2010

 

Stöhnend setzte sich Verena in ihrem Bett auf und rieb sich die verschlafenen Augen, als es erneut an die Holztür ihres Hotelzimmers polterte. Den angefangenen Tag bereits verfluchend rollte sie sich aus den Laken, schlüpfte in die Pantoffeln und murmelte vor sich hin, dass sie unterwegs sei. Dies konnte der ungeduldige Polterer aber nicht hören, weshalb weiteres Klopfen ertönte, diesmal gefolgt von einer Stimme. „Mama! Mach auf! Ich muss mit dir sprechen!“

An der Tür angekommen, öffnete Verena sie nur einen Spaltbreit, was Leonie aber genügte, um sich rüpelhaft und rücksichtslos Zutritt zum Zimmer zu verschaffen.

„Herrgott, Leonie! Was ist denn los? Und wie siehst du eigentlich aus? Hattest du diese Klamotten nicht gestern schon an?“ Verena musterte ihre Tochter skeptisch. Die roten Haare standen ihr wirr vom Kopf ab, unter ihren Augen bildeten sich dunkle Schatten, von ihrem Lidschatten war nicht mehr viel übrig und die Wimperntusche begann sich in feinen Stückchen von ihrem ursprünglichen Bestimmungsort zu trennen. „Du bist nicht im Bett gewesen, nicht wahr?“ In Verena regte sich so etwas wie Mutterinstinkt, was sie dazu bewegte, zum Telefon neben dem Bett zu greifen und die Rezeption anzurufen. Nach längerem Hin und Her hatte Verena die Dame am Telefon soweit, dass sie ausnahmsweise einige Brötchen, Confitüre, Butter und frischen Orangensaft aufs Zimmer bringen liess. Anschliessend drückte sie die nervös im Zimmer auf und ab laufende Tochter aufs Bett, von wo diese aber sogleich wieder aufsprang und weitermarschierte. „Wenn du so weitermachst, ist der Boden bald so dünn, dass ich sehen kann, was der alte Mann im Zimmer unter mir für einen Pyjama trägt.“

Abwesend hob Leonie den Kopf und blickte etwas verwirrt drein. „Wie bitte? Entschuldige. Ich habe kein Auge zugemacht. Nachdem du gegangen warst, bin ich spazieren gegangen und habe lange mit Sebastian gesprochen.“

„Sebastian?“

Leonie, die den Unterton heraushörte, winkte ab. „Ein Arbeitskollege. Irgendwann begannen die Gedanken Spiralen zu ziehen und sie endeten immer am gleichen Punkt. Ich möchte wissen, wer das getan hat. Ob aussichtslos oder nicht, bis ich nicht den letzten Stein umgedreht habe, werde ich nicht aufhören nachzuforschen, was damals geschehen ist. Auch wenn das bedeutet, dass ich nicht wie geplant Ende der Saison weiterziehen kann.“

Etwas flackerte in Verenas Augen auf, das Leonie nicht zuordnen konnte. Spontan fiel ihr Triumph ein, aber das machte keinen Sinn. Doch noch bevor sie sich weitere Gedanken darüber machen konnte, klopfte es erneut an die Tür. Verena ging hin und mit dem Öffnen schwebte der herrliche Duft nach frischen Croissants herein, was zur Folge hatte, dass Leonies Magen sich lauthals zu Wort meldete. Dass sie Hunger hatte, war ihr bisher überhaupt nicht aufgefallen. Sie liess sich auf dem Bett nieder, Verena setzte das Tablett vor ihr ab und bedeutete ihr, sich zu bedienen.

Also schön. Wo möchtest du deine Nachforschungen nun beginnen?“

„Naja, nachdem Sören bereits eine auskunftsfreudige Dame gefunden und befragt hat, dachte ich, er könnte sich ein wenig weiter umhören.“

„Sören?“

„Ja, ein ehemaliger Arbeitskollege. Er ist hier aufgetaucht und ich habe ihm von meinem Erlebnis berichtet. Eigentlich hatte er bereits vor deinem Auftritt die Idee der Nachforschung geäussert, was er dann sogleich in Angriff nahm.“ Leonie hatte keine Lust, sich mit langen Erklärungen abzugeben, stattdessen gönnte sie sich einen herzhaften Bissen ihres zweiten Gipfelis und lenkte das Thema zurück auf den eigentlichen Grund ihres Erscheinens. „Aber wie dem auch sei, ich wollte dich fragen, ob du vielleicht noch einige Sachen von damals aufbewahrt hast? Ich meine, immerhin hat die Polizei ermittelt. Hast du davon vielleicht noch Berichte? Oder andere Schriftstücke? Bestimmt gab es auch Zeitungsberichte über den Vorfall. Hast du die eventuell sogar gesammelt?“

