2010
„Sebastian?“ Sascha stand breitbeinig über einem Stapel mit Weinkisten, um dahinter spähen zu können. Zwischen Schulter und Ohr klemmte noch das iPhone, während er mit den Händen eine Kiste mit Putzutensilien jonglierte. „Sebastian!“
„Mensch, wenn du in dieser Tonlage weiter machst, können dich nur noch Hunde verstehen.“ Lässig die Hände in seine Jeans eingehakt, schlenderte Sebastian in den Lagerraum. Als er Saschas Zirkusnummer sah, die definitiv zu scheitern drohte, beschleunigte er sein Tempo. Gerade noch rechtzeitig konnte er ihm die Kiste aus der Hand nehmen, so dass das unter dem Ohr wegrutschende Telefon sicher in Saschas Händen landen konnte. „Wenn du damit die Mädels beeindrucken willst, musst du noch ein bisschen üben. Und das Material für die Hände würde ich ebenfalls überdenken.“ Naserümpfend blickte er auf den schmutzigen Lappen, der unter allerlei Bürsten und Schwämmen hervorlugte.
„Ich seh’ schon, du sprühst mal wieder vor Witz. Vielleicht suchst du dir für deine Komikereinlage andere Zuschauer. Solche, die es witzig finden, wären ganz gut. Möglicherweise wirst du in Brig fündig?“ Auffordernd blickte Sascha sein Gegenüber an, genau wissend, dass er die Doppeldeutigkeit seiner Aussage verstanden hatte.
Sebastian kniff die Augen zusammen und bedachte seinen Freund mit einem finsteren Blick. „Lass mich raten. Deine Glasbruchversicherung für das Display deines Telefons hätte sich beinahe ausgezahlt, weil Pablo dich angerufen hat, um dich über den eingetroffenen Nachschub zu informieren.“
„Du kannst Gedanken lesen. Wenn auch nur zur Hälfte.“ Sascha zwinkerte ihm fröhlich zu, während Sebastian sich überlegte, wann dieser es endlich satt haben würde, ihn mit dieser alten Geschichte aufzuziehen.
„Na dann los.“
„Ich kann nicht mitkommen. Aber ich habe Leonie angerufen. Praktischerweise ist sie bereits in Brig. Sie wird dir beim Aufladen helfen.“
„Das hat mir gerade noch gefehlt. Wenn du Angela siehst, sag ihr, ich werde ihr das hübsche Lästermäulchen stopfen, sobald ich zurück bin.“
Sascha gab sich keine Mühe, sich das Grinsen zu verkneifen.
„Das ganze scheint dich ja unheimlich zu amüsieren.“
„Glaube mir, das tut es, und wie!“ Er zog den Schlüssel des blauen Lieferwagens aus seiner weissen Hose und warf ihn Sebastian zu. Wenig begeistert machte dieser sich anschliessend auf den Weg ins Tal.
Tatsächlich wartete Leonie bereits bei Pablo. Mit einer Tasse Kaffee in der Hand, auf dem gross das Emblem von Ferrari prangte, lehnte sie an ein weisses Ding, das sie wahrscheinlich Auto nannte, und plauderte angeregt mit dem Chef persönlich. Sebastian konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal von Pablo einen Kaffee erhalten hatte. Er kam zum Schluss, dass die fehlende Erinnerung damit zu begründen war, noch nie einen Kaffee von Pablo angeboten erhalten zu haben. Dafür musste man wohl eine Frau sein. Typisch. Missmutig trat er dazu und schob seine Manieren beiseite. „Können wir?“
„Versuch das nächste Mal mit einer Begrüssung zu beginnen. Du wirst sehen, das kommt echt gut an.“ Leonie stiess sich von ihrem Auto ab, funkelte Sebastian wütend an, entwendete ihm den Autoschlüssel, wandte sich an Pablo und drückte ihm mit einem betörenden Lächeln die Tasse in die Finger. Dann stapfte sie an Sebastian vorbei zu der bereitstehenden Palette.
