1986

 

Aus Angst davor, was sie erwarten würde, traten Verena und Leonie nur zögerlich in das Krankenzimmer ein. Die Krankenschwester hinter ihnen musste sie förmlich anschubsen, damit beim Schliessen der Tür niemand eingeklemmt wurde. Vorsichtig schlich Verena, dicht gefolgt von Leonie, auf das Bett zu, in dem Marc lag. Der Anblick, der sich ihnen bot, war derart trist, dass sie beide unsicher stehen blieben. Der Mann, den sie als Ehemann und Vater in Erinnerung hatten, war nur noch ein Schatten seiner selbst. Das sterile Grau und Weiss, in dem das Zimmer gehalten war und der übliche Geruch nach Desinfektionsmittel, mit dem Krankheiten und Tod so gut wie möglich beseitigt wurden, trug nicht gerade zur Erheiterung bei.

Leonie rückte näher an ihre Mutter heran und hielt sich an ihrem Bein fest. Ein leises Aufstöhnen liess sie noch ein wenig mehr zurückschrecken, bevor sie verstand, was geschah. Mit der Erkenntnis gingen dann die Zurückhaltung und das Unwohlsein vergessen.

„Papa!“ Mit einem Ruck liess sie von ihrer Mutter ab und stürzte auf das Bett zu. Beim Anblick des Schlauches, der aus seiner Hand kam, stockte sie in ihrem Übermut und gehorchte dem Instinkt. Sanft legte sie eine Hand auf den behaarten Arm ihres Vaters und wartete gespannt, in der Hoffnung, dass er sie erkennen möge.

Für Leonie war es eine quälend lange Zeit, bis Marc endlich die Augen öffnete und sich umsah. Auch für Marc schien der Augenblick ewig anzudauern. Die Augenlider waren so schwer, die Sicht verschwommen und der Ort derart ungewohnt, dass er die aufsteigende Panik entschlossen hinunterschlucken musste. Einzig die leichte Berührung auf seinem Arm fühlte sich angenehm bekannt an.

Nach und nach begannen sich seine Sinne zu schärfen und der Verstand wurde wieder klarer. Er wollte seine andere Hand über die kleine auf seinem Arm legen, hielt aber inne, als der Infusionsschlauch sich bewegte. Also entzog er sich, wenn auch nur ungern, dieser wohltuenden Berührung, um seiner Tochter über das Haar zu streicheln. Diese reagierte sofort, schmiegte ihr Gesicht in seine grosse Hand und liess ihren Kopf dann an Marcs Seite auf das Bett sinken.

„Verena?“ Es war kaum mehr als ein Krächzen, auf das ein rauer Hustenanfall folgte, der nun auch endlich Verena aus ihrer Starre riss.

„Ich bin hier!“ Sie eilte auf die andere Seite, goss aus dem bereitstehenden Krug einen Becher Wasser ein und führte den Strohhalm, der das Trinken erleichtern sollte, zu Marcs Mund. Dieser begann gierig zu trinken. Als der Becher leer war, liess er sich dankbar in die Kissen zurücksinken.

„Ihr habt mir einen ziemlichen Schrecken eingejagt.“ Das Sprechen klappte noch nicht so, wie er es wollte, fürs Erste reichte es aber.

Wir dir?“, rief Verena entrüstet aus.

Aber sicher. Ich dachte schon, du würdest nie wieder mit mir sprechen.“

Kurz blitzte der alte, beinahe vergessene Ärger in Verenas Augen auf. Aber selbst sie wusste, dass es der falsche Zeitpunkt war, ihrem Ehemann weiterhin zu grollen. „Und deshalb lässt du dich anfahren? Ein wenig mehr Geduld hätte es auch getan.“

„Ich wollte auf Nummer sicher gehen.“ Ein schwaches Lächeln umspielte Marcs Lippen. „Was ist da oben eigentlich passiert?“

„Weisst du das etwa nicht mehr? Du wurdest angefahren!“

Sosehr Marc auch in seinem Gedächtnis kramte, die Erinnerung an den Unfall und an alles, was bis zum jetzigen Erwachen geschehen war, fehlte vollständig. „Angefahren? Ich weiss nur noch, wie ich gewartet habe, bis ihr an einem Ort wart, an dem ihr keinen anderen Weg mehr nehmen konntet und dann bin ich in unglaublichen Schneeverhältnissen die Piste runter. Als Nächstes wache ich hier auf und ich schätze, die Schläuche und diese piepsenden Geräte haben nichts Gutes zu bedeuten.“

Da kam ein Mann aus dem Nichts, hat dich umgefahren und ist geflohen. Die Polizei sucht nach ihm. Du hast innere Verletzungen abbekommen und wurdest operiert. Die Ärzte sagen aber, sie hätten es in den Griff bekommen und du würdest wieder gesund werden.

„Wow.“ Das musste Marc erst einmal verdauen. „Da scheint mein Schutzengel ganze Arbeit geleistet zu haben.“ Innerlich sandte er ein kleines Dankeschön in Richtung Himmel.