„Ich habe tatsächlich das ein oder andere aufbewahrt. Ich weiss zwar nicht weshalb, genauso wenig, wie ich weiss, was es bringen soll, aber bei deinen Grosseltern im Keller stehen zwei Kisten mit einigen Dingen. Ich glaube, die eine Schachtel haben sie mir per Post zugeschickt, nachdem sie nach unserer Abreise noch einmal in der Ferienwohnung gewesen waren. Soweit ich mich erinnere, habe ich sie nie geöffnet, sondern einfach in das hinterste Regal im Keller gestellt. Ich habe keine Ahnung, was sich darin befindet.

„Meinst du, wir können die Kisten heute holen?“

Erstaunt zog Verena eine Augenbraue hoch. „Dein Tatendrang in Ehren, aber möchtest du nicht erst einmal ein bisschen schlafen?“ Das vehemente Kopfschütteln kannte Verena nur zu gut, weshalb sie gar nicht erst weiterbohrte. „Also gut, dann werden wir heute dem alten Haus einen kleinen Besuch abstatten. Eigentlich trifft es sich ganz gut, ich war schon viel zu lange nicht mehr dort.

„Ja, es ist auch schon eine Weile her, seit ich das letzte Mal da gewesen bin. Ist immer noch das nette Ehepaar dort? Wie hiessen sie doch gleich? Die, die eine Abenteuerranch aufbauen wollten?“

„Das Ehepaar Graber. Und ja, sie haben den Hof nach wie vor. Abenteuerranch ist zuviel gesagt, aber sie haben tatsächlich ein nettes Familienziel aus dem Hof machen können. Es war schon ein Segen, dass die beiden nach dem Tod deiner Grosseltern mit dieser Idee und dem Wunsch, den Hof nur zu mieten, bei uns aufgetaucht sind. Sonst hätte ich den Hof wohl verkauft. Den kleinen Kellerraum als Lager zur Eigennützung zu behalten, war ebenfalls eine meiner besseren Ideen.

Leonie musste Lächeln. Diese ganz normalen Mutter-Tochter Momente waren ihr nur selten vergönnt und allzu schnell auch wieder vorbei, das wusste sie, daher machte sie sich schon lange keine falschen Hoffnungen mehr. Dennoch, oder eben deswegen, genoss sie die Augenblicke umso mehr. Während Verena im Badezimmer verschwand, warf Leonie einen kurzen Blick in den Spiegel neben der kleinen Garderobe und erschrak ein wenig vor sich selbst. Entschlossen, nach ihrer Mutter im Bad zu verschwinden und ihrem Aussehen die nötige erste Hilfe zukommen zu lassen, nahm sie sich die Zeitung, die neben den Croissants und Brötchen auf dem Tablett lag und setzte sich zurück aufs Bett. Da es sich um das lokale Blatt handelte, erwartete Leonie nicht gerade viel, zur Zeitüberbrückung würde es aber allemal reichen. Doch bereits beim Anblick der Schlagzeile, wurde sie eines Besseren belehrt. In grossen, schwarzen Lettern prangte die Schlagzeile:

 

‚Grächen im Blutrausch?’

Grausiger Fund in Gletscherspalte: Wer hat die beiden Männer ermordet?

 

Interessiert begann Leonie zu lesen. Als Verena aus dem Badezimmer trat und sie ansprach, schaute sie nicht einmal auf.