„Wow, die mag dich.“
„Schmink dir dein Grinsen ab, Pablo, und pack mit an.“ Die beiden Männer folgten Leonie und begannen ihr beim Beladen des Lieferwagens zu helfen, als eine zierliche Frau mit dichten schwarzen Locken und Wespentaille, die sie in einem engen, gelben Pullover zur Schau stellte, aus Pablos Büro trat. „Wusste ich doch, dass ich dich gehört habe!“ Die Schwarzhaarige trat auf Sebastian zu, stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen einzigen Kuss auf die Wange. „Na, mein Schöner, wie geht es dir?“
„Seit du aufgetaucht bist, ganz hervorragend.“ Sebastian schien wie ausgewechselt. Mit einem charmanten Lächeln auf den Lippen, das den Riedgletscher noch schneller schmelzen liess, legte er locker den Arm um die kleine Schwarzhaarige. Sie wiederum schlang ihre Arme um Sebastian und bezirzte ihn mit dem Schlag ihrer vollen schwarzen Wimpern. Sie wirkten wie zwei frisch Verliebte.
So hatte Leonie ihn noch nie erlebt. Dieser spielerisch vertraute Umgang löste in ihr etwas aus, das sie nicht zuordnen konnte. „Sag mal, haben die was miteinander?“
Pablo folgte Leonies Blick und musste lächeln. „Zum Glück nicht mehr. Das ist schon lange her. Die Funken fliegen zwar heute noch, aber sie sind soweit abgekühlt, dass es nur noch ein freundschaftliches Spiel ist. Vor allem, um mich zu ärgern. Das da ist nämlich meine kleine Schwester und die beiden wissen genau, dass ich es nicht ausstehen kann, wenn einer meiner Schwester zu nahe kommt.“
„Das wird ihn wohl kaum abhalten“, murmelte Leonie vor sich hin und hievte ein weiteres Packet in den Lieferwagen. Etwas lauter fügte sie dann an: „Aber wir sind sowieso nicht hier um zu flirten, sondern um zu arbeiten.“
Sebastian und die kleine Schwarzhaarige sahen gleichzeitig zu Leonie.
„Du hast es gehört.“ Mit einem bedauernden Ausdruck in den Augen liess die Frau ihn los, aber nicht, ohne ihm einen Abschiedskuss zu geben.
„Bis zum nächsten Mal, mein Schöner.“ Damit wandte sich die Frau ab, schaute noch einmal zu Leonie hinüber und verschwand wieder in Pablos Büro.
„Deine Schwester ist immer noch ziemlich heiss. Vielleicht sollte ich sie doch noch einmal ausführen.“ Sebastian quittierte Pablos vernichtenden Blick mit einem frechen Grinsen. Dann machten sich beide wieder daran, Leonie unter die Arme zu greifen, die bemüht war, den Anflug von Neid auf Pablos kleine Schwester zu ignorieren.
Es dauerte nicht lange, bis die letzte Flasche ihren Platz gefunden hatte und Sebastian die Türen des Wagens schliessen konnte.
„Na dann“, Sebastian drückte Pablo die Hand, „danke und bis zum nächsten Mal.“ Leonie nickte er kurz zu und wandte sich an die Führerkabine.
„Nicht so schnell mein Lieber. Ich komme mit.“
Ein Fuss war bereits im Wagen drin, als er innehielt und den Kopf hängen liess. Ohne sich umzudrehen fragte er: „Du hast doch ein Auto. Oder ist dieses Ei etwa nicht deines?“
„Doch. Und weil Pablos Frau gerne einmal eine Spritztour mit einem derart süssen Auto, wie sie es zu nennen pflegt, machen würde, haben Pablo und ich spontan beschlossen, ihr eine Freude zu bereiten.“
„Du kennst sie doch überhaupt nicht und Pablo kann sich dieses Raffaello auch mieten.“
„Tu ich nicht und könnte er. Wird er aber nicht, er kriegt meins. Sie bringen es mir morgen zurück ins Dorf, denn sie verbinden es mit einem Skiausflug, weil Pablo es nämlich wieder einmal an der Zeit findet, die Geduld seiner Frau mit einem Wohlfühlprogramm zu würdigen.“
„Pablo kann nicht Autofahren und seine Frau noch weniger. Du weisst, wie sich der Weg nach Grächen gestaltet. Stell dir bitte die Katastrophe vor!“ Inzwischen hatte sich Sebastian hinters Steuer gesetzt.
