1986

 

Entgegen Alinas Annahme war Ambros noch lange nicht weg. In sich zusammengesunken sass er auf der Bettkante. Wie hypnotisiert drehte er den Bolzenschneider in den Händen hin und her. Er wartete auf eine Reaktion, aber es kam keine. Schon längst hätte er etwas hören müssen. Die Nachricht müsste sich schneller als der Wind verbreiten. Doch es kam nichts.

Zum wiederholten Mal schaute er auf die Uhr an der Wand. Ihr lautes Ticken verriet, wie die Zeit verging und erinnerte gleichzeitig daran, dass sie langsam knapp wurde. Schwer atmete er aus, bevor er endlich einen Entschluss fasste.

Träge stand er auf und legte den Bolzenschneider auf das Bett. Er hätte auch ein Post-it hinterlassen können, befand aber diese kleine Nachricht für wesentlich wirkungsvoller. Ein leichtes Grinsen zuckte um seine Mundwinkel, als er daran dachte, wie die Leute wohl reagieren würden, wenn sie seinen kleinen Abschiedsgruss erhielten.

Während er an die unausweichlichen Folgen der letzten Nacht dachte, huschten ihm Bilder von schreienden, entsetzten Gesichtern durch den Kopf und wieder zuckten seine Mundwinkel. Nur, dass sich das Lachen diesmal nicht unterdrücken liess, weshalb er laut losprustete. Das hatte etwas derart Befreiendes, dass er den Groll über die bisher ausbleibende Reaktion vergass und beschwingt seine Tasche schulterte. Voller Elan, mit einem fröhlichen Lied auf den Lippen, steuerte er auf die Zimmertür zu.

 

Plötzlich verstummten die Stimmen. Neugierig äugte Alina um den Baumstamm herum und versuchte zu sehen, was der Grund dafür war. Als sie ihrer Meinung nach dorthin sah, wo die drei Männer gestanden hatten, waren da nur noch zwei. Und sie sahen genau in ihre Richtung. Erschrocken fuhr Alina zusammen und drehte sich instinktiv zurück, um sich fest an die Tanne zu pressen. So weit kam sie aber nicht. In der Hälfte der Bewegung sah sie sich plötzlich mit einem Augenpaar konfrontiert. Der Schrei blieb ihr in der Kehle stecken. Mit weit aufgerissenen Augen spürte sie knapp, wie jemand nach ihrem Handgelenk griff und sie aus dem Schutz der Tanne herauszerrte.

Wie gelähmt stolperte sie ohne die geringste Kontrolle über ihre Füsse demjenigen hinterher, der sie am Arm mit sich zog. Dann liess dieser sie derart abrupt los, dass sie auf den Knien landete und sich aufstützten musste, um nicht vollständig im Dreck zu landen. Erst, als ein entsetzlich schmerzhafter Schluchzer ihrer Kehle entrann, bemerkte sie, dass sie vergessen hatte zu atmen.

Ihr Kopf wog so schwer, doch schaffte sie es irgendwie ihn anzuheben. Kaum hatte sie es getan, bereute sie es. Sie sah sich direkt mit dem lieblosen, kalten Ausdruck ihres Vaters konfrontiert. Langsam dämmerte ihr, dass derjenige, der sie wie die Beute eines Jagdausfluges dem Jäger vorgeworfen hatte, ihr eigener Ehemann gewesen war. Auf einmal überkam sie das dringende Bedürfnis sich zu übergeben, doch ihr Magen gab nichts her ausser dem Geschmack von bitterer Abscheu.

„Wo ist er?“ Obwohl die Worte nicht laut ausgesprochen worden waren, hallten sie in Alinas Ohren wie das Donnern eines tosenden Gewitters wider.

Eine kleine Welle der Genugtuung strömte durch ihr Inneres. Sie wussten nicht, wo er war und ohne sie würden sie es auch nicht erfahren. Dieses kleine Gefühl der Macht spendete genug Kraft, um ihrem Ehemann zu trotzen. „Wen meinst du?“

„Das weisst du verdammt genau. Sag uns, wo Ambros ist, oder es wird dir noch leidtun.“

„Ach ja?“ Entschlossen rappelte sich Alina langsam auf. Dieses Gespräch konnte sie nicht aus einer derart unterwürfigen Position bestreiten. Was willst du tun? Wirst du mich verprügeln? So wie dein Freund“, jetzt wandte sie sich an ihren Vater, „es mit Ambros schon getan hat?“

„Das war eine dreckige Lüge und ein billiger Versuch, während seiner Verhaftung noch jemanden mit ins Elend zu stürzen. Moritz war unschuldig, und jetzt ist er tot. Was auch dein kleiner Freund zu verantworten hat.“

„Du lügst!“ Voller Inbrunst schleuderte sie ihm die Worte entgegen.