„Wenn du schon nicht ans Schlafen denkst, vielleicht möchtest du dich ein wenig frisch machen?“

Ungeduldig winkte Leonie ab, las noch die Zeile, nicht aber den Artikel fertig, warf die Zeitung achtlos aufs Bett und verschwand ebenfalls in dem kleinen Badezimmer. Wie beiläufig schielte Verena auf den Artikel, in den Leonie eben noch so vertieft gewesen war. Beim Anblick der Schlagzeile biss sie sich auf die Lippen. „Sag mal, dieser Zeitungsartikel muss ja mächtig interessant gewesen sein. Was stand denn da drin?“

Ihr langes Haar mit der Bürste quälend, trat Leonie aus dem Badezimmer, um besser gehört zu werden. „Offenbar hat der Riedgletscher zwei männliche Leichen freigegeben, die eine unglückliche Begegnung mit einem Messer hatten. Gruselig, nicht wahr?“ Ein breites Grinsen zierte Leonies Gesicht.

Verena hingegen erbleichte, was allerdings nicht weiter auffiel, da sie dank des Make-ups sowieso stets denselben Teint hatte.

 

Der kurze Besuch auf dem ehemaligen Hof ihrer Grosseltern war zu einer überraschend entspannenden Abwechslung geworden. Das war nicht zuletzt der frischen Apfelwähe von Frau Graber und den jungen Katzen zu verdanken.

So liess sich auch der Stich, den Verena verspürte, als Leonie die beiden Kisten mit den übriggebliebenen Habseligkeiten ihres Vaters unter jeweils einen Arm packte, etwas besser wegstecken.

Zurück in Grächen hatte sich Verena vor ihrem Hotel aus Ovalium geschält und Leonie verkroch sich nun mit den beiden Schachteln in ihrer eigenen Unterkunft.

Als erstes nahm sie sich den Karton vor, in dem die Dinge waren, die ihre Mutter hineingepackt hatte. Sie hoffte, wenigstens ein bisschen von der Persönlichkeit ihres Vaters fassen zu können, bevor sie sich über die trockenen Fakten, die sie in der anderen Kiste vermutete, hermachte. Schon beim Abheben des Deckels grinste ihr ein derart freundliches und irgendwie vertrautes Augenpaar entgegen, dass sie schwer schlucken musste, bevor sie die nötige Ruhe zum Weitermachen zurückgewonnen hatte. Unter dem Foto kamen einige Schriftstücke zum Vorschein, die sich als Briefe von allerlei Menschen entpuppten, Postkarten, Urkunden, Abzeichen, und schliesslich tauchten zwischen einer Pfeife und einem Amethysten in Form eines Elefanten noch mehr Fotos und auch Kinderzeichnungen auf. Die mühsam bewahrte Beherrschung begann nach und nach zu bröckeln, als sie die glücklichen Gesichter auf all den Fotos wiedererkannte. Vollständig von einem Tränenschleier weggeschwemmt wurde sie bei genauer Betrachtung eines Polaroids, das einen gutaussehenden Mann, eine gestylte Blondine und ein frech grinsendes Mädchen in Skianzügen zeigte. Die Ski steckten neben ihnen im Schnee und im Hintergrund konnte Leonie deutlich die Station der Hannigalpbahn erkennen. Das plötzliche Klingeln des Hoteltelefons riss sie derart abrupt aus ihren Gedanken, dass sie zusammenzuckte. Sich unwirsch über die Wangen wischend, um die unerwünschten Tränen zu trocknen, raffte sie sich auf und hob den Hörer von der Gabel.

„Leonie?“, fragte die freundliche Stimme der österreichischen Rezeptionistin, mit der sie sich bald nach ihrer Ankunft angefreundet hatte. „Ein ziemlich gutaussehender Typ hat nach dir gefragt. Er erwartet dich im Restaurant. Kommst du runter? Wenn nicht, übernehm’ ich ihn gerne für dich.

Etwas verstört sortierte Leonie ihre Gedanken. Eigentlich hatte sie keine Lust auf Besuch, entschied sich dann aber doch, einen kurzen Blick zu riskieren. Sie liess die Rezeptionistin den Entscheid wissen, legte auf und eilte ins Bad. Nach einem raschen Blick in den Spiegel fragte sie sich, weshalb sie das soeben getan hatte, eilte kopfschüttelnd zur Tür, riss sie auf und geriet etwas ins Schleudern beim Versuch, Sebastians Faust auszuweichen, mit der er bereits zum Anklopfen angesetzt hatte, als ihm plötzlich die dafür nötige Unterlage entzogen wurde.

„Himmel! Was tust du hier? Du hast mich zu Tode erschreckt!“

„Nun, ich…“

„Erklär es mir auf dem Weg runter, ich muss ins Restaurant“, unterbrach ihn Leonie.