„Ovalium ist gutmütig und kennt den Weg.“ Leonie marschierte entschlossen um den Lieferwagen herum, warf Pablo den Schlüssel ihres Autos zu, schickte einen Handkuss hinterher und stieg ein. Sebastian verdrehte die Augen, sah aber ein, dass er verloren hatte. Er startete den Motor, setzte zurück und fädelte dann in den Verkehr ein. Eigentlich hatte er sich vorgenommen sie zu ignorieren. Sie jedoch schien es darauf anzulegen, ihm ihre Anwesenheit wörtlich unter die Nase zu reiben. Obwohl sie schwieg, nahm er ihre Anwesenheit überdeutlich wahr. Der Duft ihrer Haare stieg ihm in die Nase, aus dem Augenwinkel sah er ihre Hand mit den schlanken, langen Fingern auf dem Knie ruhen, welches in eine hautenge Jeans eingepackt war. Als dann auch noch ‚Sex On Fire’ aus dem Radio dröhnte, hielt er es nicht mehr aus. Besser zur Ablenkung mit ihr zu sprechen als seiner Fantasie die Grenzen zu öffnen.
„Ovalium?“
„Jep. Mein Cinquecento ist ein Ei, also oval und nicht unbedingt der Schnellste. Fast so, als gäbe ich ihm ab und an ein Valium in den Tank. Das ergibt zusammen Ovalium.“
Jetzt musste sogar er grinsen.
„Oh, warte! Halt bitte an!“ Aus Reflex legte sie eine Hand auf seinen Arm. Während sie sie wegzog, als hätte sie sich verbrannt, fühlte sich die Stelle auf seinem Arm exakt genauso an.
„Was? Was ist?“
„Ich habe Lust auf Schokolade.“
„Das ist jetzt nicht dein Ernst. Ich halte nicht an wegen Schokolade. Die gibt es auch bei uns.“
„Hast du auf die Uhr gesehen? In der Bar haben wir keine und die Läden haben geschlossen, bis wir oben sind.“
Da musste er ihr allerdings Recht geben. „Der Automat bei der Post?“
„Ach bitte, nur kurz an die Tankstelle. Ich bin auch gleich wieder da.“
Beim Wort Tankstelle warf Sebastian ganz automatisch einen Blick auf die Tankanzeige im Auto. „Mist. Könnte sein, dass du uns soeben vor dem Schieben bewahrt hast.“
Leonie folgte seinem Blick und kam nicht umhin, spöttisch zu lächeln. „Hat Sascha nichts gesagt?“ Sebastian schüttelte mit zusammengepressten Lippen den Kopf, setzte den Blinker und fuhr an die Zapfsäule. „Dann hat er es wohl vergessen.“ Daran glaubte Sebastian allerdings nicht, aber er hütete sich, Leonie etwas von seinem Verdacht zu sagen.
Angela trat in die Bar und war mehr als verwundert, nur Sascha vorzufinden. „Wo sind die anderen?“
Sascha, der am Mischpult zugange war, zuckte etwas zusammen, denn er hatte Angelas Eintreten nicht bemerkt. „Die sind bei Pablo.“
„Pablo? Um diese Zeit? Sascha Bernard Schneider, was hast du angerichtet?“
Wieder zuckte er zusammen. Angela nannte ihn nur bei seinem vollen Namen, wenn ihre Mami-Sensoren Ungezogenheit orteten. „Du hast doch erwähnt, dass es kräftig gefunkt hat, sie sich aber seither nicht mehr ansehen können.“ Eingeschüchtert verstummte er unter ihrem strengen Blick.