„Ach ja? Wenn er so unschuldig ist, wie du sagst, dann hat er nichts zu befürchten. Also kannst du uns seinen Aufenthaltsort mit gutem Gewissen anvertrauen. Erfahren werden wir ihn früher oder später sowieso. Siegessicher baute sich Jan breitbeinig, mit in die Seiten gestemmten Armen, vor Alina auf.

Neugierig darüber, was ihren Mann so sicher machte, dass er den Aufenthaltsort von Ambros erfahren würde, sah sich Alina um. Erst jetzt bemerkte sie, dass der Mann, der auch die Nachricht von dem angesägten Stahlseil überbracht hatte, tatsächlich nicht mehr da war. Mit Panik erfüllt sah sie flehend zu ihrem Vater. „Bitte nicht…“

„Sag uns wo er ist, dann können wir vielleicht etwas für ihn tun. Ansonsten kann ich für nichts garantieren.“

Tief im Innern wusste Alina, dass sie Ambros auf keinen Fall ziehen lassen würden, egal ob er die Seile manipuliert hatte oder nicht. Dennoch flüsterte ihr eine leise Stimme immer wieder zu: Was, wenn doch?

„Also, was ist?“ Ihr Mann wurde langsam ungeduldig. Aus eigener Erfahrung wusste, sie wie gefährlich das sein konnte. Er hatte zwar nie Hand an sie gelegt - dazu war er in seiner ganzen Dummheit doch zu klug - aber sie hatte schon einige Male mitansehen müssen, wie er jemanden verprügelte, nur, weil ihm etwas nicht schnell genug gegangen war. Also fasste sie einen Entschluss. „Er ist in St. Niklaus.“

„Ach ja? Ist er das? Ich frage mich, wie er nach der gestrigen Nacht noch dorthin zurückgekommen sein soll. Der war sturzhageldicht.“

„Wenn er so betrunken war, wie hätte er dann die Seile manipulieren sollen, ohne sich zu verletzen und ohne entdeckt zu werden?“ Woher sie die Kraft nahm, sich gegen ihren Vater und Jan zu stellen, war ihr nicht ganz klar. Doch trat sie sogar noch einen Schritt auf Hans zu und funkelte ihn herausfordernd an.

Soso, wir haben also wirklich gelauscht, nicht wahr? Pass auf, dass du dich nicht zu weit aus dem Fenster lehnst, nicht, dass du noch fällst. Bedrohlich leise sprach Hans die Worte aus, bevor er Jan ein Zeichen gab.

„Nimm sie mit, aber halte nur ihre Hand um sie in Schach zu halten. Wir dürfen keine Aufmerksamkeit erregen.“

Dieser Kommentar war eigentlich überflüssig. Überall, wo Hans auftauchte, erregte er Aufmerksamkeit. Aber seine autoritäre Ausstrahlung sorgte meist dafür, dass ihn niemand direkt anzusprechen wagte.

Alina spielte das Spiel nur widerwillig mit. Ihrer Meinung nach kamen sie zu schnell vorwärts. Es war ihr auch egal, was die Leute dachten. Aber sie wollte sicherstellen, dass Ambros heil davon gekommen war, also hielt sie sich an die Rolle des lieben Frauchens. Vorerst zumindest.

 

Ambros zog die Tür auf und trat in den Korridor, als auf einmal ein Tumult losbrach. Der Lärm schien von der Rezeption zu kommen und gründlich für Aufregung zu sorgen. Endlich, dachte Ambros bei sich und setzte seinen Weg beschwingt fort. Bevor sie wussten, wo er sich aufhielt, würde er schon lange über alle Berge sein. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Dennoch zügelte er sein Tempo, als er auf dem untersten Treppenabsatz ankam. Etwas gemächlicher trottete er an die Rezeption. Erstaunt stellte er fest, dass sie nicht besetzt war. Kurz überlegte er sich, dass dieser Umstand nicht einmal so übel war. Zwar hätte er gerne darüber geplaudert, was gerade eben für solchen Aufruhr gesorgt hatte, kam dann aber zum Schluss, dass die in dem Raum herrschende Menschenleere seinen Abgang eigentlich nur erleichterte. Also steuerte er leichthin auf die Theke zu und deponierte seinen Schüssel. Gerade, als der Anhänger das hochglanzpolierte Holz berührte, flog die Tür zum Speisesaal auf und prallte mit einem lauten Knall an die Wand.

