1986
Die Bemühungen sollten umsonst bleiben. Die Tage zogen ins Land, aber Josef blieb verschwunden.
„Und?“ Hans sah von seiner Zeitung auf, als sich ein Schatten über den Tisch legte.
„Tja, wieder ein Tag vorbei und kein Josef weit und breit. Was soll ich sagen, es ist einfach tragisch.“ Kopfschüttelnd setzte sich Moritz Amstutz an den Tisch und goss sich sogleich ein Glas Weisswein ein.
„Das ist wirklich übel. Er war zwar ein Idiot uns zu drohen, aber sonst war er ein guter Kerl.“
„Kann man wohl sagen. Die arme Marlene. Meinst du, sie kommt darüber hinweg?“
„Wenn sie sich bisher noch nicht damit auseinandergesetzt hat, dass er wahrscheinlich nie wieder kommen wird, dann muss sie es spätestens ab morgen tun.“
„Dann stimmt es also, dass der Suchtrupp morgen zum letzten Mal auf den Gletscher geht?“
„Allerdings. Aber wenn wir ehrlich sind, dann bräuchten sie eigentlich nicht mehr weiterzusuchen. Wenn er wirklich in eine Spalte gestürzt ist, dann ist er längst tot. Eine Woche lang überlebt kein Schwein in einer Gletscherspalte.“
„Natürlich nicht. Aber für Marlene wäre es sinnvoll, wenn sie eine Leiche fänden. Dann hätte sie Gewissheit und könnte vielleicht besser damit umgehen, als wenn er einfach in Luft aufgelöst bleibt.“
„Spielst du auf das Gerücht an?“
„Gerücht? Das hält sich so hartnäckig, dass es für viele bereits eine Tatsache ist.“
„Traust du Josef so etwas wirklich zu?“
„Wer weiss. Schon so mancher Mann hat sich mit einer Jüngeren aus dem Staub gemacht. Und, seien wir ehrlich, es weist alles darauf hin. Genau wie die Dorfbewohner haben auch wir hinter vorgehaltener Hand gerätselt, ob diese Lara und er mehr fliegen liessen, als nur die Holzspäne.“
„Sie haben wirklich nichts ausgelassen, um Gerüchte zu streuen. Nur schon die Tatsache, dass er eine Frau in seiner Schreinerei beschäftigte, sorgte für genügend Gesprächsstoff. Dann ist sie endlich gegangen, ob nun der allgemeinen Meinung nach Marlene dahintersteckte oder nicht, sei dahingestellt. Und nun verschwindet auch er, im Gepäck zwei Tickets für eine Reise Richtung Süden.“
„Bei der Reise wird es wohl kaum bleiben.“
„Darf man dem Tratsch glauben, kommt er tatsächlich nicht mehr zurück. Ich frage mich dann allerdings, weshalb er all seine Sachen zurückgelassen hat. Marlene hat gesagt, der Koffer hätte noch auf dem Bett gelegen, die Kleider hätten alle noch fein säuberlich im Schrank gehangen und auch von seinen anderen Utensilien fehle ihrer Meinung nach nichts. Das einzige, das weg war, war das, was er bei sich trug und natürlich er selbst.“
„Vielleicht hat er sich alles neu gekauft. Ich meine, wenn er alles gepackt hätte und dann gegangen wäre, wäre die Sache klar gewesen. Dieser Schmach wollte er Marlene dann vielleicht doch nicht so offensichtlich aussetzen.“ Dann fügte Moritz mit gedämpfter Stimme hinzu: „Denkst du, er hat seine Drohung wahr gemacht und unseren kleinen Nebenerwerb gemeldet? Ich konnte nichts mehr aus ihm rauskriegen. Und jetzt - wie soll ich sagen - jetzt steht er uns ja nicht mehr zur Verfügung.“
Hans beäugte nachdenklich den Inhalt seines Glases. Dann sah er mit entschlossenem Ausdruck zu Moritz auf. „Ich weiss es nicht. Aber kommt uns jemand krumm, werden wir sehen, was noch alles zu verschwinden hat. Wir werden es auf jeden Fall nicht sein.“
Als die Wirtin an den Stammtisch trat, verstummte das Gespräch umgehend. „Noch eine Flasche?“
„Für mich nicht, ich habe noch einiges zu tun“, sagte Hans mit einem bedauernden Blick in den tiefen Ausschnitt der Wirtin. Dann warf er etwas Geld auf den Tisch, sah Moritz vielsagend an und stand auf.