„Also schickst du sie los, bei Pablo die neuen Getränke zu holen?“
„Nicht ganz. Du warst noch nicht da und Leonie hatte den Tag bereits in Brig verbracht, also habe ich sie um Hilfe gebeten. Ist doch naheliegend!“
„Ja, natürlich.“ Angela sah ihn ungläubig an.
„Ich will doch nur, dass er wieder in den Sattel kommt. Die Geschichte mit Julia ist jetzt schon so lange her und es scheint, als hätte ich endlich eine erwischt, bei der es klappen könnte.“
Angela glaubte, sich verhört zu haben. „Was willst du damit sagen? Deutest du etwa an, dass all die sexy Bardamen nur dem Zweck gedient haben, Sebastian über Julia hinwegzubringen?“
„Moment, bei dir klingt das wesentlich abschätziger, als es gedacht war. Es ging mehr darum, ihn mit schönen Frauen, die leicht zu haben waren, ins Bett zu bringen. Denn während bei euch Frauen Berge von Schokolade gegen Liebeskummer zum Einsatz kommen, hilft bei Männern am besten eine Unmenge bedeutungsloser Sex.“
Es dauerte einen Moment, bis Angela ihren Lachanfall unter Kontrolle gebracht hatte. „Okay, aber ich hätte da noch zwei Fragen. Erstens: Warum bist dann immer du mit ihnen im Bett gelandet?“
„Irgendeiner musste es ja tun, nachdem Sebastian sie immer abblitzen liess. Ich bin jung und gesund und vor allem nicht so blind gegen die weiblichen Vorzüge, wie es mein Freund zu sein scheint. Frage zwei?“
„Hast du ihm gesagt, dass der Tank des Lasters so gut wie leer ist?“
Sie brauchte keine Antwort. Saschas Unschuldsmiene sagte ihr alles.
Vollbepackt mit Nussschokolade kehrte Leonie zum Auto zurück. Sebastian hingegen hatte gerade den Tankdeckel geschlossen und machte sich auf den Weg dorthin, woher Leonie gerade gekommen war. Darüber nachgrübelnd, wo ihr Körper diesen ganzen Zucker versteckte, prallte er an der Tür zum Shop beinahe mit einem anderen Kunden zusammen. Mit entschuldigenden Worten richteten die Beinahe-Verunfallten die Blicke auf das jeweilige Gegenüber - und verstummten.
Interessiert beobachtete Leonie die Szene und schob sich ein Stück Schokolade nach dem anderen in den Mund. Zu ihrer Enttäuschung musste sie feststellen, dass nur noch wenige leise Worte gewechselt wurden, bevor beide eiligst in entgegengesetzte Richtungen eilten. Da Sebastian aber anschliessend mit versteinertem Gesicht und zusammengebissenen Zähnen den Platz neben ihr wieder einnahm, hegte sie keinen Zweifel mehr daran, dass diese zierliche Frau mit den schön geschwungenen Lippen und dem kessen Kurzhaarschnitt keine Unbekannte für ihn war. Der Blick in seinen Augen, den Leonie knapp erhaschen konnte, sagte mehr als tausend Worte. Es waren Wut und bittere Enttäuschung, die sich darin spiegelten.
Sie wartete, bis er wieder auf der Strasse war. Er fuhr in den Kreisel und schnitt einen anderen Automobilisten. Aber anstatt sich zu entschuldigen, hupte er, fluchte und verwarf die Hände. Dieses Verhalten verunsicherte Leonie etwas. Auf einmal war sie sich selbst zu liebe nicht mehr so sicher, ob sie ihn wirklich auf diese Frau ansprechen sollte und entschied sich dafür, ihn sowenig wie möglich zu bedrängen und dabei doch Preis zu geben, dass sie etwas bemerkt hatte.