Erschrocken liess Ambros von dem Schlüssel ab und sah auf. In dem Augenblick, als sich die Blicke trafen, waren beide Männer mindestens gleichermassen überrascht den anderen zu sehen. Vom Erkennen bis zum Reagieren bedurfte es nur den Bruchteil einer Sekunde. Ambros wandte sich ab und rannte los.

 

Zur selben Zeit wurde Alina immer nervöser. Eigentlich hatte sie gehofft, ihr Vater würde einen anderen Weg einschlagen, doch diesen Gefallen tat er ihr nicht. Schnellstmöglich wollte sie an den Häusern, die sie jetzt erreichten, vorbeigehen. Doch mit aller Kraft unterdrückte sie den Drang, ihren Schritt zu beschleunigen.

Und dann geschah, was sie hatte vermeiden wollen. Aus dem Augenwinkel nahm sie erst eine schnelle Bewegung wahr. Instinktiv wandte sie den Kopf in die entsprechende Richtung. Kurz dachte sie, sie wäre die einzige, die es bemerkt hatte, doch gleich auf die Bewegung folgte ein Geräusch. In der Hoffnung, die Veränderung der Situation schneller erfasst zu haben als die anderen begann sie sich wild gegen den eisernen Griff ihres Ehemannes zu wehren. Mit dem ganzen Körper zerrte und riss sie, so dass Jan nicht umhin kam, sie um die Taille zu packen, wenn sie ihm nicht entgleiten sollte. Daraufhin liess es sich Alina nicht nehmen, laut zu schreien. Ihr Kampf hatte die gewünschte Wirkung. Alles schaute nur auf sie, auch ihr Vater.

„Lass mich los!“ Es kam ihr vor, als würde sie neben sich stehen. Sie dachte nicht nach, spürte keine Anstrengung, fürchtete keine Folgen. Sie funktionierte einfach nur. Aber das machte sie gut. Jan liess nicht von ihr ab, auch nicht, als sie zu kratzen und zu beissen begann.

Hans trat ebenfalls auf sie zu. Den umstehenden Leuten erklärte er, sie habe in letzter Zeit immer wieder solche Anfälle, aber auch die Ärzte wüssten keinen Rat. Diese Aussage hatte die gewünschte Wirkung. Sofort traten die Menschen ängstlich einen Schritt zurück. Manche gingen ganz weg. Hans empfand es von Zeit zu Zeit als ganz nützlich, dass gewisse Bewohner ihre Gottesfürchtigkeit noch nicht ganz abgelegt hatten. So konnte er auch jetzt das Verhalten seiner Tochter ohne weiteres zu seinen Gunsten ummünzen, indem er lediglich mit ein paar wenigen Worten den Neugierigen suggerierte, sie sei vom Teufel besessen.

Alina war das egal. Sie hörte nur zum Teil hin und tobte weiter. Ihre Gedanken waren inzwischen ganz woanders. Und für einen kurzen, unachtsamen Moment sahen ihre Augen dorthin, wo ihre Gedanken waren. Dieser kurze verbotene Blick entging jedem - nur nicht ihrem Vater. Dieser hatte schnell begriffen. Schneller noch, als Alina selbst ihre kleine Unachtsamkeit bemerkt hatte. Sie sah zu ihrem Vater. Dessen Gesichtausdruck war hart und konzentriert.

Hans steuerte auf Jan zu und bedeutete ihm, Alina loszulassen. Dann zeigte er dorthin, wo Alina zuvor hingeschaut hatte. Schliesslich flüsterte er Jan einen kurzen Befehl ins Ohr, woraufhin dieser gehorsam losrannte. Währenddessen hatte Alina ihr Ablenkungsmanöver aufgegeben und schaute der Szene gebannt zu. Was nach ihrem Theater auf sie selbst zukommen würde, daran mochte sie noch nicht denken. Ihre ganze Energie lag nun auf nur einem Wunsch: Inständig hoffte sie, keiner der Verfolger würde Ambros einholen, vor allem nicht Jan.

 

 

Wenn die Wahrheit nicht ruht
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