2010
Sebastian versuchte auf dem ganzen Weg zur Hannigalpbahn Angelas Worte, die sich lästig wie Blutegel in seinem Kopf festgesetzt hatten, aus seinen Gedanken zu vertreiben. Froh um jede Ablenkung, grüsste er die bekannten Gesichter, stieg schliesslich in die Kabine und wartete, bis sie schaukelnd das Gebäude verliess. Oben angekommen stapfte er mit offenen Skischuhen durch ein ganzes Arsenal von Wintersportartikeln.
Noch bevor er sie sah, konnte er sie hören. Ein helles, angenehm warmes Lachen. Vor seinem inneren Auge erschien umgehend ihr mit fliessend rotem Haar gesäumtes Gesicht mit den smaragdgrünen Augen, die ihn keck anfunkelten. Die Sommersprossen, die sich wie kleine Farbkleckse um die Nase tummelten, gaben dem Ganzen noch einen aufreizend verspielten Touch.
Weniger irritiert über die Tatsache, dass es ihm offenbar leicht fiel, sich Leonie im Geiste vorzustellen, als über den leichten Stich in der Magengegend, weil offenbar jemand anderes Leonie zum Lachen brachte, schüttelte Sebastian heftig den Kopf. Er atmete noch einmal tief durch und setzte sich wieder in Bewegung. Mit gestrafften Schultern trat er auf die beiden Personen zu. Er konnte beobachten, wie Leonie ihrem Gegenüber, einem grossgewachsenen, dunkelhaarigen Typen mit gestylter Frisur, ein betörendes Lächeln schenkte, während der Typ sich wie ein aufgeblasener Affe in Szene setzte. Unweigerlich fragte sich Sebastian, ob der Kerl sich vor jeder sportlichen Aktivität Gel in die Haare schmierte.
„Hallo! Sieht so aus, als hätte man mir vergessen zu sagen, dass ich heute zwei Schüler habe.“ Freundlich lächelnd, mit neutralem Tonfall gesellte sich Sebastian dazu. Zufrieden stellte er fest, dass dem Geltypen kurz die Gesichtzüge ausser Kontrolle gerieten. Offenbar hatte Sebastian ihm nicht nur die Tour vermasselt, sondern auch sein Ego angekratzt.
„Nein, nein, ich hatte mich etwas ungeschickt angestellt, als ich die Skier aus der Gondel holte, da hat mir dieser nette Herr freundlicherweise unter die Arme gegriffen.“
Insgeheim sah sich Sebastian wieder bestätigt in seiner Meinung darüber, dass Leonie keineswegs besser war als die anderen. Er liess sich aber nichts anmerken. „Tatsächlich? Gut zu wissen, dass es noch hilfsbereite Menschen gibt.“ Ein grimassenhaftes Grinsen entblösste Sebastians regelmässiges Gebiss. „Können wir?“
Fasziniert hatte Leonie das Schauspiel verfolgt. Während sie sich im Normalfall über die Tatsache, dass zwei Männer um ihre Gunst buhlten, freute, wurde sie diesmal nicht ganz schlau daraus. Weshalb verhielt sich Sebastian so, obwohl er sie doch ganz eindeutig nicht mochte? War das einfach so ein Männerding? Konnten Jungs nicht anders, sobald es um ein Mädchen ging? Leonie stellte fest, dass sie diese Art von Gedanken nicht weiterverfolgen sollte, denn es war klar, dass sie zu keinem zufriedenstellenden Resultat führen würden. Also konzentrierte sie sich wieder aufs Wesentliche. „Ich bin soweit.“
Ohne Sebastian eines Blickes zu würden, verabschiedete sie sich mit ihrem schönsten Lächeln von ihrem Retter und schnappte sich ihre Utensilien. Die Skistunde begann schweigend. Sebastian lotste Leonie auf den Bügellift, indem er ihr voraus fuhr. Dann schickte er sie den Berg hinunter, über eine Traverse und schliesslich zum nächsten Sessellift. Dort fasste Leonie den Mut, das Schweigen zu brechen. „Wo fahren wir hin?“ Sie erhielt keine Antwort. „Okay, wir können die Stunde schweigend verbringen, aber dann will ich mein Geld zurück. Es sei denn, du erklärst mir, was stummes Unterrichten für eine neuartige Lehrtechnik ist.“
Sebastian biss die Zähne zusammen und gab sich einen Ruck. Sie hatte Recht. Er musste ihr das Skifahren beibringen, sonst nichts. Irgendwie gab er ihr die Schuld an seiner schlechten Laune, das wusste sie aber nicht. Und erklären konnte er es ihr nicht, weil er es selbst nicht verstand. Also musste er sich zusammenreissen. „Das ist keine neue Lehrtechnik, ich bin einfach mit dem falschen Bein aufgestanden. Tut mir leid, dass du das jetzt abgekriegt hast. Ich gelobe Besserung.“
Sie sah ihn prüfend an. „Na gut. Ich denke, du kannst dein Geld fürs Erste behalten. Also, wo fahren wir hin?“
„Wir versuchen eine neue Piste. Sie ist alleine durch ihren Abwechslungsreichtum etwas anspruchsvoller, aber das gibt dir die Möglichkeit, das, was du kannst auszutesten und ich kann dich ein bisschen herumkommandieren und kritisieren.“ Das verschmitzte Lächeln in seinem Mundwinkel überraschte Leonie genauso sehr wie die Erkenntnis, dass es ihr äusserst gut gefiel.