Beim Verlassen des von Zigarettenrauch geschwängerten Gasthofs fiel ihm der Mann, der mit dem Rücken zum Stammtisch hinter der Zwischenwand sass, nicht auf. So bemerkte er auch nicht, dass dessen Blicke ihn bis zur Tür verfolgten. Dieser Mann hatte jedes Wort der Unterhaltung in sich aufgesogen, er hatte aber auch das gehört, was nicht ausgesprochen worden war. Die erhaltenen Informationen in seinem Kopf ordnend, griff er nach dem Bier, das vor ihm auf dem Tisch stand. Derjenige der krumm kommt, ist schon da, dachte er grimmig, während er das Glas in einem Zug leerte.
Das diffuse Licht liess den feinen, goldenen Ehering aufblitzen, als die Hände sich um das Glas legten. Der Rest der Gestalt blieb im Schutz der Schatten verborgen, vorausgesetzt, man sah nicht genauer hin. Und Hans hatte nicht genauer hingesehen, ganz im Gegensatz zu Moritz.
Kaum hatte sich die Türe hinter Hans geschlossen, kam ein Junge mit geröteten Wangen direkt auf ihn zugerannt. Allem Anschein nach war er in heller Aufregung, denn die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus, allerdings absolut zusammenhangslos und unverständlich. Hätte er nicht wie ein gehetztes Reh gewirkt, hätte man es als anstandslos bezeichnet, dass er den Gemeindepräsidenten persönlich am Ärmel zupfte, als wäre es Grossmutters Schürze. Hans ging soweit in die Knie, bis er mit dem Jungen auf Augenhöhe war und soweit, wie es sein Bauch zuliess. „Jetzt mal langsam, mein Junge. Was du da schwafelst, macht keinen Sinn. Also konzentrier’ dich. Was ist los?“
Der Junge schaute ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Aber er gehorchte. Dreimal atmete er tief ein und wieder aus, bevor er erneut zum Sprechen ansetzte. Diesmal schienen die Worte klar, Sinn machten sie dennoch nicht. „Ambros. Sie sind gerade dabei Ambros abzuführen!“
„Wer führt Ambros wohin?“ Eine der buschigen Augenbrauen hochgezogen, schaute Hans den Jungen fragend an.
„Die Polizei! Sie verhaften ihn!“
Inzwischen war auch Moritz auf die Strasse getreten. Die Blicke der beiden Männer trafen sich und in wortlosem Einverständnis eilten sie gleichzeitig los. Vor Ambros’ Wohnung schien bereits das ganze Dorf anwesend zu sein. Schaulustige warteten gespannt, bis die Polizisten das Haus wieder verliessen. Als die Leute den Gemeindepräsidenten sahen, strömten sie beinahe ehrfürchtig auseinander und bildeten eine Gasse. Mit Moritz im Schlepptau trat er auf das Haus zu. Bevor er jedoch eintreten konnte, kamen die Polizisten bereits wieder heraus, zwischen ihnen hing wie ein Kartoffelsack Ambros, dessen Arme die Gesetzeshüter auf seinem Rücken zusammenhielten. Mit seinen Blessuren, die nach wie vor an die ereignisschwere Nacht erinnerten, und dem traurigen Blick, rief er in so manchem ein Gefühl von Mitleid hervor. Auch Hans durchfuhr ein unangenehmes Gefühl. Er baute sich in voller Grösse vor den Polizisten auf. „Was ist hier los?“
Die Polizisten blieben zwar stehen, schauten ihm aber ungerührt direkt in die Augen. „Der Junge hier wurde angezeigt und jetzt kommt er in Untersuchungshaft.“
„Was wird ihm vorgeworfen?“ Moritz verliess seine Deckung hinter dem Rücken von Hans und postierte sich neben ihm.