„Nein, musst du nicht. Weil ich mir nämlich erlaubt habe, hochzukommen.“

Mit zusammengekniffenen Augen blieb Leonie stehen und musterte Sebastian von Kopf bis Fuss und zurück. „Lila hat gesagt, es warte ein gutaussehender Typ auf mich…“ Den Rest des Satzes liess sie in der Luft hängen.

„Das ist ja entzückend. Ich habe beim Aussuchen meines heutigen Besuchs eigentlich auch charmant und zuvorkommend angegeben und nicht störrisch und kratzbürstig.“

„Dann würde ich sagen, sind wir quitt. Was treibt dich hierher?“

„Genug der Nettigkeiten? Schade, hat gerade angefangen Spass zu machen. Aber gut. Ich habe mir einige Gedanken über unser gestriges Gespräch gemacht. Dabei kam mir die Idee, dass du vielleicht noch mit meinem Vater sprechen könntest, wenn du willst.“

„Dein Vater?“ Wäre Leonies Interesse nicht schon alleine mit dem Auftauchen Sebastians geweckt gewesen, hätte spätestens dieser Vorschlag die nötige Neugierde herausgekitzelt.

„Genau. Er hat sein ganzes Leben hier verbracht. Zufälligerweise hat er auch als Skiliftbetreuer gearbeitet und bediente am liebsten den Sessellift des Seetalhorns. Soweit ich weiss, ging es uns damals finanziell nicht unbedingt blendend, weshalb er sich besonders intensiv mit den Möglichkeiten, die die neue Bergbahn brachte, auseinandergesetzt hat.

„Und das sagst du erst jetzt? Wann kann ich zu ihm?“

„Sei froh, sag ich es dir überhaupt. Ich könnte auch einfach die Arme verschränken, alles ignorieren und dich für verrückt erklären. Ungefähr so, wie ich deine geröteten Augen ignoriere und es unterlasse dich zu fragen, weshalb du geweint hast.“

Leonie verzog trotzig ihren Mund. „Ich habe nicht geweint.“

„Nein, natürlich nicht. Genau deshalb habe ich auch nicht gefragt. Wie dem auch sei. Passt dir Morgen gegen vier, bevor du deine Schicht in der Bar antrittst?“

Ein gedankenverlorenes Nicken war die einzige Antwort.

„Sehr schön. Hier.“ Ehe Leonie wusste, wie ihr geschah, drückte ihr Sebastian einen Zettel in die Finger. „Das ist der Name des Hauses und ein kleiner Wegbeschrieb. Es ist etwas ausserhalb, aber ich bin mir sicher, du findest es. Ich hoffe, dein Ovalium ist nicht zimperlich, der Weg zum Haus ist nicht unbedingt das, was man im Allgemeinen als befestigt bezeichnet.

Wieder nur das Nicken. Sebastian wartete noch kurz ab, ob nicht vielleicht doch noch eine Erklärung für die verweinten Augen folgte, doch da kam nichts. Also sagte er sarkastisch: Danke Sebastian, sehr lieb von dir. Wir sehen uns also morgen. Immer wieder gerne, liebe Leonie. Bis morgen dann. Und was auch immer dich so aufgewühlt hat, ich hoffe, dieser Sturm legt sich bald wieder. Wiedersehen.“ Damit wandte er sich ab und ging in Richtung Treppe.

„Warte!“

Sebastian verdrängte den Schauer der Aufregung, der diese Aufforderung in ihm auslöste und blieb stehen, ohne sich umzudrehen. „Was ist?“

„Warum bist du vorbei gekommen? Ich meine, du hättest mir das alles auch am Telefon sagen können. Und sag jetzt bloss nicht, du warst gerade in der Nähe, denn das ist man angesichts der Grösse des Dorfes eigentlich immer.“

„Dann sag ich es eben nicht. Ohne sie noch einmal eines Blickes zu würdigen, ging er davon.

„Na, auch gut!“, grummelte Leonie und kehrte zurück in ihre vier Wände. Dort wanderte sie rastlos durch den Raum. Dabei stiess sie mit dem Fuss gegen den ungeöffneten Karton. Er kippte um und der gesamte Inhalt ergoss sich über die sowieso schon kleine Wohnfläche. Erst stand sie nur da und atmete tief ein und wieder aus. Dass der Inhalt hauptsächlich aus Papieren bestand, trug nicht zur Besänftigung bei.

