der einzige Grund, zum Thema eines Frauengesprächs zu werden, derjenige, dass Leonie versuchte herauszufinden, wie man ihn um den Finger wickeln könnte. Eben so, wie es jede von Saschas Barfrauen bisher versucht hatte. „Okay, hör mal, vergiss einfach, dass ich gefragt habe. Ich werde dann wohl besser gehen. Gute Nacht.“
„Wenn Einbildung ausgezeichnet würde, würdest du gleich zur Siegerehrung gerufen. Du glaubst wohl im Ernst, nur ein Blick in die treuen honigbraunen Augen würde bei jeder Frau das Bedürfnis auslösen, dass sich dein sanft wirkender Mund über den Ihren senkt und damit ein Feuer unbändiger Lust auf heisse Berührungen durch die kräftigen, flinken Hände des grossen breitschultrigen Sebastian auslösen? Jungchen, attraktiv bist du ja. Deine verwaschenen Jeans, dieser dicke schwarze Pullover und deine ungezähmte Mähne, die meiner Meinung nach kaum den Namen Frisur verdient hat, mögen vielleicht auf so Manche animalisch wild und verspielt wirken, aber ich stehe nicht auf diesen verwegenen Naturburschenlook. Meiner Meinung nach ähnelt dein Körperbau dem eines Bergsteigers. Nach Schutz und Geborgenheit suchende Mädels wären bestimmt glücklich, wenn sie ihren Kopf an deine Brust legen könnten, um in deiner Umarmung zu versinken. Ich dagegen stehe mehr auf die gut definierten, eher feingliedrigen Typen. Diejenigen, bei denen ich nicht gleich einen Nies- oder Kratzanfall bekomme, nur weil mich die Brusthaare kitzeln. Ich fahre auf glattrasierte, gut definierte Sixpacks und gelgestylte Frisuren ab. Dazu noch ein wenig Interesse für Mode und dann, aber erst dann, macht meine Fantasie erotische Ausflüge, die den Versuch wert sind, in die Realität umgesetzt zu werden.“
Verblüfft war Sebastian stehen geblieben und lauschte aufmerksam und durchaus amüsiert Leonies Ausführungen. „Dafür, dass du so ganz und gar nicht auf mich stehst, hast du dir aber offensichtlich einige Gedanken gemacht.“
„Woher willst du das wissen? Die grünen Sprenkel in deinen Augen und das warme offene Lachen, welches du zu Tage führst, wenn du manchmal deine kühle Distanziertheit vergisst, habe ich doch überhaupt nicht erwähnt!“ Sie hatte ihn necken wollen und es schien ihr gelungen zu sein. Denn auf seinem Gesicht breitete sich genau das entwaffnende Lächeln aus, welches sie gerade eben noch angesprochen hatte, aber in seinen Augen lag ein gefährlich herausforderndes Leuchten. Als er dann langsam auf sie zutrat, ihre Augen mit den Seinen fixierte, die grünen Sprenkel vergnügt im schwachen Schein der Strassenbeleuchtung glitzernd, verwandelte sich ihre Kehle in eine Wüste, ihr selbstsicheres Lächeln erstarb und ihre Handflächen wurden feucht.
Er war viel grösser als sie selbst. Das wurde ihr erst bewusst, als er unmittelbar vor ihr stehen blieb und sie den Kopf leicht anheben musste, um ihm mit einem trotzigen Blick zu verstehen zu geben, dass sie bestimmt nicht weichen würde.
Und dieser Geruch. Dieser warme männliche Geruch, der von ihm Ausging. Die sonnengebleichten Strähnen in seinem Haar… Leonie bemühte sich, klar zu denken, brachte aber nur noch die Vorstellung zustande, wie sie mit ihren Händen seinen Hals umschlang, sie tief in seinen Haaren versenkte, während sie sich von seinen Armen umschlingen und an diesen kräftigen Brustkorb pressen liess. Sie konnte nur daran denken, wie sehr sie wollte, dass er genau das mit ihr tat, von dem sie zuvor noch so abschätzig gesprochen hatte. Ihr Atem beschleunigte sich und sie rang mit aller Kraft um Beherrschung.
Sein Gesicht war jetzt ganz nahe bei ihrem. Er liess ihren Blick auch dann nicht los, als er ihr ganz zart mit Daumen und Zeigefingern über das Kinn strich, den Kopf etwas schräg legte und ihn quälend langsam soweit hinunter senkte, bis sich die Nasenflügel in einer federleichten Berührung trafen. Ein heisses Prickeln schoss durch Leonies Körper.
Sie wusste nicht, ob sie seine Lippen wirklich gespürt hatte, nachdem er seinen Kopf wieder anhob. Immer noch direkt in ihre Augen schauend sagte er dann: „Und du willst mir weis machen, dass das Spielen mit deinen Stadtcasanovas mehr Spass macht als mit einem Naturburschen? Liebchen, du demonstrierst hier das starke Mädchen mit dem Bedürfnis nach Jungs auf gleicher Augenhöhe. Sie sollten möglichst deine Schönheit bewundern, sich von dir um den Finger wickeln lassen, aber nicht ohne, dass sie dasselbe mit dir tun. Dann reitet ihr auf der gleichen Welle ohne falsche Erwartungen. Dabei hast du nur Angst. Du hast Angst, die Fäden aus der Hand zu legen und dich fallen zu lassen, weil du nicht weisst, ob du aufgefangen wirst. Vielleicht bin ich der Typ mit etwas mehr Tiefgang, aber so schlecht wie du sagst, kannst du das nicht finden.“
Leonie wollte etwas sagen, aber er kam ihr zuvor. „Wage es nicht zu widersprechen, ich habe dein Zittern deutlich gespürt.“ Insgeheim hoffte er, dass sie seines nicht auch so deutlich wahrgenommen hatte.