„Willst du darüber reden?“
Keine Antwort. Den Wagen mit grimmiger Miene weiter die kurvenreiche Strasse hinaufjagend, klammerte er sich fester an das Lenkrad. Kurz äugte Leonie aus dem Fenster und bereute es sofort. Der Abgrund zu ihrer Rechten schien näher zu sein als unbedingt nötig. Wider Erwarten kamen sie aber heil oben an, ohne auch nur ein Wort verloren zu haben. Sebastian parkte den Wagen hinter dem Lager und begann, ihn zu entladen. Die Bar hatte bereits geöffnet, aber beide verliessen sich darauf, dass Sascha und Angela alles im Griff hatten. Leonie ging davon aus, dass das Auto problemlos erst am nächsten Tag hätte ausgeräumt werden können, aber es schien, als bräuchte Sebastian diese grobe, schwere Arbeit, um sich abzureagieren und zu beruhigen. Alleine lassen wollte sie ihn in diesem Zustand aber auch nicht. Also ging sie ihm einfach zur Hand.
„Ihr Name ist Julia.“ Leonie hob nur kurz den Kopf, um Sebastian zu signalisieren, dass sie zuhörte, schnappte sich dann aber bereits die nächste Kiste.
„Sie hat hier vor vier Jahren ihre Winterferien verbracht. Zum ersten Mal begegnet sind wir uns am Treffpunkt der Skischule. Josh hatte sie in seiner Gruppe, aber nach dem Unterricht trafen wir uns gerne noch in der Bar bei der Talstation der Hannigalpbahn. Wie das eben so ist, schlossen sich die aprèsskiwütigen Schüler gerne an. Also ergab sich die Gelegenheit zu plaudern.“ Er hob eine ziemlich schwer aussehende, sperrige Holzkiste aus dem Lieferwagen und stellte sie an ihren Platz im Lager. „Tja, daraus wurden dann handfeste Lippenbekenntnisse und am Ende habe ich Josh erklärt, sie wäre jetzt meine Privatschülerin. Für ihn war das natürlich in Ordnung. Die zwei Wochen vergingen wie im Flug und schliesslich musste ich sie wieder gehen lassen. Anfangs dachte ich, das wäre kein Problem, denn ich nutzte damals ohne Wenn und Aber noch absolut alle Vorzüge eines Skilehrers aus, vor allem die Anziehungskraft auf Frauen. Aber bei ihr war es anders. Sie fehlte mir. Und ihr schien es genauso zu gehen. Weitere zwei Wochen später stand sie mit Sack und Pack vor meiner Tür. Sie erklärte mir, sie habe in der Bar in Basel gekündigt und bereits mit Sascha über einen Arbeitsvertrag gesprochen. Es fehle nur noch mein Einverständnis. Natürlich fiel ich aus allen Wolken, konnte mir aber nichts Schöneres vorstellen. Das gemeinsame Leben nahm seinen Lauf und der Alltag kehrte ein. Bald wusste jeder männliche Gast mehr über sie, als ich. Aber natürlich wusste keiner über mich Bescheid. Das gab mir zu denken. Schlussendlich kam sie dann nach einer langen Arbeitsnacht nach Hause und offenbarte mir, sie wolle nach Australien, um dort eine eigene Bar zu eröffnen. Sie hätte ein total angeregtes Gespräch mit einem Typen gehabt, der einige Zeit in Australien verbracht hatte und nun diesen Traum verfolgen würde. Dann erklärte sie, dass dies doch die Gelegenheit wäre, aus dieser Arschkälte rauszukommen und ein gemeinsames Leben mit Sonne, Strand und Meer zu beginnen. Gäbe es denn etwas Schöneres? Wiederum der Fall aus allen Wolken. Ich wusste nicht einmal, dass sie aus Grächen weg wollte, geschweige denn aus der Schweiz. Du kannst dir vorstellen, was dann kam. Ich wehrte mich, erklärte sie für verrückt und sie packte ihre Sachen ohne mich. Dann folgte wohl aus Trotz ein One-Night-Stand mit Sascha auf dem Rücksitz meines Autos, bevor dieser Crocodile Dundee-Verschnitt aus der Bar sie dann in seinen VW-Bus einlud und los cruiste. Die Moral von der Geschichte: Sie schaffte es genau bis nach Brig, aber zurück zu mir kam sie dennoch nicht. Das war vor zwei Jahren. Seither hat Sascha Sommer wie Winter immer neue Saisonarbeiterinnen im Angebot.“
Inzwischen war der Lieferwagen leer und sie hockten im Lager auf zwei umgedrehten Harrassen.