 

Nach vielen Stunden der Wache an Marcs Krankenbett kam der Moment, da sich Verena dafür entschied, zurück nach Grächen zu fahren und sich einigen organisatorischen Massnahmen zu widmen. Sie musste zusehen, dass sie jemanden von zu Hause auftreiben konnte, der das Auto holte und am besten vorher noch belud. Dann brauchte Marc noch einige Dinge für das Krankenhaus, wie Kleidung, seine Toilettentasche und etwas zur Unterhaltung. Abgesehen davon musste sie sich Gedanken darüber machen, was sie mit Leonie anstellen sollte. Am besten war, sie würde auf schnellstem Weg nach Hause gebracht. Die Kontaktaufnahme mit den Grosseltern schien am naheliegendsten.

Doch Leonie dachte nicht daran, mit ihrer Mutter zurück in die Wohnung zu gehen. Keinesfalls wollte sie weg aus diesem Krankenhaus, schon gar nicht aus diesem Zimmer und erst recht nicht von diesem Bett. Wie eine kleine Katze rollte sie sich an Marcs Seite ein, der seiner Frau schulterzuckend einen beschwichtigenden Blick zuwarf. „Lass sie, sagte sein Ausdruck, den Verena mit einem Kopfnicken guthiess.

Mit etwas Mühe fand sie die Postautohaltestelle und das richtige Postauto dazu. Nachdem sie eingestiegen war und sich alleine mit ihren Gedanken wiederfand, musste sie sich eingestehen, dass es genau die richtige Entscheidung gewesen war, die Kleine bei ihrem Vater zu lassen. So hatte sie niemanden, der ihr in die Quere kam, während sie versuchte für Ordnung zu sorgen.

Wie sich einige Kilometer später herausstellte, bestand diese Ordnung aus aufgebrachtem um sich Werfen von Gegenständen, in der Hoffnung, alles möge durch Zauberhand von alleine ordentlich in irgendeinem Behältnis, sei es nun Koffer, Tasche oder Beutel, Platz finden.

Nach einer Weile des Wütens beruhigte sich Verenas innerer Aufruhr schliesslich soweit, dass sie mit einem von Marcs Pullovern in Händen zu Boden sank. Ihre stets gut frisierte blonde Dauerwelle stand ihr vom Kopf ab, als wäre Verena durchs Dickicht gerobbt, zwei ihrer Nägel waren abgebrochen und an einem splitterte der Lack. Normalerweise Grund genug, um einen erneuten Tobsuchtsanfall zu bekommen. Aber nicht heute. Immerzu kreiste der Gedanke durch ihren Kopf, was sie tun sollte. Sie hatte keine Ahnung, wie man ein Leben alleine regelte. Selbst die Organisation dieser Situation schien ihr derart unmöglich wie die Besteigung des Mount Everest. Sie wusste weder, wo sie anfangen sollte, noch was sie alles vorkehren musste. Allerdings war sie nicht verzweifelt genug, um einzusehen, dass sie sich einfach nur aufraffen musste.

Verena war eine Frau, die bemitleidet und gerettet werden wollte und nicht eine von der Sorte, die sich zusammenriss, um sich selbst zu helfen. Dafür konnte sie schlicht die Notwendigkeit nicht erkennen.

Also stopfte sie wahllos diverse Gegenstände in einen Koffer, schloss den Riegel und hoffte, dass Marc zwischenzeitlich seine Eltern angerufen und dafür gesorgt hatte, dass sein Vater mit einem Freund herkommen und nach dem Beladen des Autos mit Gepäck und Leonie ins Mittelland zurückfahren würde. Sie hatte sich ihre Vorstellung gerade so weit zurechtgelegt, dass sie beinahe wieder zu ihrem alten Gemütszustand zurückgefunden hatte, als plötzlich ein eindringliches Schrillen durch die Wohnung dröhnte. Verena fuhr erschrocken auf und liess das soeben gefüllte Wasserglas fallen. Der gesamte Inhalt ergoss sich in einem dunklen Fleck über den Teppichboden. Im Versuch die Quelle des Geräuschs ausfindig zu machen, sah sie sich hektisch um. Doch im Wohnzimmer war nichts, das einen derartigen Lärm auslösen konnte. Also ging sie in den Flur. Und entdeckte ein mattoranges Telefon mit schwarzen Wahltasten. Verwirrt hob sie den Hörer ab und meldete sich knapp mit ihrem Nachnamen. Die Stimme am anderen Ende sprach in einem einlullenden Singsang, so dass die Essenz der Mitteilung beinahe nebensächlich wurde. Aber eben nur beinahe. Verenas Gesichtszüge versteinerten sich, jeder Muskel schien seiner Aufgabe zu entsagen. Sie liess das Telefon fallen und sackte in sich zusammen. Durch die fehlende Antwort in Aufruhr versetzt, plärrte die Stimme nun wesentlich nervöser durch die Muschel. „Sind Sie noch da? Hallo? Frau Ebner! Ist alles in Ordnung? Aber die Rufe blieben ungehört.

 

 

Wenn die Wahrheit nicht ruht
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