Der Polizist war etwas erstaunt über diese Frage, denn er war davon ausgegangen, dass die der Verhaftung vorangegangene Anzeige schon längst als Gerücht kursierte. Ausnahmsweise schien dies aber nicht der Fall zu sein. „Das kann ich Ihnen nicht sagen. Tut mir leid.“
Das hatte Moritz erwartet. Aber es spielte keine Rolle. Er kannte den Grund für die Verhaftung, denn er kannte den anonymen Anrufer, der die Anzeige gemacht hatte. Es war niemand geringeres als er selbst gewesen. Eigentlich war es als Warnung für Josef gedacht gewesen, damit er seine dummen Ideen nicht umsetzte. Als das Problem Josef sich dann anderweitig gelöst hatte, war die Geschichte mit der Anzeige schon in vollem Gange gewesen. Sicher, er hätte sie zurückziehen können, denn Ambros würde kaum lange einsitzen, dafür sind die Beweise, die er liefern konnte, ohne sich selbst ans Messer zu liefern, einfach zu gering. Aber er sah keinen Grund, weshalb er nicht herausfinden sollte, wie Ambros und die Bevölkerung reagierte, wenn die Polizei Ambros abholte. Je nach Reaktion könnte Ambros sich im Dorf nicht mehr blicken lassen und jegliche Unterstützung der Einwohner würde ihm entzogen. Damit wäre gleich noch ein weiteres von Moritz’ Problemen fast von alleine aus der Welt.
Ambros gab keinen Laut von sich. Doch als er die Stimme von Moritz hörte, hob er langsam den Kopf und sah ihn an. Seine Miene wandelte sich von verzweifelter Resignation in ungläubige Wut.
„Ambros, sei dir unserer Hilfe sicher. Wir werden tun, was wir können.“ Moritz’ aufmunterndes Lächeln gefror, als sein Blick denjenigen von Ambros traf. Hans schien nichts davon zu bemerken. Mit einem Kopfnicken bestätigte er die Aussage von Moritz und trat beiseite.
Die Polizisten setzten sich wieder in Bewegung, doch diesmal stemmte sich Ambros dagegen. Überrascht über den Widerstand begannen die Polizisten an seinen Armen zu zerren, doch Ambros nahm die Bemühungen kaum wahr. Seine volle Aufmerksamkeit galt dem etwas untersetzten Mann Anfang vierzig, mit dem sich lichtenden, braunen Haupthaar, der kleinen schmalen Nase, auf der eine grosse Brille mit silbernem Rand thronte, durch die er ihn nun mit einem siegessicheren Blick bedachte. Einem Blick, der alles sagte.
„Du…“ Es war kaum mehr als ein Flüstern. Und dann hörte er auf zu denken. Mit einem Ruck riss er sich los und stürzte geradewegs auf Moritz zu. Doch die Polizisten waren schneller. Gleichermassen überrascht wie überrumpelt stellten sie sich reflexartig innert Sekundenbruchteilen auf die neue Situation ein. Sie wirbelten herum und griffen nach dem Flüchtigen. Während der kleinere der Polizisten Ambros an der Schulter zu fassen bekam, schnappte sich der Grössere dessen Handgelenk und drehte ihm, ohne mit der Wimper zu zucken, den Arm auf den Rücken. Ambros schrie auf. Um die Qual zu lindern, bog sich Ambros ganz selbstverständlich nach vorne. Dennoch hob er noch einmal seinen Kopf. Sein Gesicht reflektierte deutlich die Schmerzen, doch in seinen Augen funkelte unbändige teuflische Wut.