„Und du hast sie alle verachtet, während Sascha immer noch dein Freund ist. Meinst du nicht, Sascha wollte dir damit einen Gefallen tun? Er setzt dir hübsche Mädels vor die Nase, die nur zu bereit für ein wenig Spass sind. Das klingt für mich nach Therapie.“
„Therapie?“
„Jawohl. Mir hat mal ein Mann gesagt, bedeutungsloser Sex tröstet über jeden Schmerz hinweg.“
„Da bin ich anderer Meinung. Er betäubt ihn nur. Lässt die Betäubung nach, kehrt der Schmerz mit voller Wucht zurück.“
„Deshalb hast du also alle abgewiesen. Wenn ich mir das genauer überlege, kann ich dich verstehen. Wie nervtötend muss es sein, wenn einem Frauen Honig um den Bart schmieren, deren Qualitäten nicht im Denken, sondern im Gutaussehen und Vögeln liegen. Kann Mann nichts damit anfangen, sind Umgarnungsversuche solcher Weiber sicher anstrengend.“
„Jetzt wirst du unfair. Sie hatten auch ein anderes Talent. Ausnahmslos alle waren tolle Barkeeperinnen.“
Leonie musste schmunzeln. „Hat dich denn wirklich keine einzige auch nur ein bisschen gereizt?“
Sebastian betrachtete erst den Boden zwischen seinen Füssen, dann hob er den Kopf und fixierte Leonies Augen. „Doch. Eine gibt es.“
Ein aufregendes Kribbeln durchzog Leonie. Angefangen vom Haaransatz bis hin zum kleinen Zeh. Ihre Kehle wurde trocken und sie musste schwer schlucken. Es war beinahe eine Qual seinem Blick standzuhalten, während die grünen Sprenkel in seinen unergründlichen honigbraunen Augen so geheimnisvoll aufglommen. Nur mit grösster Mühe fand sie ihre Sprache wieder, die Stimme zu beherrschen kostete sie Kraft. Aber was sie noch mehr Kraft kostete, war ihre Reaktion auf diese vier schlichten Worte. Wie oft hatte sie sich schon in solchen Situationen befunden? Avancen erhalten und mit dem Feuer gespielt? Unmengen an verheissungsvollen Flirts hatte sie bereits geführt, nicht wenige davon hielten am Ende auch, was sie versprachen. Sie beherrschte diese Kunst bis ins kleinste Detail. Aber nie, niemals, hatte sie derart weiche Knie bekommen. „Nun, es ist zwei Jahre her. Möglicherweise hast du genug gelitten.“
„Möglicherweise.“ Es war nur noch ein raues Flüstern. Sich vorsichtig herantastend beugte Sebastian sich langsam vor, bis er so nahe an Leonies Gesicht war, dass sie seinen Atem auf ihren Lippen spüren konnte. Beide sahen sich unverwandt an. Die Luft brannte förmlich durch das Verlangen, die letzte winzige Distanz auch noch zu überbrücken. Er legte sanft seine Hand auf ihre Wange und liess sie dann zu ihrem Hals gleiten. Als er ihr mit den Fingerspitzen über ihr Schlüsselbein strich, erschauerte sie. Sie wollte mehr. Gleichzeitig wollte sie aber auch erfahren, was er weiter tun würde. Also hielt sie sich zurück. Sie erlaubte sich nur, in einer federleichten Berührung sein Bein und seinen Unterarm zu berühren. Überall wo ihre Finger ihn trafen, schien seine Haut zu glühen. Er wollte sie. Und wie er sie wollte.