Sich selbst für ihre Ungeschicklichkeit verfluchend und allerlei Schimpfworte ausstossend kniete sie sich schliesslich nieder und begann, die Dokumente wieder zusammenzusuchen. Dabei wunderte sie sich, wie viele Schreiben von der Steuerverwaltung waren, in der ihr Vater als Wirtschaftsprüfer angestellt gewesen war. Ihr Vater schien einer der Sorte gewesen zu sein, der die Arbeit selbst in den Familienurlaub mitbringen musste. „Ob Verena das gewusst hat? So wie ich sie einschätze, wäre sie stinksauer gewesen. Also hat sie es wohl nicht gewusst.“ Sie hatte den Satz kaum zu Ende gesprochen, als sie auf einen Brief mit dem Poststempel von Grächen stiess.

 

Sehr geehrte Frau Ebner,

 

Vorweg möchte ich Ihnen mein herzliches Beileid aussprechen. Wir sind alle zutiefst erschüttert über diese Tragödie und wünschen Ihnen viel Kraft, um diese dunklen Stunden zu überstehen.

 

Es ist mir äusserst unangenehm Sie in dieser Situation mit derart alltäglichen Banalitäten zu belästigen, aber beim Aufräumen der Wohnung bin ich auf Unterlagen gestossen, die seltsamerweise unter einem Sofakissen lagen. Bitte entschuldigen Sie, dass ich sie mir genauer angesehen habe, allerdings musste ich doch herausfinden, wem sie gehören. Ich bin zum Schluss gelangt, dass es Dokumente Ihres auf so tragische Weise verstorbenen Ehemannes sind und habe mir deshalb erlaubt, Ihnen jene mittels dieses Pakets zuzustellen.

 

Mit nochmaligen besten Wünschen und dem Ausdruck unseres herzlichsten Beileids verbleiben wir

 

mit freundlichen Grüssen

Familie Wagner

 

Die damalige Vermieterin, wie Leonie vermutete. „Unter dem Sofakissen? Also bitte, es gibt bessere Verstecke! Aber gut, scheinbar hat es ja ausgereicht.“ Leonie legte den Brief beiseite und veränderte ihre Sitzposition, weil ihre Beine einzuschlafen begannen.

Da fiel ihr Blick auf einen kleinen Fetzen Papier, der unter dem Bett hervorlugte. Neugierig zog sie den Zettel heraus. Da die ihr zugewandte Seite leer war, drehte sie ihn um. Und tatsächlich, in fein geschwungenen Lettern war eine mit blauer Tinte geschriebene Nachricht zu erkennen. Als wäre es nicht schon schwierig genug, die Schrift an sich zu entziffern, war sie auch noch verschmiert.

Leonie hatte einige Mühe, das Geschriebene zu lesen, konnte aber daraus, wie alles verwischt war, einige Schlussfolgerungen ziehen. „Linkshänder und erst noch eine Sauschrift. Du machst dir wohl einen Spass daraus, mir die Nachforschungen zu erschweren“, murmelte Leonie, den Blick auf die Zimmerdecke gerichtet. Sie kam sich vor, wie beim Glücksrad. Allerlei Buchstaben leuchteten deutlich lesbar auf der Ratewand und nun galt es, aus diesen einzelnen Mitgliedern des Alphabets etwas Zusammenhängendes zu gestalten, nur dass sie sich nicht in der privilegierten Position befand, am Rad zu drehen, um sich neue Buchstaben wünschen zu können.

Aber auch als die Komponenten endlich zu sinnvollen Worten zusammengesetzt waren, glätteten sich die Falten auf Leonies Stirn nicht im Geringsten. „Was soll das heissen? ‚Anrufer unbekannt, Bücher Hannigalpbahn, umhören!’ Versteh ich nicht.“

Zögernd legte Leonie das Stück Papier beiseite. Es schien eigentlich nicht interessant zu sein, dennoch, es war immerhin bei den Unterlagen, die ihr Vater im Ferienhaus versteckt hatte und es war der Name der Gondelbahn aus dem Dorf darauf notiert. Diese Überlegungen führten sie immer nur zu einer Schlussfolgerung: Ihr Vater war nicht nur wegen eines Familienurlaubs in Grächen gestrandet. Diese Vermutung warf aber sogleich die nächste Frage auf: Weshalb war er denn dann hier?

