1986

 

„Leonie!“ Ausser sich vor Angst stürzte Marc den Abhang hinunter, bis zu der Stelle, an der er seine Tochter aus den Augen verloren hatte. Hartnäckig wie Zecken setzten sich schreckliche Bilder in seinem Kopf fest, die immer abscheulicher wurden, je näher er dem Waldrand kam. Alles war still. Totenstill. Die Welt schien ihre stetige Drehbewegung eingestellt zu haben, als Marc die Kuppe erreichte und in die Bäume schaute. Zu seiner weiteren Beunruhigung entdeckte er keine Spur des neongelben Skianzuges. Ungläubig starrte er mit zusammengekniffenen Augen weiter in das Unterholz. Er zwang sich zur Ruhe während er langsam den Spuren der Ski zu folgen begann. Seine Angst wurde nach und nach von Neugierde und Verwunderung verdrängt. Die Linien, denen er folgte, verliefen zuerst geradeaus, immer zwischen den Bäumen hindurch. Als dann aber ein Baumstamm im Weg stand, zeichnete sich im Schnee eine scharfe Rechtskurve ab, bevor sie dann parallel zum Abhang weiter geradeaus dem sanfteren Gefälle folgte.

„Leonie?“ Vorsichtig stapfte Marc weiter durch den Schnee, immer tiefer in den Wald hinein, immer wieder den Namen seiner Tochter rufend. Gewaltsam musste er die langsam aufkeimende Panik wegschieben, denn die Bäume standen immer dichter, das Gefälle nahm wieder zu und mittlerweile versank er knietief im Schnee. Mit salzigen Schweissperlen begann sich die Anstrengung deutlich auf seinem Gesicht abzuzeichnen. Bis ihm plötzlich ein Geräusch an die Ohren drang. Es war so leise, dass er meinte sich verhört zu haben. Marc blieb stehen und lauschte. Dann rief er noch einmal Leonies Namen und lauschte wieder. Und tatsächlich, er erhielt eine Antwort. Wenn sie auch nur aus einem leisen Wimmern bestand. Oder war es ein Kichern?

Marc traute seinen Sinnen nicht mehr und er bekam das Gefühl, aus lauter Sorge den Verstand zu verlieren. Er sammelte seine gesamten verbliebenen Kräfte und wandte sich in die Richtung des Geräuschs. Soweit, bis er dachte eine Bewegung gesehen zu haben. Wieder blieb er stehen und schaute genauer hin. Tatsächlich, der Schneehügel unweit vor ihm bewegte sich.

So schnell er konnte, trat er näher heran und meinte, sich hinlegen zu müssen. Ihm fiel ungefähr das ganze Matterhorn vom Herzen.

„Leonie!“ Er hätte sich zu ihr gekniet, doch dafür steckte er bereits zu tief im Schnee. „Geht es dir gut? Was ist denn passiert?“ Marc schob den Schnee von seiner Tochter, zog die Handschuhe aus und tastete alles ab, um sich laienhaft zu vergewissern, dass alles noch an Ort und Stelle war. Leonie sah aus wie ein kleiner Schneemann. Und anstelle von verweinten, ängstlichen Augen, vielen Schrammen und gebrochenen Knochen erblickte Marc ein kleines, rothaariges Mädchen im neongelben Skianzug, das ihn frech angrinste.

„Papa! Darf ich das noch mal machen?“ Wie immer tat, wenn sie aus Freude absolut überdreht war, klangen die Worte wie das Quieken eines kleinen Meerschweinchens.

„Ich glaube, jetzt bin ich durchgedreht. Was glaubst du, wie ich mir Sorgen gemacht habe! Und was bekomme ich zu hören? Du willst noch mal!“

Das war zuviel für Marc. Lauthals lachend liess er sich rückwärts in den Schnee sinken. Als dann endlich die Schweissperlen durch Lachtränen ersetzt waren, richtete er sich wieder auf.

„Komm Kleines, wir fahren jetzt den Rest des Bergs auch noch hinunter. Hat dir Mama die Plastiktüte wieder eingepackt?“

Verständnislos blickte Leonie zu ihrem Vater hoch. „Na, denkst du, ich laufe den ganzen Weg noch einmal hoch? Auf keinen Fall. Ich versuche jetzt auf dem Plastiksack soweit runter zu rutschen, bis wir wieder einigermassen griffigen Schnee unter unseren Füssen haben. Und du machst dasselbe, einfach auf deinen Skiern. Und wehe du sagst jetzt, du kannst das nicht. Denn ich weiss, dass du’s kannst, irgendwie bist du ja auch unverletzt bis hierhin gekommen.“ Marc tastete nach der Tasche an Leonies Skianzug, in der Verena immer den Plastiksack versteckte. Er hatte nie verstanden, weshalb sie das tat, aber heute war er mehr als nur froh darum. Dann stellte er seine Tochter auf die Füsse und hievte sich selbst aus dem Schnee auf die Tasche. Obwohl er immer noch einsank, war die Aufliegefläche nun breit genug, um ohne grössere Komplikationen zwischen den Bäumen hindurch den Hang hinunterzukommen. Doch bevor sie loslegten, brannte Marc noch eine Frage auf der Zunge. „Leonie, warum warst du so sehr vom Schnee bedeckt?“

„Da war eine kleine Tanne im Weg. Die wollte nicht weg. Ich bin drüber gefahren und hingefallen und dann kam von oben ganz viel Schnee.“

Marc blickte nach oben und entdeckte direkt über sich eine riesige Tanne, mit einem komplett grünen Ast, der offensichtlich unter dem Gewicht des Schnees nachgegeben hatte und seine Last dann schlussendlich auf Leonie loswurde. Kopfschüttelnd zog Marc Leonie vor sich, deutete ihr an, nach hinten in die Hocke zu gehen, so dass die Skier aber noch Kontakt zum Schnee behielten. Auf diese Weise schob er sich mit ihr in Richtung Tal, die Zeit nutzend, sich gegen Verenas Donnerwetter zu wappnen.

 

 

Wenn die Wahrheit nicht ruht
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