Mit der anderen Hand strich er ihr das Haar aus der Stirn, bis hinter die Ohren, und liess sie weiter in ihren Nacken gleiten. Dann sorgte er mit leichtem Druck dafür, dass sie ihren Kopf ein wenig anhob, damit er sich ihr Gesicht noch einmal genau ansehen konnte. In ihren Augen konnte er lesen, was er selbst fühlte. Reine Lust. Pures Begehren. Und schliesslich gab er nach und liess sich gehen. Er schloss die Augen, senkte den Kopf über ihren Mund und umschloss ihn mit dem Seinen.
Der Kuss wirkte wie eine Befreiung. Neckisch zog er sich wieder ein kleines Stück zurück und strich mit seinen Lippen in einer kaum spürbaren Bewegung über ihren Mund. Ihr entglitt ein tiefes Seufzen, bevor sie die Augen öffnete. Sie schimmerten dunkelgrün und ihr Blick wirkte wie aus einer anderen Welt. Als hätte sie gesehen, was sie sehen wollte, schloss sie die Augen wieder und führte das fort, was er begonnen hatte. Sie knabberte an seinen Lippen, wanderte den Kiefer entlang weiter zu seinem Ohr und begann verführerisch das Ohrläppchen mit der Zunge zu kitzeln. Während ihr Atem hauchzart die empfindliche Haut an seinem Ohr streichelte, wurde sein eigener Atem immer schwerer, bis er es nicht mehr aushielt.
Mit einem Ruck stand er auf und zog sie an den Schultern mit in die Höhe. Sie reagierte prompt. Die Hände liess sie seinen kräftigen breiten Rücken hinuntergleiten, bis sie den Saum seines Pullovers zu fassen bekam. Mit einem Ruck zog sie ihn aus. Dass darunter trotz der Kälte draussen bereits die nackte Brust zum Vorschein kam, wunderte sie nicht weiter. Begierig darauf, seine warme Haut unter ihren Fingern zu spüren, liess sie ihre Hände erst über die Schultern zur Taille, dann entlang seines Hosenbundes nach vorne wandern. Sie fand den Verschluss und öffnete geschickt die einzelnen Knöpfe der Jeans. Er hatte sie gewähren lassen und die Berührungen genossen, doch als sie ihre Hand immer tiefer schob, meinte er zu zerspringen. Hastig machte er sich an ihrem Hemd zu schaffen, zog es aus ihrer Hose und schob es nach oben und über ihren Kopf. Die Mühe, den BH zu öffnen, machte er sich gar nicht erst. Er zog den oberen Rand der Körbchen nach unten und strich mit den Daumen über die empfindlichste Stelle. Als Reaktion stöhnte sie auf und warf den Kopf nach hinten. So gab sie ihm den Hals frei, was er sofort ausnutzte. Er schlang die Arme um sie und zog sie fest an sich. Er wollte, nein, er musste, ihre Haut auf seiner spüren. Sicher in seiner Umarmung aufgehoben, gab sie sich seinem forschenden Mund hin. Den Hals hinunter bis zur Schulter. Das Schlüsselbein entlang bis zu ihrem Brustansatz. Dann erst hakte er ihren BH auf und machte mit der Zunge dort weiter, wo er mit den Daumen aufgehört hatte. Seine Hände beschäftigten sich indes mit dem Öffnen ihrer Hose, die er ihr über die Hüften schob. Während er sie mit einem Arm wiederum zärtlich umschloss, liess er seine andere Hand zwischen ihre Schenkel gleiten. Und ohne, dass sie etwas hätte tun können, wurde sie hinweggespült. Sie hatte die Berührung kaum gespürt, als sie die Woge unbändiger Leidenschaft einfach hinfort riss. Ob sie schrie, wusste sie nicht, aber ihr war unbestritten danach.