Leonie schwirrte der Kopf. Sie liess von den Papieren ab, suchte ihr Mobiltelefon und versuchte während des Wählvorgangs ihre Jacke überzuziehen. Mehr oder minder graziös gelang das Unterfangen, weshalb sie wenige Minuten später telefonierend auf der Strasse vor dem Hotel stand.

 

Aufmerksam lauschte Sören der Stimme am anderen Ende der Leitung, bestätigte kurz das Gesagte und legte auf.

Ich muss noch einmal weg. Mit gesenktem Kopf, den leeren Blick auf das zugeklappte Telefon gerichtet, stand Sören reglos im Raum. Die grauen Rauchwölkchen der im Aschenbecher vergessenen Zigarette waberten sich anmutig schlängelnd durch die Luft.

Warum? Wer war das am Telefon?“ Die Stimme klang schläfrig und doch schwang ein katzenhaftes Schnurren mit, dem deutlich zu entnehmen war, dass die Hitze der vorangegangenen Leidenschaft noch nachglüht. Sören liess von dem Telefon ab und drehte sich um. Seine unergründlich blauen Augen blitzten entschlossen im schwachen Schein der gedimmten Stehlampe auf.

„Triffst du dich mit ihr?

Sören antwortete nicht. Er griff nach seiner Kleidung und zog sie mit dem Rücken zum Bett gewandt über. Diese Gelegenheit nutzend, schwang die Blondine ihr Haar zurück, rappelte sich auf alle Viere und zog Sören spielerisch auf das Bett zurück. Sie machte sich über seine Ohrläppchen her und hauchte ihm ganz nebenbei ihre Frage ins Ohr. „Bist du sicher? Willst du nicht noch ein bisschen mit mir spielen?“

Sören drehte sich um und sah sich den dargebotenen Körper an. Der Schwerkraft mit allen natürlichen und auch unnatürlichen Mitteln trotzend, war jede Rundung perfekt geformt, die Brüste so straff wie das Hinterteil und die Silhouette ebenmässig, als wäre sie in Stein gemeisselt. Ein Schauer der Erregung kroch durch jede Faser von Sörens Körpers. So verlockend dein Angebot auch ist, muss ich es ablehnen. Du weisst genauso gut wie ich, wo die Prioritäten liegen und das ändert sich nicht, solange wir nicht am Ziel sind.

„Schon gut. Ich verzehre mich hier noch eine Weile nach dir und wenn du zurückkommst und dein Bett leer vorfinden solltest, weisst du ja, wo du mich findest.“

 

Gerade dabei, sich in den Artikel, dessen Schlagzeile sie am Nachmittag schon einmal gelesen hatte, zu vertiefen, stand Leonie mit einem Löffel in der Hand an die Bar gelehnt und schaufelte sich aus einer Müslischale Vermicelles in den Mund. Die Eiscrème und das Meringue hatte sie gleich weggelassen, dafür bedeckte eine Berg Sprühsahne die braunen Kastanienwürmer. Nicht einmal als die Tür aufschwang, sah sie auf. Erst, als sie angesprochen wurde, riskierte sie einen Blick. Bereits zum zweiten Mal an diesem Tag liess sie von der Zeitung ab, ohne den Artikel fertig gelesen zu haben.

„Ich halte auch viel von ausgewogener Ernährung.“ Spöttisch grinsend ging Angela an der Bar vorbei in den kleinen Stauraum dahinter und hängte ihre Tasche sowie die Jacke an den Haken.

„Das waren mal Kastanien und das sind Nussfrüchte und deshalb gesund.“

„Genau. Und in einem Kuchen stecken meistens gemahlene Haselnüsse, weshalb Kuchen ab sofort auch zu den gesündesten Lebensmitteln der Welt gehören sollte.“

„Siehst du, ich wusste, dass du das verstehst“, sagte Leonie und schob sich eine weitere Ladung in den Mund.