„Na, dann glaube ich aber, dass du heute Nachmittag nicht viel zu tun haben wirst.“ Selbstsicher brachte Leonie ihre Skistöcke in Position und liess sich vom Sitz gleiten, sobald sie den Kontakt ihrer Skier zum Schnee spürte.
Während Sebastian zusah, wie Leonie ziemlich souverän Kurve um Kurve das Gefälle meisterte, wurde er sich immer sicherer, dass sie eigentlich keinen Unterricht mehr benötigte. Entschlossen, am selben Abend noch mit ihr darüber zu sprechen, setzte er sich in Bewegung, um sie aufzuholen. Er löste seinen Blick von Leonie, um die Handschuhe zu richten, doch als er wieder aufsah, damit er ihr folgen konnte, konnte er sie nirgends mehr entdecken. Zwar ging er davon aus, dass sie an einer für ihn nicht sichtbaren Stelle Halt gemacht hatte, konnte aber ein mulmiges Gefühl nicht abschütteln.
Suchend liess er seine Augen über die Piste gleiten, während er sich selbst in Bewegung setzte. Den Blick auf den Horizont gerichtet, meinte er auf einmal, hinter einer Kuppe aufwirbelnden Schnee ausmachen zu können. Um sich zu vergewissern, hielt er auf die Stelle zu, nach wie vor nach Leonie Ausschau haltend.
Er hatte sich nicht geirrt. Hinter dem Vorsprung stob eine weisse Wolke über die ansonsten ruhige Ebene, die erst nach einer beträchtlichen Strecke am Pistenrand abebbte. Sebastian sah dem Spektakel nicht lange tatenlos zu, denn er wusste, dass hinter der Wolke ein Wintersportler steckte, der meist nicht unverletzt aus einem derartigen Sturz herauskam. Während er näher kam, legte sich der Schnee langsam. Im ersten Moment glaubte er an eine Verwechslung. Zu seinem Entsetzen musste er aber feststellen, dass dies kaum möglich war.
Innerlich fluchend beeilte er sich, die Stelle zu erreichen, an der eben noch der weisse Wirbelsturm getobt hatte. Sebastian bremste scharf, entledigte sich seiner Ski, steckte die Stöcke in den Schnee, zog noch im Gehen die Handschuhe aus und warf sie achtlos zu Boden. Für alles gewappnet kniete er sich hin, bevor er sanft zu sprechen begann. „Leonie?“ Als er keine Antwort erhielt, begann ihm das Herz bis in den Hals zu schlagen. Leise Vorwürfe schlichen in sein Gewissen. Er hatte sie aus den Augen gelassen, er war für sie verantwortlich und er hatte sie einfach sich selbst überlassen!