Dennoch war es nicht genug. Sie wollte ihn ganz. Also streifte sie die Kleidung vollständig ab, fasste ihn am Nacken und zog ihn in den Schutz der Kisten zu Boden. Dann schlang sie unmissverständlich ihre Beine um seine Taille, hob ihm das Becken entgegen und nahm ihn in sich auf. Der gemeinsame Rhythmus war schnell gefunden, genauso wie die neue Welle der Befriedigung, die gleich einer Sturmflut über sie beide hereinbrach.
Sie lösten sich nicht sofort von einander, sondern liessen sich gegenseitig zur Ruhe kommen, bevor sich Sebastian dann auf seine Arme stützte und auf Leonie hinunterblickte. „Du hattest Recht. Es war tatsächlich Zeit dem Leiden ein Ende zu setzen.“ Er hauchte einen Kuss auf ihre Nasenspitze, dann stand er auf und machte sich auf die Suche nach seiner Hose. Leonie rollte sich auf die Seite und stützte sich auf den Ellbogen. Etwas schläfrig sah sie ihm nach und bewunderte seine ausgeprägte Schultermuskulatur. Allgemein musste sie feststellen, dass dieser Typ nicht ganz ohne war. Nicht nur, dass er ihr soeben im Lager ihres Arbeitsplatzes eines der besten erotischen Erlebnisse ihres bisherigen Lebens beschert hatte, sie ertappte sich auch dabei, wie sie genau die Eigenschaften, die sie noch vor nicht allzu langer Zeit verflucht hatte, ungeheuer sexy fand.
„Ja, ich denke diese Therapiestunde war ganz gut.“
Er warf ihr einen amüsierten Blick zu. „Ganz gut?“
„Dafür, dass es die erste war, schon. Oder glaubst du etwa, du wärst schon geheilt?“ Augenzwinkernd rollte sie sich auf den Bauch und erhob sich.
„Du möchtest einen Nachschlag?“ Er streifte den Pulli über und trat auf sie zu.
„Wenn du das sagst, klingt es nach Vergnügen, aber ich betrachte es als meine Aufgabe, dich zu heilen und solch ein Prozess ist harte Arbeit.“
Inzwischen standen sie wieder vollkommen angekleidet direkt voreinander und schauten sich herausfordernd an. Dass er auf sie herabsehen konnte, weil sie trotz ihrer Grösse ein ganzes Stück kleiner war als er, animierte sie nur noch mehr. Er streckte schon die Hand nach ihrer Taille aus, als plötzlich ein lautes Knacken zu vernehmen war. Erschrocken stoben die beiden auseinander. Gleichzeitig öffnete sich die Tür des Lagers.
„Sören!“ Leonies Stimme klang schriller als gewünscht. Wie ein ertapptes Schulmädchen zupfte sie an ihrem zerzausten Haar herum, in der Hoffnung, dass man nichts von ihrem unzüchtigen Verhalten bemerken möge. Sebastian machte in etwa den ähnlichen Eindruck, nur dass es ihm, nachdem er Sören erkannt hatte, überhaupt nicht mehr darum war, etwas zu vertuschen. Sören liess den Blick von Leonie zu Sebastian und wieder zurück wandern. „Habe ich euch bei etwas gestört?“
„Oh, nein, nein, wir haben nur den Lieferwagen aus- und das Lager dann aufgeräumt. Aber wir sind fertig. Nicht war?“ Nach Zustimmung heischend sah sie zu Sebastian.
„Klar. Wir sind fertig.“ Noch einmal blickte er sie an und räumte dann das Feld.
Ihr schlechtes Gewissen herunterschluckend sah sie ihm noch kurz nach, bevor sie sich an Sören wandte. „Also, was treibt dich her?“
„Ich habe da etwas in Erfahrung gebracht, das dich interessieren dürfte.“
Mit einem Schlag war die wohlige Leichtigkeit wie weggeblasen und Leonies Kopf wieder klar. Bereitwillig liess sie sich von Sören wegführen.