Angela schnappte sich ebenfalls einen Löffel und gesellte sich mit fragendem Blick neben Leonie. Diese verstand und forderte Angela mit einem Kopfnicken auf, sich ihren Anteil an der süssen Masse zu sichern. Siegessicher stach Angela den Löffel in die Schüssel und zog verwundert die Augenbraue hoch, als er ganz locker auf den Boden stiess. „Keine Meringues?“

„Zu ungesund.“

„Verstehe. Ist nicht aus Nüssen gemacht.“

„Du hast es erfasst.“ Eine Zeitlang zeugte nur das Klirren der Löffel davon, dass die eine Frau ihr Abendessen genoss und die andere das Dessert. Bis Angela ihrer Neugierde nachgab. „Wie wars gestern mit Sebastian?“

Entgegen ihrem Willen errötete Leonie. „Was meinst du mit ‚wie war’s? Was denkst du, was wir gemacht haben? Wir haben nur geredet. Darüber, was mir meine Mutter erzählt hat, darüber, was auf dem Berg passiert ist und all das. Dann hat er mir heute vorgeschlagen, seinen Vater zu besuchen und mit ihm zu sprechen, da jener offenbar schon sein ganzes Leben in Grächen verbracht hat.“

„Ach was? Er will dich seinem Vater vorstellen?“

„Nein, will er nicht, jedenfalls nicht so, wie du denkst.“

„Was denke ich denn?“

„Ich sehe dir deine romantischen Hintergedanken an der Nasenspitze an und rate dir, damit aufzuhören, bevor du enttäuscht wirst.“

Wir werden ja sehen.“ Entrüstet riss Leonie die Augen auf, doch Angela kam ihrem Kommentar gelassen zuvor. „Wie steht es eigentlich um deine Nachforschungen?“

Leonie nickte mit vollem Mund. „Aus dem Hof meiner Grosseltern habe ich heute mit meiner Mutter zwei Kisten gefüllt mit ein paar Dingen meines Vaters geholt. Eine der Kisten beinhaltete Unterlagen, die mein Vater unter dem Sofakissen versteckt hatte, weshalb man sie erst fand, nachdem wir damals abgereist waren.“

„Ach, echt? Und, war etwas Interessantes dabei?“

„Ich habe mir noch nicht alles angesehen. Aber eine Notiz fiel mir förmlich in die Hände, mit deren Bedeutung ich aber nichts anfangen kann. Und eigentlich wäre der Wisch wohl auch uninteressant, hätte nicht Hannigalpbahn draufgestanden.“

„Echt? Das ist ja interessant! Was stand da sonst noch drauf?“

„‚Anrufer unbekannt, Bücher Hannigalpbahn, umhören!’“

„Bücher? Was für Bücher? Wanderführer? Bildbände?“

„Ich weiss es nicht. Das Problem ist die Tatsache, dass dieser Fetzen Papier offenbar bei den versteckten Unterlagen meines Vaters gelegen haben muss. Das scheint mir irgendwie seltsam. Andererseits weiss ich nicht, ob ich nicht langsam anfange, mir Dinge wichtig zu reden, die nichts zu bedeuten haben. Das ganze Unterfangen ist doch irgendwie irrwitzig. Meine Mutter hat mir erzählt, was damals geschehen ist. Das war doch eigentlich alles, was ich wissen wollte. Damit sollte ich die Angelegenheit vielleicht einfach auf sich beruhen lassen.“

„Nein. Ich glaube, du musst herausfinden, soviel du kannst. Schliesslich gibt es einen kleinen Haken in deiner eben gemachten Ausführung. Dein Vater wurde aus dem Nichts heraus angefahren und niemand will den Schuldigen gesehen haben. Wo du schon mal hier bist, solltest du der Sache soweit wie möglich auf den Grund gehen, auch wenn nur wenig Aussicht auf Erfolg besteht.

„Ja, genau, und wo ich schon mal hier bin, könnte ich mich auch gleich daran machen, den Job zu erledigen, für den ich angestellt wurde! Das würde ich dir übrigens auch empfehlen.“ Lachend stupste Leonie Angela an, die sich seufzend von der Bar wegstiess. „Dann geh ich mal öffnen.“

„Tu das.“ Leonie wandte sich wieder ihrer Zeitung zu, diesmal, um sie wegzuräumen. Da blieb ihr Blick erneut an dem Artikel hängen. „In eurem Dorf war ja mächtig was los, wenn ich das so lese.“