Dass solche Gedanken idiotisch waren, wusste er, weshalb er sie auch verdrängte. Vorsichtig schob er ihr die Skibrille über den Helm. Sie hatte die Augen geschlossen. Dennoch versuchte er es noch einmal. „Leonie? Kannst du mich hören?“ Indem er ihr über die Wange streichelte, versuchte er ihr irgendeine Reaktion zu entlocken. Hinter ihm sprach jemand von Hubschrauber, davon wollte Sebastian aber noch nichts hören. „Du kleines Biest hast mir gesagt, ich hätte heute nichts zu tun. Da hast du den Mund wohl etwas zu voll genommen!“
„Das war Absicht.“
Erleichtert und entrüstet zugleich registrierte Sebastian die leise, aber unmissverständliche Antwort. „War es das? Und weshalb machst du so einen Scheiss?“
„Damit ich mir mein Geld für die Stunde nicht doch noch zurückholen muss.“
„Weisst du was? Eine Beschwerde beim Skiverband über meine Unfähigkeit wäre weniger schmerzhaft, als einen Unfall zu provozieren. Apropos schmerzhaft, tut dir etwas weh?“
„Ich habe das Gefühl, hier stimmt etwas nicht. Aber sonst geht’s mir, glaube ich, gut.“
Bereits besorgt, dass Leonie aufgrund des angeschlagenen Kopfes Aussetzer haben könnte, wollte er genaueres Wissen, bevor er sie aufstehen liess. „Was meinst du damit?“
„Dieser Ort, diese Stelle, dieser Sturz, ich habe das Gefühl, das alles zu kennen und schon einmal erlebt zu haben, nur dass ich irgendwie nicht die Verunfallte, sondern die Zuschauerin war. Als hätte ich zugesehen, wie jemand anderes an diesem Berg stürzte und genau hier zu liegen kam. Meinen Kopf hat’s wohl schlimmer erwischt, als ich dachte.“ Leonie lächelte schief.
„Möglicherweise hast du etwas neben dir gestanden.“
„Ja, möglicherweise. Moment mal, war das ein Scherz?“
Damit, dass jemand Leonies Ski auf der Piste zusammengesucht hatte und jetzt neben sie legte, kam Sebastian um eine Antwort herum. Dankbar für diese Unterbrechung, wechselte er das Thema. „Meinst du, du möchtest die Bretter noch einmal anschallen oder hast du fürs Erste genug?“
Obwohl es nur von kurzer Dauer gewesen war, freute sich Leonie, dass Sebastian seine Abneigung ihr gegenüber vergessen hatte. „Aufgeben und dich damit aus der Verantwortung entlassen? Das hättest du wohl gerne. Wenn ich Blessuren davontrage, werde ich sie dir unter die Nase reiben, da kannst du dir sicher sein, aber bis ich die blauen Flecken gefunden habe, mache ich weiter.“
Leonie stand auf, verzog nur einmal kurz das Gesicht, klopfte den Schnee von ihrer Kleidung, stellte sich dann mit zusammengebissenen Zähnen tapfer auf die Ski und tat, als müsste sie andauernd eine gefühlte Ewigkeit auf ihren Begleiter warten. Dieser hingegen war bemüht, seine ehrliche Verblüffung zu verbergen und so neutral wie möglich zu wirken.
Zurück im Tal kam Sebastian nicht umhin, Leonie zu loben. „Bilde dir ja nichts darauf ein, aber ich bin echt beeindruckt. Du hast das Ganze ziemlich gut weggesteckt und einfach weitergemacht. Das verdient Respekt.“
„Sekunde mal. Sind das etwa lobende Worte? Warte bitte einen Augenblick.“
Leonie griff nach Sebastians Arm und senkte den Kopf. Besorgt darüber, ob Leonie doch nicht so glimpflich davongekommen war, legte er seine Hand wiederum an ihre Wange, um ihren Kopf so zu drehen, dass er in ihr Gesicht sehen konnte. Die Intimität dieser Geste liess Leonie tatsächlich leicht schwanken.
„Ist alles in Ordnung?“
„Klar, ich wollte nur den Moment auskosten, in dem Herr Sebastian-keine-Ahnung-wie-noch tatsächlich freundliche Worte für die eigentlich verachtenswerte Betthüpfbardame Leonie gefunden hatte.“
Ob diesem Trick und den gesagten Worten wollte Sebastian eigentlich wütend werden. Es gelang ihm aber nicht. Stattdessen ärgerte es ihn, dass sich seine Mundwinkel tatsächlich ungefragt in Richtung seiner Ohren verzogen, um ein Lächeln zu formen. Ruckartig liess er Leonies Gesicht los und schubste sie in den Schnee. „Zur Abkühlung.“ Dann stapfte er davon.