Moritz jagte ein Schauer über den Rücken, als sich Ambros’ Blick erneut direkt auf ihn richtete. „Du bist das gewesen. Du hast mich in der Gondelstation überfallen, um mich dann gewaltsam auszuquetschen! Du! Du elender Schweinehund hast mich verprügelt und jetzt stehst du mit deinem scheinheiligen Grinsen da und denkst, du wärst sicher. Wahrscheinlich trägst auch du die Verantwortung für Josefs Verschwinden! Ja, nicht wahr? Du hast ihn umgebracht! Aber bestimmt nicht nur, weil er sich an der Tageskasse bedient hat. Was habt ihr sonst noch so gedreht, hä?“ Ambros sprach sich dermassen in Rage, dass ihn die Polizisten trotz aller Massnahmen nur mit Mühe abführen konnten. „Würde mich nicht wundern, wenn der Herr Gemeindepräsident da auch noch seine Finger im Spiel hätte.“ Auf einmal wurde es ganz still auf dem Platz. Man konnte förmlich spüren, wie der Bevölkerung der Atem stockte. Selbst die Polizisten hielten inne. Obwohl sie sich selbst nicht erklären konnten, weshalb. Alle starrten auf den Gemeindepräsidenten.
Dieser schien sich im ersten Augenblick nicht sicher zu sein, wie er mit einer derartigen Anschuldigung umgehen sollte, entschied sich dann aber für Toleranz. „Er ist zu wütend um zu wissen, was er von sich gibt. Führt ihn ab.“
Gesagt, getan. Die Polizisten erwachten aus ihrer Starre, nickten Hans zu und setzten sich erneut in Bewegung. Ambros wusste dem nichts mehr entgegenzusetzen. Resigniert, mit hängendem Kopf liess er sich in das bereitstehende Fahrzeug schleifen. Irgendwo in seinem Innern flüsterte ihm eine leise Stimme zu, dass ihm, nachdem er das Dorfoberhaupt derart beschuldigt hatte, niemand mehr zu Hilfe eilen würde. Diese leise Ahnung ging einher mit dem unangenehmen Gefühl, dass dies das letzte Mal war, das er das Dorf sah.
Genau dasselbe Gefühl beschlich auch die zierliche Blondine, die sich weit im Hintergrund hielt. Ein Schauer durchfuhr ihren schmalen Körper, einerseits aus Erleichterung darüber, dass man sie nicht entdeckt hatte. Andererseits war der darauffolgende Schluchzer die Reaktion auf den unbändigen Schmerz, der in ihrem Innern wütete. Erst entführten und verprügelten sie ihn, jetzt wurde er auch noch verhaftet. Das hatte er nicht verdient! Er war ein guter Mann! Josefs Angebot, die Einnahmen zu manipulieren und sich damit nebenbei ein bisschen was dazu zu verdienen, hatte er doch nur ihretwegen zugestimmt. Um genug Geld zu sammeln, damit er vor den Augen ihres Vaters als würdiger Ehemann bestehen konnte, der ihr eine Zukunft bieten konnte! Der Kloss in Alinas Hals wurde immer grösser. Am liebsten wäre sie in Tränen ausgebrochen, aber das hätte nur unnötig Aufmerksamkeit auf sie gelenkt. Und das durfte keinesfalls geschehen. Nach alledem, durfte niemand jemals von der heimlichen Liebschaft erfahren. Daher schaute Alina krampfhaft beherrscht einfach nur zu, wie der Mann, in dessen Bett sie zuvor noch gelegen hatte, gewaltsam abgeführt wurde. Während ihr eigener Vater zusammen mit Moritz daneben stand und Ambros mit seiner gesamten herablassenden Grossmütigkeit vor dem versammelten Dorf blossstellte.