Angela stellte sich wieder zu Leonie, nachdem sie die Tür geöffnet hatte, und sah deren Augen auf der Zeitung ruhen. „Ja, nicht wahr? Timo hatte sich nach dieser Lektüre daran erinnert, was sein Grossvater ihm einmal erzählt hatte. Offenbar waren vor längerer Zeit mal ein paar Menschen verschwunden. Übrig geblieben waren nur zwei verlassene Ehefrauen und ein Wohnzimmer voller Blut. Natürlich spekulieren nun die Grächner hinter vorgehaltener Hand, dass das die dazugehörigen Leichen zu den damaligen Ereignissen sind, vor allem, weil man ja Stichwunden gefunden haben will. Die Gerüchteküche brodelt, aber ich tendiere eher dazu, zu warten, bis die Untersuchungen abgeschlossen und die Toten identifiziert sind, bevor ich mich auf das Gerede einlasse.“

Eine ziemlich bewegte Vergangenheit für ein verschlafenes Bergdorf.

„Das kann man sagen. Ich war damals noch klein, aber nachdem Timo mit seiner Geschichte meinem Gedächtnis auf die Sprünge geholfen hatte, regten sich ebenfalls einige Erinnerungen. Mit der Zeit wurden die Geschichten immer weiter ausgebaut, die Spekulationen immer düsterer und der Horrorfaktor immer grösser, weshalb sie nach und nach zu Legenden verkamen. Irgendwann flaute dann aber das Interesse ab, vor allem, als in den folgenden Jahre nichts mehr Vergleichbares geschah.

„Du warst damals schon auf der Welt? Ich dachte, das läge viel weiter zurück! Wann sind denn diese Leute verschwunden?“

Lies den Artikel zu Ende, dort steht’s drin.“

„Würde ich gerne, aber ich werde andauernd unterbrochen!“

Wie zur Bestätigung flog die Tür auf und eine Gruppe singender und leicht angeheiterter Gäste, nach wie vor mit den Skischuhen an den Füssen, traten polternd ein. Angelas Antwort drang nur noch gedämpft an Leonies Ohr, traf sie aber dennoch wie ein Schlag ins Gesicht. „In der Zeitung steht was von 1986.

86?“ Weiter kam Leonie nicht, da war die Bar auch schon von erhitzten Gesichtern bevölkert, die ihre Aufmerksamkeit vollständig in Beschlag nahmen.

 

Sören hatte alles mitangehört. Spontan entschloss er, das vereinbarte Treffen mit Leonie nicht wahrzunehmen, was ihr angesichts der vielen Gäste nichts weiter ausmachen dürfte. Leise wandte er sich ab und verliess die Bar unbemerkt durch den Hinterausgang.

 

 

Wenn die Wahrheit nicht ruht
titlepage.xhtml
part0000_split_000.html
part0000_split_001.html
part0000_split_002.html
part0000_split_003.html
part0000_split_004.html
part0000_split_005.html
part0000_split_006.html
part0000_split_007.html
part0000_split_008.html
part0000_split_009.html
part0000_split_010.html
part0000_split_011.html
part0000_split_012.html
part0000_split_013.html
part0000_split_014.html
part0000_split_015.html
part0000_split_016.html
part0000_split_017.html
part0000_split_018.html
part0000_split_019.html
part0000_split_020.html
part0000_split_021.html
part0000_split_022.html
part0000_split_023.html
part0000_split_024.html
part0000_split_025.html
part0000_split_026.html
part0000_split_027.html
part0000_split_028.html
part0000_split_029.html
part0000_split_030.html
part0000_split_031.html
part0000_split_032.html
part0000_split_033.html
part0000_split_034.html
part0000_split_035.html
part0000_split_036.html
part0000_split_037.html
part0000_split_038.html
part0000_split_039.html
part0000_split_040.html
part0000_split_041.html
part0000_split_042.html
part0000_split_043.html
part0000_split_044.html
part0000_split_045.html
part0000_split_046.html
part0000_split_047.html
part0000_split_048.html
part0000_split_049.html
part0000_split_050.html
part0000_split_051.html
part0000_split_052.html
part0000_split_053.html
part0000_split_054.html
part0000_split_055.html
part0000_split_056.html
part0000_split_057.html
part0000_split_058.html
part0000_split_059.html
part0000_split_060.html
part0000_split_061.html